Kapitel I – Kapitel II – Kapitel III – Kapitel IV
»Wie ich nach Hause gefunden habe, weiß ich nicht mehr. Die Begegnung mit Silene war erhebend und niederschmetternd gewesen. Diese Achterbahnfahrt war in jedem Fall zu heftig für einen wie mich. Ich war nicht ganz bei mir, torkelte verwirrrt durch den Wald, wähnte bei jedem Geräusch, der irrsinnige Bengt wäre hinter mir her. Irgendwann gelangte ich wieder in bewohnte Gegenden und bestieg einen Bus. Mir war übel. Nachdem der Bus durch ein paar Kurven geschlingert war, kotzte ich zwischen die Sitze. Ich blieb sitzen bis zur Endhaltestelle. Der dicke Busfahrer kam nach hinten, um mich aufzuscheuchen, sah die Kotze am Boden und rief:
›Um Himmels Willen, da ist ja Blut drin! Lassen Sie nur, ich mache es selber weg.‹ Es war aber nur ein Stück von der Paprika, die ich zum Frühstück verzehrt hatte. Ich habe mich gehütet, ihm seinen Irrtum aufzuklären, genoss vielmehr seine schlichte menschliche Anteilnahme. Welch ein Kontrast zur Kälte ringsum Silene und Bengt.
»Mein Gott, die ganze Geschichte kam nur von dem einen Schwitters-Plakat«, seufzte Marion von Erlenberg. »Hoffentlich ist jetzt Pause.«
»Pause! Pause! Ich höre immer Pause. Wovon denn, Frau von Erlenberg? Vom bisschen Bleistiftstemmen? Sind wir etwa fertig? Es fehlt doch das Erstaunliche, von dem ich berichten wollte, dem Effekt der Fernsehenentgiftung:
Wie ich nämlich so vor meiner Bücherwand saß, da wehte mich der Geist aus den Büchern an. Lauter Gedanken bauschten sich vor gleich zarten Gardinen, als hätte sich von der Wand ein Windhauch erhoben. Ich saß staunend da und freute mich: wie herrlich zurückhaltend! Die meisten der Autoren sind doch tot. Und trotzdem steckte zwischen den Buchdeckeln noch ihr Geist, ein stiller Geist, der abwartet, bis er gerufen wird. Ist es nicht ein wohltuender Kontrast zum Getöse aus Fernsehen und Internet? Ich vermisse nicht dieses unsägliche Geschwätz. Dieses kakophone Tuten und Blasen! Die Informationsüberflutung ist das Gegenstück zum Klimawandel. Die Welt erhitzt sich, schwappt über und droht in ihrem eigenen Gequassel zu ersaufen. Wo soviel los ist, als wäre die ganze Welt ein allzeit überfüllter Markt, kann man sich nur noch schwer konzentrieren. Im Digitalen geht’s noch irrwitziger zu. Ich habe einen Gedanken im Kopf …«
»Nur einen?«, fragte die von Erlenberg keck.
»Ja, glauben Sie denn, zum Schreiben bräuchte man mehr als eingangs einen eigenen Gedanken, Sie Pinselhörnchen?!«, wehrte sich der Trittenheim, besann sich und fuhr fort: »Letztens hatte ich also einen Gedanken im Kopf, schaltete den Rechner ein, um ihn aufzuschreiben. Was geschah? Das komplettblöde Windows wollte mich in meine Papageienexistenz zurückrammen, fragte mich:
und lud ein zum Quiz. Auf diese Weise wird auch der Rechner zur Verblödungsmaschine. Also zurück zu Papier und Notizbuch.
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In der medialen Stille offenbarte sich mir die Welt auf neue Weise. Warum sind die Dinge wie sie sind? Warum ist mein Denken so beschränkt? Weil das Fernsehen mir ständig bestätigt: Die Dinge des Lebens sind so und so, man denkt darüber das und das, zieh dir das rein, dann weißt du Bescheid! Doch indem ich mich dem Einfluss der Maschine entzogen hatte, wunderte ich mich wieder über alles. Nichts war noch selbstverständlich, alles konnte neu angeschaut und befragt werden.
Ich las übrigens wie neu Herbert Rosendorfers Roman „Der Ruinenbaumeister“, der das Prinzip Geschichte in der Geschichte aufweist, Geschichten, die miteinander verschränkt sind. Und tatsächlich ist mir gelungen, euch auch eine verschränkte Geschichte zu erzählen, die die Geschehnisse einer früheren Geschichte sozusagen erklärt. Sie ist hier im Blog im Oktober 2016 veröffentlicht, steht auch in der Textsammlung „Goethes bunter Elefant.“
So, Feierabend. Ich habe keine Lust mehr zu erzählen. Der Rest ist Schweigen.«