Die Besucherin – Kapitel V und Schluss

Kapitel IKapitel IIKapitel IIIKapitel IV
»Wie ich nach Hause gefunden habe, weiß ich nicht mehr. Die Begegnung mit Silene war erhebend und niederschmetternd gewesen. Diese Achterbahnfahrt war in jedem Fall zu heftig für einen wie mich. Ich war nicht ganz bei mir, torkelte verwirrrt durch den Wald, wähnte bei jedem Geräusch, der irrsinnige Bengt wäre hinter mir her. Irgendwann gelangte ich wieder in bewohnte Gegenden und bestieg einen Bus. Mir war übel. Nachdem der Bus durch ein paar Kurven geschlingert war, kotzte ich zwischen die Sitze. Ich blieb sitzen bis zur Endhaltestelle. Der dicke Busfahrer kam nach hinten, um mich aufzuscheuchen, sah die Kotze am Boden und rief:

›Um Himmels Willen, da ist ja Blut drin! Lassen Sie nur, ich mache es selber weg.‹ Es war aber nur ein Stück von der Paprika, die ich zum Frühstück verzehrt hatte. Ich habe mich gehütet, ihm seinen Irrtum aufzuklären, genoss vielmehr seine schlichte menschliche Anteilnahme. Welch ein Kontrast zur Kälte ringsum Silene und Bengt.

»Mein Gott, die ganze Geschichte kam nur von dem einen Schwitters-Plakat«, seufzte Marion von Erlenberg. »Hoffentlich ist jetzt Pause.«

»Pause! Pause! Ich höre immer Pause. Wovon denn, Frau von Erlenberg? Vom bisschen Bleistiftstemmen? Sind wir etwa fertig? Es fehlt doch das Erstaunliche, von dem ich berichten wollte, dem Effekt der Fernsehenentgiftung:

Wie ich nämlich so vor meiner Bücherwand saß, da wehte mich der Geist aus den Büchern an. Lauter Gedanken bauschten sich vor gleich zarten Gardinen, als hätte sich von der Wand ein Windhauch erhoben. Ich saß staunend da und freute mich: wie herrlich zurückhaltend! Die meisten der Autoren sind doch tot. Und trotzdem steckte zwischen den Buchdeckeln noch ihr Geist, ein stiller Geist, der abwartet, bis er gerufen wird. Ist es nicht ein wohltuender Kontrast zum Getöse aus Fernsehen und Internet? Ich vermisse nicht dieses unsägliche Geschwätz. Dieses kakophone Tuten und Blasen! Die Informationsüberflutung ist das Gegenstück zum Klimawandel. Die Welt erhitzt sich, schwappt über und droht in ihrem eigenen Gequassel zu ersaufen. Wo soviel los ist, als wäre die ganze Welt ein allzeit überfüllter Markt, kann man sich nur noch schwer konzentrieren. Im Digitalen geht’s noch irrwitziger zu. Ich habe einen Gedanken im Kopf …«

»Nur einen?«, fragte die von Erlenberg keck.

»Ja, glauben Sie denn, zum Schreiben bräuchte man mehr als eingangs einen eigenen Gedanken, Sie Pinselhörnchen?!«, wehrte sich der Trittenheim, besann sich und fuhr fort: »Letztens hatte ich also einen Gedanken im Kopf, schaltete den Rechner ein, um ihn aufzuschreiben. Was geschah? Das komplettblöde Windows wollte mich in meine Papageienexistenz zurückrammen, fragte mich:
und lud ein zum Quiz. Auf diese Weise wird auch der Rechner zur Verblödungsmaschine. Also zurück zu Papier und Notizbuch.
.
In der medialen Stille offenbarte sich mir die Welt auf neue Weise. Warum sind die Dinge wie sie sind? Warum ist mein Denken so beschränkt? Weil das Fernsehen mir ständig bestätigt: Die Dinge des Lebens sind so und so, man denkt darüber das und das, zieh dir das rein, dann weißt du Bescheid! Doch indem ich mich dem Einfluss der Maschine entzogen hatte, wunderte ich mich wieder über alles. Nichts war noch selbstverständlich, alles konnte neu angeschaut und befragt werden.

Ich las übrigens wie neu Herbert Rosendorfers Roman „Der Ruinenbaumeister“, der das Prinzip Geschichte in der Geschichte aufweist, Geschichten, die miteinander verschränkt sind. Und tatsächlich ist mir gelungen, euch auch eine verschränkte Geschichte zu erzählen, die die Geschehnisse einer früheren Geschichte sozusagen erklärt. Sie ist hier im Blog im Oktober 2016 veröffentlicht, steht auch in der Textsammlung „Goethes bunter Elefant.“

So, Feierabend. Ich habe keine Lust mehr zu erzählen. Der Rest ist Schweigen.«

Die Besucherin – Kapitel IV

Kapitel IKapitel IIKapitel III

›Wo denken Sie hin, Julius?‹ Augenblicklich war sie zum Sie zurückgekehrt. Ich spürte, wie sich zwischen uns eine imaginäre Mauer schob und gen Himmel wuchs. Silene trat einen Schritt zurück: ›Nie, nie, nie, könnten wir ein Paar werden!‹, rief sie. ›Ich mag Sie wirklich, aber wir leben nicht in der gleichen Welt.‹ Ich zeigte irritiert auf den Fußboden, auf dem wir beide standen. Silene erläuterte: ›Wir sind uns im Museum nur begegnet, weil Tante Margret vor ihrer Abreise kontrollieren wollte, ob ihre Schenkung angemessen präsentiert ist. Morgen bin ich in Oslo, übermorgen nächtige ich in Dubai im Bur al Arab, dem teuersten Hotel der Welt. Wie du siehst, bin ich nur Besucherin in deiner Welt.

Unsere Familie ist nicht etwa reich. Wir sind unermesslich reich, geradezu obszön reich. Ich habe mal eine soziologische Modellgrafik unserer Welt gesehen. Aus einer Stadt auf einem flachen Hügel, in dem die normalen Menschen wie Sie leben, erhebt sich aus dem Zentrum eine Nadel, duchstößt die Wolken und ragt in die Stratosphäre hinaus.

Hoch oben auf der Nadelspitze, die in Wahrheit ein Plateau ist, lebt die Meute der Superreichen, leben Leute wie unsere Familie, Leute wie Tante Margret, Bengt und ich. Die ägyptischen Pharaonen sind unsere Vorfahren. Ihre Macht und ihren Reichtum habe sie von einem uralten Herrschergeschlecht, dessen Name im alten Mesopotanien nur geflüstert werden durfte. Die Ahnen dieser mesopotanischen Herrscher waren wiederum eine Kette von Herrschergeschlechtern vor dem Beginn aller Zeiten. Wir sind außerhalb von Zeit und Raum. Von hoch oben wird die Welt regiert. Wir zetteln Kriege an, inszenieren Hungersnöte und Pandemien. Wir gewähren Frieden und Wohlstand, wo es uns gefällt. Wir sagen euch, wie ihr über die Dinge zu denken habt, wir verfügen Denkverbote.

Wir brauchen euch aus dem einzigen Grund, uns die Hochleistungen in Medizin, Wissenschaft und Technik zu erbringen. Daneben sollt ihr uns die Genüsse dieser Welt erzeugen. Damit meine ich nicht nur die kulinarischen der Haute Cuisine, sondern vor allem den Kunstgenuss in Literatur, bildender Kunst, in der Musik, im Theater, im Sport undundund. Niemand von uns Superreichen wäre in der Lage, diese Hochleistungen menschlicher Fähigkeiten hervorzubringen. Sie entstehen nur unter den Bedingungen der Entbehrung und dem unbedingten Wunsch, hervorzutreten aus der Masse, aufzusteigen und gefeiert zu werden. Uns mit all dem zu dienen, uns also das Leben lebenswert zu machen, dazu seid ihr einfachen Menschen gut und dazu seid ihr da.

Wer jedoch so vermessen ist, unsere Macht zu gefährden, den vernichten wir nach uraltem Recht.‹ Ihre Stimme war immer tiefer geworden und tönte jetzt hohl aus ihrem Mund. Ein eingeübter Theatereffekt wie ihre Asynchronität? ›Ich sage dir alles nur, um dich zu warnen. Wer von unserem Tun Zeugnis ablegt, den töten wir zum Exempel. Und so werden wir auch mit dir verfahren, Julius. Wenn du berichtest, was ich dir gesagt habe, steht Bengt eines Nachts neben deinem Bett und schlachtet dich auf bestialische Weise ab.‹

›Liebes Fräulein‹, sagte ich erschrocken, ›wenn Ihr Bruder einen Vorwand braucht, seinen abseitigen Neigungen nachzugehen, das ist keiner. Man kann längst wissen, dass die Kaste der Superreichen völlig abgehoben lebt vom gemeinen Volk, dass die Vermögensunterschiede derart extrem sind, wie sie nur im Stadt-Nadel-Modell anschaulich gemacht werden können. Wer kein bedauernswerter Tagesschau-Heute-Journal-Papagei ist, weiß längst, dass ihr Superreichen wie Götter das Weltgeschehen kontrolliert und unsere Politker, gleich welcher Coleur, euch wie gutdressierte Dackel gehorchen. Was auch in der Welt geschieht, das habt ihr veranlasst. Ihr kontrolliert die Medien, um das wahre Machtgefüge zu kaschieren. Und die legen uns falsche Zusammenhänge dar. Sie wissen es freilich kaum besser, denn eure Kniffe und Winkelzüge, eure Raffinesse, euer ganzes Wirken können sie nur ahnen. So beschäftigen sie sich und uns mit Kindereien und halten die besten von uns mit Geplänkel bei Laune.‹

Es polterte. Volontär Hanno P. Schmock war eingeschlafen und im Schlaf vom Stuhl gekippt.

»Der gehört schon mal nicht zu den besten von uns«, sagte Redakteurin Andrea Kirchheim-Unterstadt trocken.

Kapitel V

Die Besucherin – Kapitel III

Kapitel IKapitel II

Pünktlich um zehn Uhr klingelte es an meiner Haustür. Ein livrierter Chauffeur half mir mit höflichen Gesten in eine schwarze Limousine. Den Wagen hatte ich schon einmal gesehen. Er parkte am Vortag vor dem Museum und hatte ein Diplomatenkennzeichen. Der Chauffeur hatte wartend darin gesessen. Wir fuhren nach Norden aus der Stadt hinaus und dann längere Zeit durch einen ausgedehnten Wald. Mit einem Mal bremste der Wagen herunter und bog in einen schmalen Fahrweg ein, der steil nach oben führte. Zwischen den Bäumen blitzte ein rotes Ziegeldach. Der Wagen bog um die Ecke, und vor uns tat sich eine kurze ebene Straße auf, an deren Ende sich eine stattliche Jugendstilvilla erhob.

Wir passierten ein Tor, fuhren eine gewundene Auffahrt hinauf und hielten auf einem mit Kies bedeckten Vorplatz. Der Chauffeur öffnete mir die Wagentür, und bevor ich noch aussteigen konnte, sprang über die Eingangstreppe eine aufgeregte Silene herab und rief: ›Kommen Sie, kommen Sie! Wir renovieren im Wintergarten unserer Großtante.‹

Silene trug eine farbbeschmierte Latzhose, aber ihr stünde auch ein Kartoffelsack. Sie hakte sich bei mir unter und schwatzte drauflos: ›Tante Margret ist nämlich in ihre Sommerresidenz in der Toscana gefahren. Wir wollen sie mit der Renovierung überraschen. Und außerdem ist das Werkeln gut gegen die depressive Verstimmung meines Bruders. Bengt geht es gar nicht gut. Seitdem wir ihn vor zwei Jahren aus Otto Mühls Sekte freigekauft haben, erlebt er immer wieder depressive Schübe. Bengts Therapeut führt das auf Brainwashing in Mühls Sekte zurück. Naja, der Mühl nennt es Kommune. Aber haben Sie die Leute schon mal gesehen? Laufen alle in den gleichen Latzhosen herum, Männlein wie Weiblein mit kurzgeschorenen Haaren, dass man sie gar nicht unterscheiden kann, und dann die Horde ungewaschener Kinder! Die meisten soll der Mühl ja selber gezeugt haben. Er schläft so ziemlich mit jeder Frau der Kommune, macht auch vor jungen Mädchen nicht halt, nicht mal vor denen er annehmen könnte, dass sie seine Töchter sind. Puh!‹

Ich fragte: ›Der Wiener Aktionskünstler Otto Mühl? Der auf der Bühne Schweine schlachtet, ausweidet und ihr Blut und die Gedärme über nackt darliegende Frauen ausgießt?‹
›Genau der‹, nickte Silene.
›Wie ist denn Ihr Bruder da hineingeraten?‹
›Ach, er hat so gewisse Neigungen. Seit seiner Pubertät dreht er Splatterfilme‹
›Splatterfilme? Sind’s nicht die, in denen ein Mensch real vor laufender Kamera getötet wird?‹
Silene lachte: ›Das sind Snuff-Videos, Dummer!‹

»Mir wurde mulmig, wie ihr euch denken könnt. Ich hatte nicht die geringste Lust, Hauptdarsteller in einem Splattermovie zu sein, noch weniger von einem manisch Depressiven namens Bengt in einem Snuff-Video hingeschlachtet zu werden. Aber Silene hatte mich in ihren Bann geschlagen.

Der gepflegte Park, die prächtige Jugenstil-Villa, die Inneneinrichtung, alles kündete von großem Reichtum, nicht protzig, sondern gediegen. Altes Geld, wie man so sagt. Im Wintergarten hatte Silene, oder war es Bengt gewesen? ein wenig hellblaue Farbe an eine Wand geschmiert und ziemlich nachlässig über Lichtschalter und Steckdosen gestrichen.«

›Das geht aber so nicht‹, sagte ich. ›Man muss Lichtschalter und Steckdosen vor dem Streichen abschrauben oder wenigstens mit Klebeband abkleben.‹
›Ach, nicht schlimm‹, sagte sie leichthin, ›Wir lassen sowieso nachher die Maler kommen. Die können das richten. Es ging nur darum, Bengt ein bisschen von seinem Trübsinn abzulenken. Wenn die Seele krank ist, muss man nutzen, was gesund ist, also was mit den Händen machen. Hier, zieh du auch einen Overall an!‹

Als ich in dem Teil vor ihr stand, sagte sie: ›Jetzt gehörst du uns‹, reckte sie sich vor und gab mir einen trockenen Kuss auf den Mund. Ihre Lippen waren kühl. Dann besann sie sich und küsste mich nochmals, diesmal mit mehr Gefühl.

›Wir streichen jetzt das Tischlein dort. Es hat im Keller gestanden, aber weiß gestrichen ist es sicher ein Schmuckstück. Fangen wir an! Ich habe Farbe und Pinsel schon bereit gelegt.‹

Ich hätte ja das Tischlein zuerst ein wenig angeschliffen, wenigstens mal abgewischt, aber Silene hielt sich nicht mit Vorarbeiten auf und machte sich mit Eifer ans Streichen. Bengt tauchte auf und näherte sich vorsichtig. Er trug den gleichen Overall wie wir. Ab und zu machte er ein Foto von mir, tat aber sonst nichts. Ich war froh drum, denn so hatte ich Silene ganz für mich. Gelegentlich kamen wir uns beim Streichen so nah, dass ich ihren Atemhauch spürte. Ich sog ihn auf, ja, ich besoff mich daran.

Urplötzlich verlor Silene die Lust, warf den farbgetränkten Pinsel achtlos zu Boden, und rief:
›Ach, lassen wir das. Wir hören auf. Tante Margrets Majordomus soll die Maler herbefehlen, dass sie alles in Ordnung bringen!‹

›Was wird mit mir?‹, fragte ich. ›Bengt scheint nicht sonderlich interessiert zu sein. Ich könnte also gehen, aber habe mich, das muss ich gestehen, bereits unsäglich in dich verliebt, Silene.‹

(Kapitel IV)

Die Besucherin – Kapitel II

Kapitel I
»Ich muss etwa 22 Jahre alt gewesen sein, als ich die im Plakat angekündigte Schwitters-Ausstellung besucht habe, stand versonnen vor einer Assemblage, als drei Besucher den Raum querten, ohne von den Arbeiten Notiz zu nehmen, eine grauhaarige Dame, eine junge Frau, gefolgt von einem jungen Mann mit üppigem Bart, sorgfältig in Form gebracht, wie auf den Darstellungen assyrischer Herrscher zu sehen. Beide hatten flammendrote Haare, waren offenbar Geschwister. Der Mann trug eine sündteure Kamera mit Objektiv vorm Bauch. Seine Schwester war von einer überirdischen Schönheit. Sie schien von einer hell scheinenden Aura umgeben zu sein, die alles ringsum überstrahlte.

Da war es aus mit meiner Versenkung. Die drei schienen mich nicht beachtet zu haben, doch als sie den Raum schon verlassen hatten und ich bedauernd hinterher sah, kehrten die Geschwister zurück und standen leise beratend in der Türöffnung. Plötzlich wandte sich die Schönheit um und kam auf mich zu. Weiterlesen

Die Besucherin – eine Erzählung in fünf Kapiteln

»Ich habe euch«, eröffnete Chefredakteur Julius Trittenheim die Redaktionskonferenz, »etwas Erstaunliches zu berichten.« Der Vollständigkeit halber:
Es waren anwesend der ewige Volontär Hanno P. Schmock, Redaktionsassistentin Marion von Erlenberg, Redakteurin Andrea Kirchheim-Unterstadt und die drei chronisch arbeitsscheuen Teppichhaus-Humorexperten, deren Namen besser nicht genannt werden.
»Meinen Bericht bitte ich Sie, Frau von Erlenberg, getreulich mitzustenografieren, ab jetzt:
Wie allseits bekannt, habe ich kürzlich eine neue Wohnung bezogen. Das erste, was am angemessenen Platz errichtet wurde, und bald, sicher in der Wand verankert, stand, war meine Bücherwand.

(Ach, lassen Sie das mit den vielen Kommata, Frau von Erlenberg. Das sieht ja aus, als hätten Sie die mit dem Pfefferstreuer verteilt.)«
»Es ist alles grammatisch korrekt«, wehrte sich Marion von Erlenberg. »Aber Ihr Satzbau – naja.« Weiterlesen

Fremder Planet

Ich fühlte mich schleichend unbehaust in meiner alten Welt. Dann wuchs der Wunsch nach Verbesserung meiner Lebensbedingungen. Als sich eine Gelegenheit anbot, rupfte ich meine alte Welt auseinander, war entschlossen, hier alles aufzugeben, um einen neuen Planeten zu besiedeln. Gewiss gibt es schönere Orte im Kosmos als das Ziel meiner Träume. Aber dieser Ort reicht mir. Meine Bedürfnisse sind gering. Wenn alles bereitet ist, werde ich mich beglückwünschen, den Schritt getan zu haben. Vor Monaten haben Techniker begonnen, den verlassenen Planeten wieder bewohnbar zu machen. Was die Fachleute „Terraforming“ nennen, geschah freilich schon vor über hundert Jahren.

Ich weiß nicht, wer die ersten Siedler waren, weiß nur vom letzten. Nein, er ist nicht im Zweiten Krieg der Sterne umgekommen wie seine Vorgänger, sondern ist unbeschadet ausgewandert, hat glücklicherweise auch jene seltsamen Wesen mitgenommen, die er illegal hergebracht hatte. Wären sie in Freiheit gelangt, hätten sie sich unkontrolliert vermehrt und hätten im Nu den gesamten Planeten erobert. Man kennt das von irdischen Inseln, auf die unvorsichtige Siedler Katzen, Ratten oder andere Tiere gebracht haben. Ohne natürliche Feinde haben sie das gesamte Ökosystem zugrunde gerichtet. Eine derartige Plage hätte meine Übersiedlung unmöglich gemacht.

Obwohl mein neuer Heimatplanet recht einfach zu erreichen ist, ein Wurmloch lässt mich bequem hin- und her pendeln, dauert die Übersiedlung an. So führe ich eine Zwischenexistenz, bin nicht recht hier und nicht richtig dort. Aber ich versuche, mein Leben schon zu verlagern, so gut es geht, um mich an die Verlassenheit zu gewöhnen. Auf meinem neuen Planeten wäre außer mir niemand. Weil er mir nicht vertraut ist, fühle ich mich in die Welt geworfen und mir ist unheimlich.

Kürzlich erstarrte ich. Ein Schauer zog über meinen Rücken und ließ mich aufhorchen. Da waren Schritte, wanderten hierhin, dorthin. Ich blickte mich vergeblich um und rief: „Hallo! Ist da jemand?!“ Keine Antwort. Nur Schritte, wo sie nicht hätten sein dürfen. Sollte ich doch nicht allein sein? Eventuell wird der Urheber der Schritte vom Spektrum dieser Sonne nicht erfasst. Dann wäre dieser heimliche Mitbewohner nicht von diesem Planeten, sondern wie ich nur zugereist. Oder mein Augenlicht wäre ungeeignet, das Wesen zu sehen. Aber wie ist es umgekehrt? Kann es mich sehen? Steht es gerade jetzt neben mir und betrachtet mich, hat sich angeschlichen und beobachtet all mein Tun?

Von der Erde kenne ich das Gefühl. Vor Äonen wurde ich als Katholik erzogen. Da wurde mir Kind gesagt: „Der liebe Gott sieht alles.“ Alles? Nach katholischer Lehre findet Gott des Menschen Nacktheit grundsätzlich unkeusch, weshalb schon Adam und Eva sich schämten. Als Kind stellte ich mir vor, wenn dieser Gott nackte Menschen sehen würde, hätte er, wo die unkeuschen Stellen sind, einen blinden Fleck. Dass er nicht alles sehen kann, was er angeblich selbst geschaffen hat, ließ mich an seiner Allmacht zweifeln.

Welche Macht hat ein Wesen, das nur Schritt ist? Ich werde es herausfinden, wenn mein Umzug in die prächtig renovierte Nachbarwohnung geschafft ist.

Zwischen den Jahren

Chefredakteurin Helene Nettesheim betrat voller Schaffensdrang die Redaktion und rief in die Runde: „Guten Morgen, meine Täubchen. Ich freue mich darauf, euch auszusenden, dass ihr mir das Porträt einer interessanten Person aus eurem Umfeld schreibt!“

„O nein! Warum das denn?“, rief Volontär Hanno P. Schmock, pfefferte Stift und Schreibblock zu Boden und trat darauf herum.

„Was’n los, Schmock?“, fragte Nettesheim.

„Interessante Personen!“, rief Schmock. „Ich dachte, jetzt sind mal die Uninteressanten dran!“

„Interessant, uninteressant, das ist doch eins wie das andere“, beschwichtigte Helene Nettesheim, „auf einer Metaebene ist auch die uninteressante Person wiederum interessant. Nehmen Sie nur mal den Mann, dessen Sätze aus den Interjektionen, „boarh, jungejunge, jaja, nee, umpf, dochdoch, mozzelmozzel“ bestehen.

„Eine interessante Person kenne ich nicht und sollte mir zufällig eine begegnen, beschreibe ich die nicht!“, bockte Schmock uneinsichtig weiter. „Obwohl – die Interjektion ‚mozzelmozzel‘ finde ich schon einigermaßen interessant.“

„Sag’ ich doch“, freute sich die Nettesheim. „Und jetzt an die Arbeit, Schmock. Die Kollegen sind schon ausgeschwärmt und grasen die interessanten Personen ab. Rasch hinterher und mitgemacht! Da können Sie was lernen.“

    Ob dabei mehr herauskam als ein schaler Geschmack im Mund des armen Volontärs, das meine lieben Damen und Herren, schreibe ich lieber nicht auf, – damit es mal etwas ruhiger zugeht zwischen den Jahren.

Sich überstürzende Meldungen

Im Raum saß ein Mann. Neue Sneakers an den Füßen, eine Jogginghose mit Nadelstreifen, die noch ein rotes Nahtband hatte, wie es bei Offiziersuniformen üblich ist. Er trug eine schwarze Kapuzenjacke, deren Kapuze am vorderen Rand einen Fellbesatz hatte. Auf dem Kopf saß eine schwarze Baseball-Kappe. Er war also eine durchaus durchschnittliche Erscheinung, – aber ein überaus wichtiger Mann, wie sich bald zeigen sollte. Plötzlich preschte auf der Straße draußen ein Meldereiter heran. Ich sah durchs Fenster, wie er von seinem Gaul sprang. Da stürzte er auch schon herein, sah den Mann, riss eine Depesche aus seiner ledernen Umhängetasche und reichte sie dem Mann.

Der las ungerührt und wischte den Boten wortlos fort. Die Situation hatte sich gerade erst beruhigt, als auf dem Asphalt schon wieder Hufgetrappel erscholl. Ein Reiter sprang ab, sein armes Pferd schäumte. In Flocken troff es von seinem zitternden Leib. Der wird doch wohl nicht …, konnte ich gerade noch denken, da stürzte der Reiter schwer atmend herein. Schon wedelte er mit einem Sendschreiben, salutierte vor dem Mann und mit den Worten: „23 Stunden ohne Pause, den Gaul zuschanden geritten, der Wichtigkeit wegen, Exzellenz!“, übergab er ihm die Botschaft.
„Jaja, schon gut!“, sagte der Mann. „Und halt‘ den Verkehr nicht auf. Ich habe keine Zeit zu antworten.“

Ja, aber warum nicht, dachte ich. Wenn derart wichtige Botschaften hereinkommen, sich Meldereiter sogar überstürzen, würde man doch eine angemessene Reaktion erwarten.
„Bitte, mein Herr!“, sagte ich, „es geht mich ja vielleicht nichts an. Doch ich bin beunruhigt ob der allgemeinen Weltlage. Vermutlich, nein, ganz gewiss, ist ihrerseits eine Veranlassung erforderlich. Würde man sonst einen derartigen Aufwand treiben, Sie zu informieren, wenn es mit wortloser Ungerührtheit getan wäre?“
„Sie haben recht“, sagte er, „die allgemeine Weltlage geht Sie gar nichts an. Und ob wirklich eine Veranlassung meinerseits nötig ist, wenn meine Alte mir schreibt, ich solle auf dem Rückweg vom Arzt zwei Avocados einkaufen, wage ich zu bezweifeln.“
Sein Mobiltelefon gab wieder Laut. Man hörte Hufgetrappel und Rösser schnaufen. Er warf einen Blick aufs Display. Las laut: „Und Knoblauch.“

Friedhelm Nagelroths seltsame Überlegungen

Was sind das nur für seltsame Erscheinungen?, fragte sich Friedhelm Nagelroth. Seit Monaten tauchten plötzlich und unvermittelt kleine Schatten in seiner Wohnung auf, immer nah am Boden, gleich einem Flämmchen, etwa so groß wie eine Visitenkarte, aber nur halb so breit und an den Enden spitz zulaufend. So würde er sie zeichnen, doch die genaue Form kannte er nicht. Ihr Erscheinen war zu flüchtig. Bevor er einen Schatten betrachten konnte, verschwand er spurlos. Nagelroth hatte zunächst an huschende Mäuse gedacht, doch da die Schatten an freien Stellen seiner Dielen mal auftauchten und verschwanden, wo es also keinen Sichtschutz gab, verwarf er die Erklärung.

Auch sollten Mäuse wenigstens leise Geräusche machen. Doch die Schatten waren rein visuelle Phänomene. Er konnte nicht einmal sagen, ob es verschiedene Schatten oder ein einziger wäre, der seine Wohnung aufgesucht hatte und manchmal sichtbar wurde. Ein schattiges Flämmchen war ein Widerspruch in sich, doch er hatte einst eine Pestsage gelesen, in der ein solches Flämmchen auftauchte. Es wurde gesehen, wie es Mensch und Tier durch Berührung den Tod brachte. Eines Tages beobachtete ein Bewohner des geplagten Dorfes, wie das Flämmchen in einem kleinen Loch in der Friedhofsmauer verschwand. Dort konnte es gebannt werden, indem das Loch mit einem geweihten Holzpflock verstopft wurde.

Nagelroth war kein frommer Mann. An Teufel- oder Hexenwerk zu glauben, lag ihm fern. Aber er war durchaus bereit, an Phänomene zu denken, wie sie in der Phantastik oder Science Fiction auftauchen. Auch populäre Ideen der Quantenphysik waren ihm nicht fremd. Möglicherweise, spekulierte er, entstammt das Flämmchen einer höheren Dimension. Er hatte in ferner Vergangenheit die „Erinnerungen eines alten Quadrats“ gelesen. Die Erzählung handelte von zweidimensionalen Flächenwesen und der Spekulation, wie ein solches Flächenwesen eine Kugel wahrnehmen könnte.

Die Kugel taucht durch die Fläche, ist zunächst nur ein Punkt, vergrößert sich zu einem Kreis, der sich verkleinert und wieder in einem Punkt verschwindet. Niemals könnte das Flächenwesen die Natur der Kugel erfassen. Es würde immer nur Kreise und Punkte sehen. In einer ähnlichen Situation wäre er, dachte Nagelroth, wenn das Flämmchen der vierten Dimension entstammte. Denn eines wäre doch klar. Wenn die dritte Dimension die zweite und die erste in sich enthalte, müsste die dritte Dimension auch in der vierten enthalten sein. Und wie er, die beiden unteren Dimensionen beeinflussen konnte, könnte ein Wesen der vierten Dimension, ihn in der dritten beeinflussen.

Doch dann quälte ihn die Frage, ob er tatsächlich über die beiden unteren Dimensionen verfügen könnte. Die erste Dimension sei schließlich nur ein mathematisches Modell, was genau genommen auch für die zweite Dimension zuträfe. Als Lebewesen der dritten Dimension könne er leider nicht sagen, ob auch seine Welt nur ein mathematisches Modell sei. Dann wären freilich auch die Flämmchen in seiner Wohnung rein mathematische Erscheinungen und darum ausgesprochen seltsam, womit er wieder beim Ausgangspunkt seiner Überlegungen angekommen war.

Das Attentat

Wir fuhren durch stockfinstere Häuserschluchten und langten an, wo die Nacht am tiefsten ist, schoben unsere Fahrräder auf den Platz und lehnten sie an eine Mauer. „Hätte man keinen größeren Ort finden können?“, fragte mein Begleiter mit Blick auf die Scharen dunkler Gestalten, die auf den Platz strömten.
„Sei nicht immer so negativ“, tadelte ich, weil ich fürchtete, er würde mich damit anstecken. Eben erst hatte er geklagt; „Wäre in den Dosen immer sauberer Thunfisch gewesen und nicht dieses schwärzliche Gekröse …“ und ich hatte sofort beide Bilder vor Augen gehabt, die runde geöffnete Dose, darin das helle, fast rosafarbene Thunfischfleisch, eng gerollt in Öl.

Ich sah auch das schwärzliche Ersatzprodukt aus neuer Zeit unter ein paar kümmerlichen Erbsen mit Mais und Fetzen von Tomate deutlich vor mir.
„Wer weiß, was aus mir hätte werden können“, fuhr er bedauernd fort. Weiterlesen