Zu den schönen Momenten während meiner Arbeit als Schriftsetzerlehrling zählte, von einem fertigen Bleisatz den ersten Korrekturabzug zu machen. So ein Text im Bleisatz ist grau in grau. Die druckenden Teile, Schrift und Linien stehen zwar um weniges erhaben hervor, aber ist Spiegelschrift. Deshalb wird im Kopfstand gesetzt. Der Bequemlichkeit halber steht nicht der Schriftsetzer auf dem Kopf, sondern der Satz. Das hat den Vorteil, dass auch Spiegelschrift von links nach rechts gelesen und gesetzt werden kann. „Ausbinden, Abziehen!“, befahlen mir die Gesellen im Anfang meiner Lehrzeit, als ich noch nicht viel anderes konnte. „Ausgebunden“ wird die fertige Satzform durch Umwickelung mit einer festen Schnur, um zu verhindern, dass alles auseinanderfällt. Die ausgebundene Form lässt sich transportieren und für den Korrekturabzug in die Abzugspresse schieben.
Die einfachste Handabzugpresse bestand aus einem festen Metalltisch, mit Schienen an den seitlichen Rändern, über die kleine Eisenräder liefen, die wiederum eine Gummiwalze antrieben, wenn die Einrichtung von Hand vor und zurück bewegt wurde. Zum Abziehen wurden die Gesichter der Buchstaben mittels Handwalze satt eingefärbt mit schwarzer Druckfarbe, dann wurde ein Bogen Papier aufgelegt und die Druckwalze einmal darüber gezogen. Den jetzt bedruckten Bogen abzuheben und erstmals einen Druck zu sehen, wie er schwarz auf dem weißen Papier stand, war für mich der schönste Augenblick. Anschließend heftete ich den Abzug mit einer Büroklammer ans Manuskript und trug ihn zum Korrektor.
„Wie schön, wenns eine Jungfrau wäre“, habe ich oft gedacht und mir gewünscht, der Korrektor werde keinen Fehler finden. Doch meistens bekam ich meinen Korrekturabzug zurück und er war mit roten Korrekturvermerken beschmiert wie die Fahnen chinesischer Räuberbanden. Damals lernte ich: „Deshalb heißt ein fehlerloser Erstabzug ja auch ‚Jungfrau.‘ Weil er so selten wie eine Jungfrau ist!“ Da ich erst 13 Jahre war, als ich meine Schriftsetzerlehre antrat, verstand ich den Zusammenhang nicht zwischen dem Begriff aus der bilderreichen Druckersprache und der alltäglichen Bedeutung von Jungfrau.Warum waren Jungfrauen so selten? Die meisten Korrektoren waren gelernte Schriftsetzer. Im vorgerückten Alter hatten sie Rückenprobleme, konnten sie die schweren Setzkästen nicht mehr heben und wurden in die Korrektorenstube versetzt. Dort war es ihre Aufgabe, Fehler zu finden. Da wollte der Korrektor seine Nützlichkeit beweisen. Gab es keine Setzfehler und war auch das Manuskript orthografisch einwandfrei gewesen, gab es noch immer die Zweifelsfälle, die nicht im Duden geregelt waren. Beispielsweise war der gesamte Bereich der Zusammen- und Getrenntschreibung im Jahr 1901 in den amtlichen Regeln nicht festgelegt worden, sondern konnte nach Gutdünken gehandhabt werden. Das galt auch für die sogenannten Doppelformen, bei denen verschiedene Schreibweisen erlaubt waren. Für Korrektoren waren nicht geregelte Schreibweisen „Zweifelsfälle.“ Sie waren Meister im Auffinden solcher Zweifelsfälle, teilten sie ihrem Verband mit, und der wandte sich an die Dudenredaktion mit der Bitte um Regelung. Der Duden bedankte sich regelmäßig bei ihnen in den Vorworten. In der Neuauflage des Duden war der Zweifelsfall dann geregelt. Es kamen Spitzfindigkeiten dabei heraus wie „Auto fahren“ aber „radfahren“ und ein immer komplizierteres Regelwerk der Groß- und Kleinschreibung.
„Dem Buchdruck (…) von orthographischer Toleranz zu predigen, ist ein aussichtsloses Beginnen. Die Drucker sind noch heute auf die Beseitigung der letzten Doppel- und Zweifelsformen aus.“
Auf diese Weise wurde unsere Rechtschreibung immer komplizierter. Sie hatte sich dem ordnenden Zugriff der Sprachwissenschaft entzogen. Der Dudenverlag hatte kein Interesse, die Regeln einfach zu halten, denn die Unsicherheit der schreibenden Deutschen sicherte Millionenauflagen. Das allein hat die Rechtschreibreform von 1994 nötig gemacht. Letztlich, um den Bestand an Jungfrauen zu sichern. Folgerichtig verlor der Dudenverlag mit der Orthographiereform das Monopol, die amtlichen Richtlinien herauszubringen und mithin das Prädikat „maßgebend in allen Zweifelsfällen.“
Wie bekomme ich jetzt den Dreh zum Erzählprojekt „Die Läden meiner Kindheit? Sind wieder Beiträge erschienen. Und allesamt jungfräulich. Ich bitte um Beachtung und wünsche viel Vergnügen beim Lesen. Bitte klicke aufs Bild!
Die Rolle der Drucker bei der Normierung der Sprache war nicht bekannt. Aber es ist plausibel, dass jemand, der seine gedruckten Texte einer Öffentlichkeit präsentieren will, Fehlerfreiheit anstrebt. Alles andere wäre bei der bekannten deutschen Gründlichkeit auch undenkbar.
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Die bekannte Form des Dudens war sogar aus dem sogenannten Buchdruckerduden hervorgegangen. Die Buchdruckereiverbände hatten sogleich nach der Orthographischen Konferenz von 1901 eine Nachbesserung des ersten Wörterbuchs verlangt, in dem die Doppelformen getilgt waren. Konrad Duden tat ihnen den Gefallen, denn ohne die Unterstützung der Buchdruckereiverbände wäre seine Orthographie niemals amtlich geworden.
https://de.wikipedia.org/wiki/Buchdruckerduden
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Mehr über den Einfluss der Drucker auf die Erscheinungsform unserer Schriftsprache:
http://trithemius.de/2006/03/13/die_orthographie_ist_nicht_vom_himmel_ge639334/
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war mal wieder sehr interessant und lehrreich hier im Teestübchen 🙂
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Mille grazie! Das freut mich.
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die FAZ hat sich der Rechtschreibreform widersetzt, oder habe ich das falsch mitbekommen? (ich denke gerade an Korrekturen).Aber da gab es den Beruf des Schriftsetzer (wie Du ihn beschrieben hast) nicht mehr, denke ich.
Ich finde solches Wissen auch ungemein interessant, es war offensichtlich eine harte körperliche Arbeit, eine Zeitung zu erstellen!
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Ja, auch viele Verlage haben sich zunächst geweigert, weil sie fürchteten, dass ihre vorher gedruckten Bücher schlagartig veralteten. Viele Autoren wollten sich nicht mehr umstellen und haben zum Teil lächerlich lamentiert, wie hier Rainer Kunze in der FAZ.
http://trithemius.de/2006/03/16/neues_von_den_totengrabern_der_schriftsp648372/
Die FAZ ist der Reform erst 2007 gefolgt. Jetzt verweigert sich noch die Titanic – aus Gründen, die ich nicht verstehe.
Tatsächlich hatten Texte in der Bleizeit noch Gewicht. Einen vollen Setzkasten konnte ich als 13-jähriger kaum heben.
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sie waren ja auch riesig…und dann Blei!
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Wenn du mal schauen willst:
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das video kenne ich schon…es war beeindruckend!
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Ja, aber! Die modernen Jungfrauen sind alle digital! 😦 Immer wieder interessant, Deine Beschreibungen der manuellen Handarbeit, ja des Handwerks vor dem Druck.
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Eine digitale Jungfrau kann vor allem noch nachträglich zu Jungfrau gemacht werden, indem wir unsere Fehler spurlos korrigieren können. Freut mich immer, vermitteln zu können, in welcher Tradition wir Blogger stehen, wenn wir die technische Schrift (Druckschrift) benutzen.
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So selten wie eine Jungfrau..:). Für einen 13jährigen noch etwas schwer zu verstehen.
Ein schöner Ausflug, lieber Jules.
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Zumal man als 13-jähriger selbst noch „Jungfrau“ ist 😉
Danke, liebe Mitzi.
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