Verschüttete Milch und ein kaiserlicher Goldtaler

Kategorie Kopfkino
In vielen Texten zum Erzählprojekt „Die Läden meiner Kindheit“ ist die Rede vom Milchholen, mal beim Milchmann im Laden, mal beim Bauern. Ein etwa zehnjähriges Mädchen erzählte mir einmal im Deutschunterricht eine absolut erstaunliche Geschichte aus dem Leben ihres Großvaters, der Milch holen sollte und einen kaiserlichen Goldtaler bekam. Ich habe sie aus der Erinnerung möglichst getreu nacherzählt.

Dieser Goldtaler befindet sich im Besitz der Familie. Man hat ihn vom Großvater geerbt. Er lebte als kleiner Junge in einem Dorf in den Österreichischen Alpen. Das Elternhaus lag abseits des Dorfes. Jeden Abend musste der Junge ins Dorf laufen, um beim Bauern Milch zu holen.

Einmal hörte er vom Marktplatz her Marschmusik. Er lief hin und staunte die Militärkapelle an. Erst nach einer Weile konnte er sich losreißen und ließ sich beim Bauern die Milchkanne füllen. Jetzt musste er sich beeilen. Auf dem Weg stolperte er und stürzte mit dem Knie in einen rostigen Nagel. Zu Hause schimpfte der Vater, denn der Junge kam viel zu spät zurück und hatte auch noch Milch verschüttet. Deshalb wagte er nicht, von seinem Unglück zu erzählen und legte sich mit seinem wunden Knie ins Bett.

Am nächsten Morgen hatte der Junge hohes Fieber. Das Knie war dick angeschwollen. Man brachte ihn in die Stadt ins Krankenhaus. Dort lag er zusammen mit gut 20 Verwundeten des ersten Weltkriegs in einem Krankensaal. Eines Tages erwartete man Besuch vom Kaiser. Es muss wohl Karl I. gewesen sein. Das Krankenhaus war in heller Aufregung; alles wurde herausgeputzt. Der Direktor des Krankenhauses wollte nicht, dass der Kaiser die vielen Kriegsverletzten zu sehen bekam. So ließ er sie alle in den Keller bringen.

Als der Kaiser mit seinem Gefolge den Krankensaal betrat, fand er nur den Jungen in seinem Bett. Er begrüßte den Jungen, sprach mit ihm, und als er sich abwenden wollte, rief der Junge ihn zurück. Er sagte leise:
„Willst du wissen, wo die anderen sind?“
„Ja, gibt es denn noch andere?“
„Schau einmal im Keller nach.“

Da war der Kaiser so gerührt, dass er dem Jungen einen Goldtaler schenkte. Es ist nicht überliefert, wie der Kaiser auf die Kriegsverletzten im Keller reagiert hat.

15 Kommentare zu “Verschüttete Milch und ein kaiserlicher Goldtaler

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  2. Eine traurige Geschichte durch und durch. Der Junge, der nicht wagt zu sagen, dass er sich verletzt hat, die Kriegsverletzten, die im Keller versteckt werden, um dem Kaiser ihren Anblick zu ersparen…
    In dem Vegan-Laden, der bis vor einigen Jahren hier um´s Eck war, hing ein Plakat auf dem stand: Milch tötet. Ganz so schlimm ist es im Falle des Jungen nicht gelaufen, aber der Wundstarrkrampf hätte ihn leicht dahinraffen können. 😉

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    • So kann man es sehen, liebe Tikerscherk. Das Tröstliche dagegen ist die kindliche Naivität, aus der heraus der Junge den Kaiser auf die versteckten Kriegsverletzten hinweist. „Milch tötet“ meint vermutlich die Kälber, die geschlachtet werden, damit der Mensch die Kuhmilch bekommten kann. Ja, Wundstarrkrampf verläuft meistens tödlich. Es wird wohl eine Blutvergiftung gewesen sein.

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  3. Einen solchen ‚ererbten‘ Goldtaler aus der Zeit Kaiser Wilhelms, des Zweiten, habe auch ich von meinem Großvater, dem es irgendwie gelang, das selbst vom Vater ererbte gute Stück sogar mit in russische Kriegsgefangenschaft zu nehmen und wieder zurückzubringen. Der Taler war wie der Romancero von Heine sein Stück ‚Heimat‘, eine Art Halt in der Fremde. Er ließ den Taler gülden vom Juwelier fassen und hängte ihn an eine Kette. Ein paar Jahre vor seinem Tod schenkte er ihn meiner Mutter. Die konnte nichts damit anfangen. Sie war zu wenig romantisch und schenkte ihn schleunigst mir. Ich kenne seine Bedeutung und Hüte das Ding wie Dagobert Duck seinen Golddollar.
    Liebe Sonntagsgrüße von Stefanie

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    • Hallo Stefenie,
      danke für den Kurzbericht vom Goldtaler deines Großvaters. Als ein Stück Heimat, als Halt in der russischen Kriegsgefangenschaft, war der Goldtaler natürlich noch kostbarer. Schön, dass du ihn hütest.
      Ich wusste gar nicht, dass die gekrönten Häupter Europas so freigiebig Goldtaler verteilt haben. Damit kam aber wieder was unters Volk, was die Vorfahren Raubritter dem Volk abgepresst hatten. So gesehen litten unsere Vorfahren mit ihrer Verehrung der Monarchien kollektiv am Stockholm-Syndrom, einige haben und hegen’s noch heute. 😉
      Liebe Sonntagsgrüße zurück,
      von Jules

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      • Nee, nee, nix freigiebig. Mein Urgroßvater hat ihn sich (angeblich)redlich erarbeitet, aber bei meiner verrückten Sippe weiß man nie…
        Warum schreibst Du denn in der Vergangenheit? Einige Länder leiden doch bis heute unter dem Stockholm-Syndrom ihrer Monarchien und dem was sie so als ‚Demokratie‘ zu bezeichnen pflegen…?
        Hier sturmts gewohltätig Krausblätter von den Bäumen.Kaum braucht es Flügel, schimpft die Kohlmeise. Sie ist ein Spielball des Sturms.

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  4. Geschätzter Herr,

    (das ist nicht ironisch gemeint), auch mich ist wieder einmal so ein Lüstchen überkommen, mal wo mitzumachen, und ich habe einen kleinen Beitrag (hihi – auch was mit Milch; sehr merkwürdig) zum Thema „Läden der Kindheit“ ins virtuelle All gestartet. – Falls das jemanden interessiert…

    Mit besten Wünschen für ein kreatiefes Sonntägchen

    Herr Koske

    PS: Das kennst Du aber schon, oder… Hihi. – Sorry!

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    • Lieber Herr Koske,
      danke für diesen Beitrag. Er ist in jedem Fall von Interesse. Danke auch für den Link zu Hannovers Teestübchen. Als noch eine Frau mein Leben zierte, bin ich sogar öfters in diesem anheimelnden Lokal gewesen.
      Viele Grüße,
      dein Trittenheim

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