Jüngling der Schwarzen Kunst – Heiliges Alphabet

Hannes stand am Setzkasten und setzte eine Zeile in Versalbuchstaben. Er fragte:
„Warum sind im Setzkasten die Großbuchstaben nicht nach Buchstabenhäufigkeit sortiert, Herr Ewald?“
„Das sind ja die Alten. Sie residieren oben, alphabetisch aufgereiht, gemäß der alten Ordnung, während unter ihnen ihre Enkel und Urenkel quasi durcheinander wirbeln.“
„Die Kleinbuchstaben sind ihre Enkel?“

„Ja, sie sind im achten Jahrhundert aus den Großbuchstaben entstanden. Die Alphabetreihe galt von der Antike bis ins Mittelalter als heilig. Sie aufzulösen, ist Blasphemie. Indem wir die Kleinbuchstaben einfach nach Häufigkeit neu sortieren, bricht die Satztechnik mit der religiösen Tradition. Das muss man sich erst einmal trauen. Gutenberg hat es getan.“
„Was ist denn Blasphemie?“
„Gotteslästerung.“
„Also war Gutenberg kein frommer Mensch?“
„Vermutlich nicht.“
„Aber er hat eine Bibel gedruckt.“
„Vielleicht als Beschwichtigung des Vorwurfs, der Buchdruck sei Teufelswerk.“
„Darum heißt unser Handwerk Schwarze Kunst?“
„Eigentlich wegen der schwarzen Druckfarbe. Aber weil man lange Zeit dachte, der Buchdruck wäre vom Geldverleiher Johannes Faust erfunden worden, glaubte man an einen Teufelsbund. Ich kenne ein Gedicht von Franz Grillparzer:

    Du lichte Schwarze Kunst
    Ob Gutenberg ob Faust
    War man zu Recht im Zweifel
    Denn halb kommst du von Gott
    Und halb kommst du vom Teufel.

Wie zur Wiedergutmachung der Blasphemie liegen wenigstens die Großbuchstaben in der angestammten Alphabetreihe. Aber das ist meine persönliche Interpretation. Landläufig passt hier ‚Einen alten Baum verpflanzt man nicht.’“

Hannes überlegte eine Weile und sagte dann: „Ich glaube, das ist Quatsch, Herr Ewald.“
„Ich gebe dir gleich ‚Quatsch’“, schnaufte Ewald und packte Hannes am Kittelkragen.“ Hannes duckte sich weg und wand sich aus seinem Griff.
„Doch, Herr Ewald! Wenn ich irgendein Wort aus Versalbuchstaben setze, beispielsweise HERR EWALD REDET UNSINN, dann verpflanze ich die Großbuchstaben doch auch.“

Am Sonntagmorgen saß Hannes in seinem Zimmer an der Kommode, die ihm und seinem Bruder als Schreibtisch diente. Wie es seine Gewohnheit war, trommelte er mit den Händen auf der Tischplatte. Durch die Erschütterung kippte plötzlich eine Ansichtskarte hervor, die sein Bruder wohl zwischen einigen Büchern versteckt hatte. Es waren auf 26 kleinen Zeichnungen nackte Menschen mit sexuellen Handlungen beschäftigt, mal zu Zweit, mal hatten zwei Männer eine Frau gepackt. Dabei verrenkten sie sich so, dass ihre Körper die Großbuchstaben des Alphabets bildeten.

Als Hannes die Darstellungen betrachtete, begann das Blut in seinen Ohren zu rauschen. Er spürte wie sein Penis anschwoll und hart von innen gegen seine Hose drückte. Der sexuelle Rausch kam so plötzlich über ihn, dass es ihn überwältigte. Das alles war unkeusch, wusste er. Es verstieß gegen das sechste Gebot, aber sein schlechtes Gewissen kam gegen die drastische Sexualität der Zeichnungen nicht an. Er musste sich dringend Erleichterung verschaffen. Hannes ging ins Bad und schloss hinter sich ab. Von wegen „das Alphabet ist heilig.“

Abenteuer mit dem ABC und Kurt Schwitters

Trithemius -Größer: Klicken!

Nachdem ich am Sonntag das fehlende Blatt zehn gestaltet hatte und wähnte, ich könnte jetzt das komplette Gemeinschaftswerk veröffentlichen, stellte ich fest, dass aus „Hannover“ noch Satz sechs fehlte:

    „Das Wort „re“ kann man verschieden übersetzen: „rückwärts“ oder „zurück“.“

Um „re“ zu visualisieren suchte ich in meinen Dateien Skatspieler mit der Sprechblase „re“, fand sie nicht, stattdessen ein ABC, das ich im Straßenbild fotografiert habe, und gestaltete das Blatt damit. Schwitters war immer bestrebt, verschiedene Künste zu vereinen: Malerei, Grafik, Typografie, Skulptur, Lyrik, Prosa, warum nicht die Fotografie hinzu nehmen? Er hätte die heutigen technischen Möglichkeiten auch genutzt.

Voilà, hat fast keine Arbeit gemacht, wie es aussieht, aber mich länger beschäftigt, als hätte ich alles gemalt. Die Fotos des Alphabets im Straßenbild habe ich etwa im Jahr 2000 mit einer analogen Spiegelreflexkamera gemacht, die mir Lisette geschenkt hatte. Ich war mit ihr in Bonn, wo sie einen Auftrag ihrer Agentur erledigte, nämlich die Mitgliedinnen einer Frauen-Selbsthilfegruppe für einen Prospekt zu fotografieren. Ich erinnere mich, später auf einem Foto gesehen zu haben, dass die eine einen langen hängenden Schnurrbart hatte, so einen pisseligen wie von einem wilden mongolischen Reiter. Derweil Lisette die schurrbärtige Frau und Kolleginnen fotografierte, streifte ich durch Bonn, auf der Suche nach Einzelbuchstaben im Straßenbild.
Später habe ich das Alphabet an anderen Orten vervollständigt. Für das abgebildete „E“ bin ich eigens in Stolberg (Rhld) aus dem Zug gestiegen, und wer Stolberg (Rhld) kennt, genauer, wer den Gestank gerochen hat, der immer über dem Bahnhof hängt, weiß meinen Einsatz zu schätzen. Selbst wenn der Zug mit geschlossenen Fenstern durchfährt durch Stolberg (Rhld), dann stinkt es nach faulen Eiern. Niemand, der es nicht muss, steigt aus in Stolberg (Rhld).

Mit diesem Alphabet gestaltete ich eine Weihnachtskarte für ein medienpädagogisches Institut. Dem Geschäftsführer gefiel sie nicht. Er saß mit diversen Leuten im Konferenzraum. Dabei war eine Dame von der Fazit-Stiftung, dem Verlag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Als ich hinzukam, zog der Geschäftsführer meinen Entwurf aus einer Mappe, zeigte ihn der Dame und fragte, was sie davon halte, wobei klar war, dass er den Entwurf doof fand. Die Dame schloss sich sogleich seiner Meinung an und sagte: „Ich sehe den deutschen Schilderwald!“
„Verflucht!“, dachte ich. „Da muss das blöde Weib mich schlachten, nur um sich beim Chef einzuschleimen.“ Mein Entwurf wurde trotzdem gedruckt, weil die oberste Chefin es verfügte. Bei ihr hatte ich nämlich einen Stein im Brett. Rückblickend fand ich die Weihnachtskarte selbst nicht gut. Besser ist das Gedicht, das ich mal fürs Blog daraus gemacht habe.

Alphabetmärchen

Einmal erwacht‘ ich inmitten der Nacht
Und wurde gewahr, wie mit eisig perlendem Wasser
Das Alphabet gereinigt wurde.
Sie waren gerade beim C.
Ich hörte es prasseln, da man es wusch.

Und dachte: Wenn man um drei Uhr vier
Erst beim C angekommen ist,
Wie will man beizeiten fertig sein?
Da fiel mir ein, dass in alter Folge
Das C an der 11. Stelle steht.

So lag ich und horchte.
Dann setzt‘ ich mich auf und machte Licht.
Augenblicklich hielt das Waschen inne.
Das Brausen wurde zum Rieseln
Und dann war’s still.

So glaube ich, dass in dieser Nacht
Das Alphabet zur Hälfte schmutzig blieb.
Allein, ich bin schuldlos.
Das Licht löschte ich aus
Und schrieb im Dunkeln:

In alter Zeit wusch man allnächtlich die Stunden.
Da konnte nichts Übles die Nacht überstehen.
Doch seit der Mensch die Stunden nahm
Und sie in Buchstaben presste,
Wird nur noch die Schrift gewaschen.

Daher verkommt die Welt, und mit ihr
Verludern die kosmischen Wäscher.
Denn das Alphabet ist ihnen egal.
Das waschen sie nur,
Wenn sie launig sind.

(Trithemius)

Wider die orthographische Päderastie bei WordPress

Es ist Montag, Zeit ein bisschen aufzuräumen. Seit Tagen spinnt mein Kommentar-Editor, schreibt einfach ein Doppel-f im Anlaut, also so: ffalsch. Wenn ich das überflüssig f lösche, fehlen nach der Veröffentlichung des Kommentars beide und man könnte denken, ich hätte „alsch“ geschrieben als wäre ich f-blind. Lasse ich das Doppel-f, wirkt es wie ein Sprachfehler.

Binnenmajuskel

So ein Editor ist ein kleines Programm, das alle unsere Eingaben überwacht. Es fischt beispielsweise unerlaubte HTML-Befehle heraus, wandelt bestimmte Satzzeichen in Smilies um (danke Nana vom See für den Hinweis) und verändert Schreibweisen. Vor einigen Tagen habe ich ziemlich gestaunt, dass der WordPress-Editor mir eine sogenannte Binnen-Majuskel ins Wort gepfuscht hat. Kollegin Text und Sinn hat hier auch schon darüber geschrieben. Wie sie fühle ich mich meiner orthographischen Selbstbestimmung beraubt, denn ich lehne die Binnen-Majuskel grundsätzlich ab. Zur Strafe gibt es jetzt einen Ausflug in die Schriftgeschichte. Wer die Aussicht deprimierend findet, möge nicht weiterlesen. Weil heute Blue Monday ist, übernehme ich keine Verantwortung.

Zunächst wäre zu klären, warum wir überhaupt zwei Alphabetreihen haben, also die der Großbuchstaben (Majuskeln) und der Kleinbuchstaben (Minuskeln). Bekanntlich ist unser Alphabet durch die Römer aus dem Griechischen übernommen worden, was wir noch an seinem Namen erkennen, der nach den ersten beiden Buchstaben des griechischen Alphabets „Alpha“, „Beta“ gebildet ist. Was die Römer aus dem griechischen Alphabet gemacht haben, kennen wir als Lateinschrift. Es war eine reine Großbuchstabenschrift, deren Form uns gemeißelt überliefert ist. Sie heißt Capitalis Monumentalis und beruht auf den Grundformen Kreis, Quadrat und Dreieck. In ihrer schönsten Form findet sie sich auf einer Ehrensäule für den römischen Kaiser Trajan aus den Jahren 112/113, genannt Trajan-Säule. Die heutigen Großbuchstaben entsprechen exakt den Formen der Capitalis. Weil die Capitalis Monumentalis gemeißelt wurde, ist sie ziemlich statisch. Viele Buchstaben wie A, H, I, M, O, T, V, X, Y haben keine Schreibrichtung, sondern sind achsenspiegelbildlich. (Die ebenfalls achsenspiegeligen Buchstaben U und W fehlen noch in der antiken Alphabetreihe.)

Durch das Schreiben mit der Hand veränderte sich die Form. Die Buchstaben rundeten sich und passten sich der Schreibrichtung an. Aber auch mehrere hundert Jahre später war die Lateinschrift noch immer eine reine Großbuchstabenschrift, genannt Unzialis. Sie wurde ohne Wortabstand geschrieben und musste laut buchstabierend gelesen werden.

Etwa Mitte des 8.Jahrhunderts ging von der Hofschule Kaiser Karls eine Schriftreform aus, mit dem Ziel einer Vereinheitlichung der Verkehrsschrift im ganzen Kaiserreich. Die neue Schrift hat jetzt Formen im Mittelband sowie welche mit Ober- und Unterlängen. Zusammen mit klaren Wortabständen erlaubt sie Wortbilderkennung und schnelles, leises Lesen. Diese klare Lateinschrift wird karolingische Minuskel genannt. Aus heutiger Sicht ist die karolingische Minuskel eine reine Kleinbuchstabenschrift, weitgehend identisch mit unseren heutigen Kleinbuchstaben. Nur der I-Punkt ist eine spätere Erfindung und das kleine t hatte noch nicht die Andeutung einer Oberlänge. Wollte man ein Wort durch Großschreibung hervorheben wie etwa den Namen Gottes, benutzte und verzierte man Buchstaben der älteren Unzialis.

Etwa 600 Jahre später begannen in Italien sich Wissenschaftler wieder für die antiken Texte zu interessieren. Was sich über die Jahrhunderte erhalten hatte, war in der karolingischen Minuskel geschrieben. Irrtümlich hielt man die karolingische Minuskel für die Schrift der antiken Römer, verband sie mit den Buchstaben der Capitalis Monumentalis und nannte die Vermengung von Großeltern und Enkeln Antiqua. Was wir heute schreiben, ist Antiqua oder beruht auf den Formen der Antiqua. Es wäre jetzt noch ein Abschnitt über Herkunft, Sinn und Unsinn der Groß- und Kleinschreibung fällig. Aber weil hier vermutlich schon einige in den Seilen hängen das Fazit:

Ich will nicht, dass der WordPress-Editor mir einen alten Kerl mitten unter die Kinder stellt. Nach unseren Rechtschreibregeln hat er da nichts verloren, wirkt da peinlich wie ein, mit Verlaub, Päderast auf dem Spielplatz.

Gar kein schöner Sonntag in der Teestübchenredaktion

Mein lieber Herr Gesangsverein! Was für ein Theater wieder heute in der Teestübchenredaktion.
„Ich bin am Ende, Frau Kirchheim-Unterstadt“, stöhnte Chefredakteur Trittenheim. „Ich werde mich zuverlässig und gründlich entleiben. Man wird mich finden als die dreimal getötete Leiche.“
„Aber warum denn?“, fragte Frau Kirchheim-Unterstadt erschrocken.
Stellen Sie sich vor, ich sitze friedlich über einer Neubearbeitung meines Essays mit dem Titel „Die Kreuzwegsfigur des Pythagoras – oder der buchstab Pitagore Y, baiderley strasz, der tugent und der untugent – literarische Quellen aus zwei Jahrtausenden“, da klingelt Frau Küttelwäsch, diese Vettel von einer Hauswirtin, bei mir Sturm. Und wie ich öffne, da stürmt das Weib an mir vorbei in mein Arbeitszimmer und beschlagnahmt das gesamte Alphabet.
„Sie kann doch nicht das Alphabet beschlagnahmen. Es ist Weltkulturerbe und gehört allen.“
„Kann sie doch. Jedenfalls behauptet die Küttelwäsch, ich wäre in ihren Kartoffelkeller eingebrochen und hätte ihr einen Fünf-Kilo-Sack Kartoffeln gestohlen.“
„Einen Fünf-Kilo-Sack?“
„Bitte bedenken Sie doch, Frau Kirchheim-Unterstadt, das Alphabet hat 26 Buchstaben. Da reicht ein Fünf-Kilo-Sack grad mal für die Antiqua-Großbuchstaben.“
„Sie brauchen nur 23, wenn Sie I und J sowie V und U für jeweils einen Buchstaben gelten lassen“, mischte sich Volontär Schmock ein.
„Hoho, unser Neunmalkluger hier, seht ihn euch an“, höhnte der Trittenheim. „Haben Sie aus Ihren schlauen Büchern nicht gelernt, dass es unschicklich und zudem gefährlich ist, über den eigenen Vorgesetzten zu triumphieren?“
„Einen Moment, bitte!“, rief Frau Kirchheim-Unterstadt energisch, „Was haben denn die Kartoffeln von Frau Küttelwäsch mit Ihrem gewiss hervorragenden Essay zu tun, Herr Trittenheim?
„Ja, was wohl?“, giftete der Trittenheim, „nachdem sich meine tölpelhafte Schreibkraft am dubiosen Oktober-Editorial beide Daumen gebrochen hat, da haben Sie selbst angedeutet, Frau Kirchhheim-Unterstadt, ich müsse meine Texte zukünftig im Kartoffeldruckverfahren…
„Haben Sie denn von ihrem zweifellos genialen Essay nichts retten können?“, fragte Frau Kirchheim-Unterstadt mitfühlend.
y„Doch, das hier! Mit dem Rest hat meine Hauswirtin Cäcilia Küttelwäsch heute Mittag ihr Schwein äh ihren Mann gefüttert.

Die Kreuzwegsfigur des Pythagoras
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