Ein Schlüsselmoment

Es war ein Sonntagmorgen auf dem Land. Theo und ich stiegen zu Fritz in seinen weißen VW-Käfer, den seine Eltern ihm zum Abitur geschenkt hatten. Fritz war in Wevelinghoven mit einem Feund aus dem Abiturjahrgang zum Frühschoppen verabredet. Auch Theo hatte das Abitur geschafft. Ich hatte die Freunde stets um ihre Schulbildung beneidet, denn ich hatte nach acht Jahren in einer dreiklassige Volksschule eine Lehre absolviert, konnte zwar bereits einen Gesellenbrief vorweisen, doch achtete ihn gering, weil das Umfeld meinen Handwerkerberuf geringschätzte. Besonders die höheren Töchter und Mädchen aus besserem Hause ließen mich spüren, dass ich ihnen nicht gut genug war.

Ein weitere Demütigung kam von unseren alten Lehrer der Volksschule. Wenn wir ihn zu dritt trafen, erkundigte er sich nur nach dem Fortkommen der Gymnasiasten, zeigte für meine berufliche Entwicklung kein Interesse. Aber es war nicht nur das geringe gesellschaftliche Ansehen. Ich wollte mich gerne bilden, las viel, wusste aber, dass mir vielerlei nicht zugänglich war. Fritz und Theo ertrugen stets geduldig, dass ich sie mit Fragen löcherte, mir von ihnen quasi eine gymnasiale Bildung aus zweiter Hand besorgte.

Gut 25 Jahre später bin ich bei einer Trainingstour von Aachen nach Zons am Rhein durch Wevelinghoven gerollt und erkannte die Kneipe wieder, indem ich das für mich wichtige Erlebnis hatte. Wir hatten die Dorfschänke an jenem Sonntagmorgen voller Wevelinghovener gefunden, ein unfassbares Stimmengewirr in den dichten Schwaden von Zigaretten- und Zigarrenrauch. Vermutlich hatten sich die meisten der gutgelaunten Zecher ihren Segen im Hochamt der Pfarrkirche geholt, waren aber nach der Wandlung stiekum abgehauen, wie es im Rheinland gute Tradition ist. An den Tischen saßen sie Skat dreschend, hieben, die Trümpfe ausspielend, ihre dicken Handballen auf die Holzplatten, dass die Schnapsgläschen hüpften und wieder in kleinen Lachen landeten. Wir bahnten uns den Weg zur Theke und fanden dort den Freund neben seinem stolzen Vater. Der vereinnahmte uns, rief sogleich eine Runde auf, und indem er uns zuprostete, rief er: „Jezz hät ihr et jeschafft!“

So töricht das auch war, denn das Abitur ist ja nur die kleinste Hürde auf dem Weg in ein erfolgreiches Leben, dieses „Jetzt habt ihr es geschafft!“ traf mich ins Mark. Ich hatte es überhaupt noch nicht geschafft, und dachte, ich hätte mir eine Ehre ergaunert, allein durch Anwesenheit in einer Runde, zu der ich nicht gehörte. Auf dem Land der späten 1960-er Jahre schafften nur wenige das Abitur, bekamen damit einen Ritterschlag, der sie in die besseren Kreise aufnahm. Auf welche Weise ich es einmal schaffen würde, zeichnete sich in der Wevelinghovener Dorfschenke noch nicht ab. Es lag jenseits meines beschränkten Horizonts. Aber dieser angetrunkene Vater eines Abiturienten hat mir den letzten Impuls gegeben, nach einer Möglichkeit auszuschauen und einen Weg zu finden.

Die verwunschene Bruchstraße

„Alle 1000 Jahre versinkt eine Stadt um einen Meter“, sagte mein Freund Thomas, der Stadtplaner in Aachen gewesen war. Dieser Wert bestätigt sich in Aachen. Wo für Neubauten ausgeschachtet wird, stößt man in zwei Metern Tiefe auf römische Grundmauern. Aber auch in meinem Heimatdorf gibt es römische Spuren, wenn man die Landschaft zu lesen versteht. Ich wuchs auf in Butzheim, das mit meinem Geburtsort Nettesheim ein Doppeldorf bildet. Von Süd nach Nord führt durch Butzheim die Bundesstraße 477. Sie folgt der Trasse einer römischen Fernstraße, die von den südlichen Provinzen zur Nordsee führte. Im rechten Winkel zweigt in östlicher Richtung die Bruchstraße ab.

Sie ist eine lange Straße, mit wechselnden Gesichtern. An ihrem Anfang ist sie von Bauernhöfen gesäumt. Im ersten links bin ich aufgewachsen. Am letzten Gehöft auf der linken Seite endete für mich der heimische Bereich. Es war Rufweite. Dahinter steigt die Straße leicht an, überwindet an der Wegkreuzung oben die Kuppe, wo sie zuerst sanft abfällt, dann abschüssig wird. Von der Kuppe konnte ich unser Haus noch sehen. Dann taucht die Straße in einen tiefen Graben, dessen Hänge dicht mit Holunder, Hasel und Brombeere bewachsen sind.

Hier begann das Abenteuer, ab hier verdient die Bruchstraße das Attribut „verwunschen.“ An den Steilhängen des Hohlwegs steht der Mergel an. Wo er Wind und Wetter ausgesetzt ist, wirkt er grau, doch der frische Mergel leuchtet gelb. Im Mergel kann man prächtig graben und Höhlen ausschachten. Kaninchen, Dachs und Fuchs hatten es uns vorgemacht. Doch wir schachteten rechteckige Kammern. Das hatten schon Generationen vor uns getan. Denn gelegentlich fanden wir unter Gestrüpp vergessene Kammern, von uns „Bunker“ genannt. Da spielten wir, ungestört von Erwachsenen, und hatten den ganzen Tag zu tun, gruben Bunker, schnitzten Pfeil und Bogen aus Haselholz oder Esche, Pfeifen aus Holunder, bauten mit Dosentelefonen Kommunikationslinien auf und vergaßen die Zeit.

Blick in die erste Bruchstraße


Rund 500 Jahre hielten die Römer das Rheinland besetzt. Ein halbes Jahrtausend waren römische Soldaten die Bruchstraße gegangen. Dass die Bruchstraße eine Heeresstraße war, erklärt auch die beiden Hohlwegpassagen. Was wir „Mergel“ nannten, waren große Lössablagerungen seitlich eines alten Flussbetts. Bei Wegen durch Lössablagerungen verfestigen Tritte von Huftieren, die von ihnen gezogenen Karren und menschliche Schritte das Bodenmaterial und zermahlen es zu Staub. Wind und Regen transportieren den Staub ab. Dadurch graben sich die Wege immer tiefer in die Umgebung.

Nach etwa einem Kilometer weitet sich der Hohlweg und gibt den Blick frei auf das oben genannte Tal. Auf dessen östlicher Seite zeigt sich der Einschnitt zum zweiten Hohlweg. Das Tal zwischen beiden Hohlwegen hat ein Rheinarm ausgeschwemmt. Denn einst hat sich der Rhein in der Kölner Buch in viele Arme verzweigt, bevor man ihn mit Deichen in ein Bett zwang.

Der ferne Hohlweg ist tiefer eingeschnitten als der erste, hat offene steile Hänge, die wir uns nicht zu erklettern trauten. Hier waren wir selten. Es war einfach zu einsam und zu weit weg. Noch seltener waren wir am Ende der zweiten Hohlwegpassage, wo die Bruchstraße einen Querweg kreuzt und auf einem Damm ein altes Moor überquert, das im 19. Jahrhundert trocken gelegt wurde. Ein Kanal mit brackigem Wasser erinnert daran. Dann durchzieht die Straße den Ausläufer eines alten Auwalds. Später Felder und fern ein Gehöft. Wenige Meter hinter dessen Hauswiese stößt die Bruchstraße an ein Feld und ist einfach weg. Als Junge habe ich dort mit dem Fahrrad gestanden und bedauert, dass unsere Straße nach so vielen zielstrebigen Kilometern ein sang- und klangloses Ende im Acker fand, ohne Sinn und Verstand. Mir war, als wäre sie unter der Ackerkrume noch zu finden.

Da wusste ich nicht, dass ich auf einer alten Römerstraße stand. Dass die Bruchstraße eine Heeresstraße war, erklärt auch ihr unrühmliches Ende. Nachdem der letzte römische Legionär durchgezogen war, hatten die Leute dort den Weg verlegt, und später untergepflügt. Sie hatten einfach das Tor geschlossen, wie es sich gehört, wenn der letzte Gast gegangen ist.

Eine sehr traurige Geschichte

Auf der Rückfahrt unserer Radtour zum Bodensee sind meine Freunde und ich durch Rastatt gekommen. Das etwa 50.000 Einwohner zählende Städtchen muss man nicht kennen. Aber es hat ein stattliches Residenzschloss aus dem 17. Jahrhundert. Ich erinnere mich nicht, warum wir unsere Räder vor dem Schloss abgestellt haben und hineingegangen sind, vermutlich weil ein Plakat in eine Gemäldeausstellung lockte. Im zentralen Saal hingen großformatige farbenprächtige Bilder, und der für den Farbrausch verantwortliche Künstler, ein Mittfünfziger, war da.

Während wir uns die Bilder anschauten, gesellte sich der Künstler zu uns und fragte, wo wir herkämen. Karl-Heinz sagte „aus der Nähe von Köln“, denn es war unwahrscheinlich, dass man in Rastatt je etwas von unserem Dorf gehört hätte. Darauf fragte der Mann, ob wir ihn nicht an eine Kölner Galerie vermitteln könnten, denn er wolle seine Malerei zu gern auch in Köln ausstellen. Wir waren 17 Jahre, einige trugen kurze Hosen. Wir hatten einen Spiritus-Kocher, Kochtöpfe und Eimer oben auf unsere Satteltaschen geschnallt, damit wir unterwegs Wasser erbetteln und Würstchen heiß machen oder Tütensuppe kochen konnten. Klarer Fall, so sahen international anerkannte Kunstexperten aus, auf deren dringenden Rat nicht nur Kölner, sondern sogar Düsseldorfer Galeristen hören würden.

Wir würden einen Umweg über Köln machen. Auf dem Neumarkt stünden Kölns angesagteste Galeristen Spalier und würden uns zurufen: „Habt ihr unterwegs keinen Maler gesehen, der seine Bilder in Köln ausstellen will?“ So ein Satz wäre schon mal viel zu lang. Wir würden vielleicht noch hören: „Habt ihr unterwegs keinen …“, dann wären wir längst an Kölns versammelten Galeristen vorbeigerollt. „Habt ihr unterwegs keinen …“ Was?! Scheiß gebaut? Nass gemacht? Platten gehabt? Im ganzen Leben würden wir nie erfahren, was die von uns wollten, zumal die Galeristen im Feuereifer alle durcheinander gerufen hätten.

Wir mussten also sein Ansinnen bedauernd von uns weisen, stiegen auf unsere Räder und fuhren weiter. Der gute Mann, musste nicht nur uns, sondern auch all seine Hoffnungen fahren lassen, über die Stadtgrenze von Rastatt hinaus bekannt zu werden, und wenn er sich nicht erschossen hat, malte er noch lange vergebens.

Peinliche Ferienerlebisse

Meine Patentante Liesel lebte in Küppersteg. Sie war eine Freundin meiner Mutter. Die beiden hatten sich auf der Hauswirtschaftsschule kennengelernt. Tante Liesel hatte ein berührendes Schicksal. Sie heiratete im Krieg, und in der Hochzeitsnacht wurde ihr Mann zur Front abberufen und blieb im Krieg. Ich erinnere mich an Radiosendungen in der Zeit der heimkehrenden Kriegsgefangenen, bei denen die Namen der Heimkehrer vorgelesen wurde. Meine Mutter lauschte den Sendungen, weil Sie für Tante Liesel hoffte, den erlösenden Namen „Blum“ zu hören. Es geschah nie. Und nie wurde bekannt, was mit dem Soldaten Blum geschehen war.

Weil meiner Patentante Liesel das Ziel ihrer Liebe abhandengekommen war, verströmte sie auf alle in ihrer Umgebung etwas liebenswert Weiches. Auf mich wirkte sie immer ein bisschen abwesend und weltfremd. Ich erinnere mich an Pullover, die sie für mich strickte. Vielleicht strickte sie zu langsam oder ich wuchs zu schnell für ihr Stricktempo. Jedenfalls waren mir die Pullover immer zu klein und schnürten mich ein wie eine Wurstpelle. Sie hätte ihren Mann für tot erklären lassen können, um wieder heiraten zu können, blieb dem Soldaten Blum aber lebenslang treu. Obwohl sie begütert war, nahm sie später eine Stelle als Haushälterin in einer Pfarrei an, wo sie drei Priester beköstigte.

Einst sah ich bei der achtjährigen Tochter einer Freundin eine Zeitschrift für Mädchen und staunte, dass ein zentrales Thema „Peinliche Erlebnisse“ waren. Ich dachte spontan, dass auf diese Weise in kleinen Mädchen schon Unsicherheit und Selbsthader geschürt werden, damit man ihnen später alle möglichen Produkte verkaufen kann.

Indem ich Tante Liesels kleines Porträt schrieb, kamen mir ebenfalls peinliche Erlebnisse in Erinnerung, die mir in den Ferien bei Tante Liesel widerfuhren. Ich hab lange Zeit nicht mehr an diese Situationen denken wollen. Erfolgreich verdrängt hatte ich die Sache mit dem Aufschnitt. Ich war zum Lebensmittelgeschäft Laukötter geschickt worden und sollte fürs Abendessen ein Viertelpfund Aufschnitt kaufen. Wie wohl üblich, sollte ich anschreiben lassen, was mir unangenehm war. Ich kaufte den Aufschnitt, und die bedienende Tochter Laukötter packte ihn mir in festes Papier ein. Auf dem Rückweg überkam mich der Übermut und ich warf das Paket senkrecht in die Luft und fing es wieder auf. Das schmale Wurstpaket segelte so schön aufwärts, aber wie es herunterkam, rutschte es mir durch die Finger, just in die Schlitze eines Gullys hinein und war weg.

Die zweite Geschichte geschah im Freibad. An einem heißen Sommertag hatte Tante Liesels Neffe Rainer mich ins Freibad mitgenommen, wo er sich mit anderen Jungen und Mädchen traf. Ich fühlte mich unwohl zwischen all den Fremden. Plötzlich stand Rainer von unserer Decke auf und sagte, er wolle Eis holen. „Für mich auch!“, riefen einige, und ich ließ mich mitreißen und rief ebenfalls: „Für mich auch!“ Im gleichen Augenblick wurde mir klar, dass ich überhaupt kein Geld hatte, und es war mir peinlich, Eis geordert zu haben. Als Rainer mit dem Eishörnchen für mich zurückkam, weigerte ich mich, es anzunehmen. Rainer war erbost und sprach nicht mehr mit mir. Bei der Rückfahrt mit dem Fahrrad, sagte er, froh gewesen zu sein, dass ihm jemand das von mir verschmähte Eis abgekauft hätte.

Im Haus in Küppersteg lebte noch Tante Liesels Schwester, Tante Änne mit ihrem Mann und dem Sohn Rainer. Zu jener Zeit wurde noch in der Waschküche gebadet. Sie lag im Untergeschoss eines Anbaus. Einmal ging ich über den Hof und sah durch ein Fenster der Waschküche Kerzenschein. Offenbar badete Tante Änne. Neugierig ging ich nochmals an der Waschküche vorbei und abermals hin und her, bis Tante Änne von drinnen rief: „Willst du mich nackt in der Badewanne sehen?!“, was sicher nicht als Angebot gemeint war. Ich stammelte etwas und lief weg. Das war mein peinlichstes Erlebnis gewesen. Überhaupt geriet ich immer dort in Situationen, denen ich nicht gewachsen war. Ich war halt ein Junge vom Dorf.

Jüngling der Schwarzen Kunst [01] – Prolog

Anna Cramer schaute aus dem Fenster zum Hof. Es hatte zu regnen begonnen. Schwere Tropfen pladderten auf die gestampfte Hoferde und warfen dicke Blasen. Sie freute sich für ihre jungen Kartoffelpflanzen im Garten ihrer Eltern, die den Regen dringend benötigten.

Früher hatte der Bauer das Regenwasser von der Regenrinne der Stallungen in eine gemauerte Zisterne geleitet, um die Kühe daraus zu tränken. Doch schon lange stand kein Vieh mehr in den Boxen. Der Hof gehörte jetzt einer alten Jungfrau, bei der Anna Cramer mit ihren drei Kindern zur Miete wohnte. Die Zisterne lag trocken. Unter dem Vordach der Stallungen stand ihr zweiter Junge vor der Zisterne und hantierte mit Hammer und Meißel. Das Brett aus dicken Bohlen, mit dem die Zisterne abgedeckt war, diente ihm als Arbeitsplatte. Er hatte einen alten roten Ziegelstein gefunden und meißelte offenbar einen Indianerkopf daraus.

„Ach, mein Hannes hat Ideen wie ein Windvogel“, seufzte Anna. In knapp einem Jahr würde er die Volksschule verlassen. Der Gedanke krampfte ihr das Herz zusammen. Er war doch noch so klein und schmächtig, ein verspieltes und verträumtes Kind von 12 Jahren.

Inzwischen hatte Hannes von seinem Ziegelindianer abgelassen und schnitzte aus einer kurzen Holzleiste ein Boot. Denn bald würde das Wasser von den Feldern herunterkommen und den Rinnstein vor dem Haus in einen Bach verwandeln. Hannes hatte seine Freude daran, das Boot vor der Haustür in die heftige Strömung zu setzen und dann bis zur Straßenmündung neben ihm herzulaufen, wo der Bach gurgelnd im einzigen Gully der Straße verschwand.

„Nein“, sagte Anna, „mein Hannes ist nichts für’s Büro!“

Das sagte sie am nächsten Tag auch ihrer Mutter, bei der sie täglich putzte und kochte, irgendwann mittags zwischen der Arbeit auf den Feldern des Bauern von gegenüber. Hannes war bei ihnen und schaute erstaunt auf. Wieso denn eigentlich?, dachte er. Wäre doch prima, wie Fritz an einem Schreibtisch zu sitzen und sich die Hände nicht schmutzig zu machen, anders als die Automechaniker oder Landmaschinenschlosser. Solche Berufe strebten seine Klassenkameraden an, soweit sie nicht Bauern wurden wie ihre Väter. Aber er wollte das nicht machen. Doch er sagte nichts. Wenn seine Mutter so für ihn entschieden hatte, würde sie wohl ihre Gründe haben. Anna Cramer hatte abends im Bett einen Entschluss gefasst. Ihr Bruder Josef betrieb im Nachbarort eine Druckerei. Sie würde ihn fragen, ob er ihrem Hannes eine Lehrstelle als Buchdrucker oder Schriftsetzer besorgen könne. Das war doch ein gutes Handwerk.

Ein Lächeln zur Unzeit

Wenn ich glaubte, etwas verloren zu haben und zu Hause meinen Irrtum bemerkte, weil friedlich auf dem Tisch lag, was ich verloren glaubte, bei diesen Gelegenheiten habe ich beobachtet, dass sich zwar Erleichterung einstellt, aber das Verlustgefühl nicht sofort weicht. Offenbar werden bei einem vermeintlichen Verlust Botenstoffe ausgeschüttet, die sich erst langsam abbauen. Es ist plausibel, dass Botenstoffe sich über den Blutkreislauf langsamer bewegen als der Gedankenfunke von Synapse zu Synapse springt. Demgemäß sind unsere tiefen Gefühle langsamer als unsere Gedanken.

Die träge Nachwirkung von Gefühlen lässt sich auch umgekehrt beobachten. Nach einer angenehmen Begegnung bringt man ein Lächeln mit und trägt es noch eine Weile vor sich her. Dies könnte einen Moment erklären, in dessen Folge mein Leben eine völlig neue Wendung nahm, so dass man diese Zeilen hier überhaupt lesen kann. Denn ich verließ meine Heimatstadt und wandte mich ganz dem Schreiben zu.

Zur Vorgeschichte: Ich war quasi versehentlich in ein Verhältnis verstrickt worden, liebte eine verheiratete Frau so sehr, dass ich die problematische und kräftezehrende Beziehung sieben Jahre ertrug. Nach vier Jahren trennte sie sich endlich von ihrem Mann, und eigentlich hätte jetzt alles gut sein können. Es war aber nicht gut. Als sie noch mit ihrem Mann zusammenlebte, fühlte sie sich berechtigt, ihn zu betrügen, weil er sie geringschätzig behandelte. Nachdem sie sich von ihm getrennt hatte, entwickelte sie moralische Bedenken, sagte: „Ich kann dir nicht geben, was ich ihm genommen habe.“ und „Man darf sein Glück nicht auf dem Unglück anderer aufbauen.“ Am Ende kam es mir gegenüber zu einen Vertrauensbruch, in dessen Folge ich die Beziehung beendete. Es fühlte sich an, als würde ich mir bei vollem Bewusstsein einen Arm absägen.

Einige Wochen nach der Trennung strich ich ruhelos durch die Straßen, auf der Suche nach Ablenkung vom Trennungsschmerz. Willkürlich nahm ich die Krämerstraße vom Markt hinunter zum Münsterplatz. Vor mir ragte der Dom auf, plötzlich bog Lisette lächelnd um die Mauerecke. Wir grüßten uns – und verharrten einen Augenblick.

„Kommst du oder gehst du?“, fragte sie.
„Ich gehe“, sagte ich und wandte mich ab.

Ich weiß, wäre sie nicht lächelnd um den Dom gebogen, hätte ich das nicht geantwortet und mich nicht abgewandt. Aber dieses Lächeln, das nicht mir gelten konnte, denn sie hatte es mitgebracht, bevor sie mich hatte sehen können, signalisierte mir, dass sie unsere Trennung längst überwunden hatte und anders als ich, wieder beschwingt unterwegs war. Es kam mir vor wie ein neuerlicher Verrat.

Dass ich mich geirrt hatte, zeigte sich in den Wochen danach, in denen sie alles tat, mich wieder zu gewinnen. Das Lächeln konnte jemandem gegolten haben, dem sie zuvor begegnet war. Es hätte auch sein können, dass sie ahnte, mich zu treffen, weil sie eine Frau mit derlei Vorahnungen war.

Die Spekulation ist müßig. Die Trennung war rückblickend dringend nötig, ja, für mich überlebenswichtig. In der Folge begann ich zu bloggen, um meinen Schmerz zu bewältigen. Das geschah im Jahr 2005. Seither habe ich gut 5000 Texte verfasst, und am Anfang war ihr Lächeln zur Unzeit.

Fünf Variationen über Glück

1) Glück gehabt
Als ich an der Straßeneinmündung die Straße überqueren wollte, brauste mit hoher Geschwindigkeit ein weißes BMW-SUV heran. Die tiefstehende Sonne schien ins Auto, und ich sah in ein feistes Gesicht mit aufgerissenen Augen, aus denen der helle Wahn schlug. Na, der würde mich nicht über die Straße lassen, sondern noch Gas geben, um jeden umzunieten, der seinen automobilen Vorwärtsdrang hemmen wollte. Ich hatte das glücklicherweise gar nicht erst versucht, sondern wartete, ihn vorbeizulassen.

Bei meiner Verhandlung vor dem Düsseldorfer Verwaltungsgericht Van der Ley gegen Bundesrepublik Deutschland, wo ich mein Recht auf Kriegsdienstverweigerung erstritt und bekam, fragte mich zuletzt einer der drei Richter, ob ich ein Auto hätte. Als ich verneinte, wurde meiner Klage stattgegeben. Offenbar schätzte der Richter das Auto als potentielle Mordwaffe ein und dachte, dass kein glaubhafter Pazifist dieses Teil besitzen dürfte. Wer jetzt denkt, ich hätte ja nur so getan, um mich vor dem Wehrdienst zu drücken, die Verhandlung fand statt, nachdem ich Jahre zuvor 18 Monate Wehrdienst als nicht anerkannter Kriegsdienstverweigerer abgeleistet hatte.

2) Nach diesem Auftakt an der Straße, sah ich den gemütlich dicken Schornsteinfegermeister unseres Viertels, wie er sein altes schwarzes Herrenfahrrad vor der Bäckerei abstellte und vor mir hineinging. Als ich hinter ihm an der Theke stand, sagte ich: „Dann habe ich ja heute Glück“ und tippte ihm leicht an den Oberarm.
„Das will ich wohl meinen“, sagte er routiniert, griff in eine Tasche und schenkte mir den kleinen Schornsteinfeger.

3) Am Morgen hatte mich ganz unerwartet eine liebe Mail erreicht, von der ich gar nicht wusste, womit ich die verdient hatte.

4) Dann klingelte der DHL-Bote und rief fröhlich in die Haussprechanlage: „Ich habe ein Paket für sie!“ Darin waren zwei Exemplare meines neuen Buches, auf das ich schon lange gewartet hatte. Mein Korrekturexemplar hatte ich nämlich meiner famosen Logopädin geschenkt. Das Paket aufzumachen, war spannend, weil ich den Stand am Umschlag geändert hatte und ich nicht wusste, ob jetzt alles korrekt war. Prima, ich hatte gut gemessen.

5) Das Plumpsklo meiner Kindheit befand sich in einem Schuppen am Ende des Hofes. Es war aus heutiger Sicht eine eklige Angelegenheit, ein Brett mit einen Loch und darunter der Haufen. Ich erinnere mich, dass ich einmal dort saß. Tags zuvor war mein selbstgebautes Segelflugmodell, Der kleine Uhu, am längsten am Himmel geblieben, und ich hatte eine Stoppuhr gewonnen. Sie hatte ein hellgrünes Plastikgehäuse. Ich saß also auf dem Plumpsklo, schaute durch die offene Tür in den Himmel und dachte: „Ich bin der glücklichste Mensch der Welt.“

Hölzerne Freundschaft und Ort der Freunde

Jedes Mal, wenn ich meine Tochter in Aachen besuche, höre ich erstaunliche Dinge. Im letzten Jahr berichtete mein Schwiegersohn (er ist Kameramann und Filmemacher), er habe einen Filmbeitrag über Neutral-Moresnet gemacht, ein wegen seiner Zinkvorkommen begehrtes Tortenstück zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden. Er hatte mit einem uralten Zeitzeugen gesprochen, dessen Mutter als Dienstmädchen nach Neutral-Moresnet gekommen war und ihn dort geboren hatte. Neutral-Moresnet war nämlich der Zufluchtsort für Dienstmädchen, die von ihrem Dienstherrn geschwängert worden waren. Dort konnten sie gebären, ohne der Schande anheim zu fallen. Die Kinder wurden in Neutral-Moresnet zur Adoption freigegeben. Das war unter den gegebenen Umständen sicher besser für das ungewollt schwanger gewordene Dienstmädchen als vom Dienstherrn erschlagen zu werden, wie es noch Ende des 19. Jahrhunderts im Aachener Wald geschehen war.

Sprachwissenschaftlich von Interesse ist Neutral-Moresnet, weil im Jahr 1909 der Chefarzt der dortigen Erzgrube und stellvertretende Bürgermeister, Wilhelm Molly, versuchte, in Neutral-Moresnet den ersten Esperanto-Staat der Welt auszurufen. Er sollte Amikejo (Esperanto „Ort der Freunde“) heißen.

In diesem Jahr erklärten mir Tochter und Schwiegersohn übereinstimmend, man könne jedes Jahr Hochzeitstag feiern. Ich kannte nur Silberne, Goldene und Eiserne Hochzeit, erinnere mich noch an die Goldene Hochzeit (50 Jahre) meiner Großeltern, als das Tambourcorps Amititia (lat. Freundschaft) vor dem Haus meiner Großeltern aufmarschierte und ein Ständchen spielte. Schwach habe ich vor Augen, dass meine Mutter zwischen den Musikern rundging mit einem braunen runden Tablett, worauf eine Kompanie artiger Schnapsgläschen glitzerte, und jedem ein Körnchen eingoss. Das würde man nicht jedes Jahr tun wollen, an den drei oben genannten Jubiläumstagen schon.

Zu der inflationären Ausweitung der Hochzeitstage ist es vermutlich gekommen, weil Ehen in heutiger Zeit zu vielen Anfechtungen ausgesetzt sind und eine kürzere Halbwertszeit haben, so dass dann schon eine Hölzerne Hochzeit (5 Jahre) feierwürdig erscheint. Die in der Liste angedrohte Knoblauchhochzeit (33 1/3 Jahre) wäre doch eigentlich ein Trennungsgrund, aber schon bei der Ledernen (3 Jahre) würden Veganer die Biege machen. Abbildung von hier:

Der Name „Amititia“ des Nettesheim-Butzheimer Tambourcorps und die Ähnlichkeit mit dem gelobten Land „Amikejo“ zeigt übrigens gut, dass sich der polnische Zahnarzt Ludwik Lejzer Zamenhof bei der Entwicklung seiner Plansprache Esperanto unter anderem am Lateinischen orientiert hat. Kürzlich sandte mir mein Jugendfreund Fritz die Amititia-Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des Tambourcorps. Nicht präsent ist die Zeit der 1960-er Jahre. An einem Freitagabend, ich war 12 Jahre alt, lag gemütlich auf dem Sofa und las, scheuchte meine Mutter mich hoch und zwang mich hinüber zur Schreinerei zu gehen, wo man neue Mitglieder im Trommeln einwies. Fritz und ein weiterer Freund waren auch da. Wir trommelten in der winterlich kalten Schreinerwerkstatt auf der Hobelbank. Als wir einigermaßen trommeln konnten, übten wir mit den Erwachsenen freitags an einem Trafohaus am Ortsausgang. Noch heute erstaunt mich die Lehrmethode ohne alle Notenkenntnis und Noten. Alles wurde mündlich und durch Anschauung vermittelt.

Später bekamen wir Uniformjacken, Koppeln und Trommeln. Meine war noch mit Ziegenfell bespannt. Ich weiß nicht, ob ich je eine der begehrte neuen Trommeln mit Plastikbespannung bekam, deren Klang härter und schärfer war als Ziegenfell, denn auch später als Jugendliche hatten wir nur einen geringen Rang im Tambourcorps. Noch später hatte sich meine vom Dorffriseur Toni Pesch so genannte „Caesarfrisur“ zur „Beatlesfrisur“ ausgewachsen. Als ich mal mit meiner Beatlesfrisur bei Pesche Tünn war, erfuhr ich von ihm, ein älteres Mitglied des Tambourcorps habe gesagt, ich würde bald rausfliegen, wenn ich mir die Haare nicht abschneiden ließe. Da wars für mich aus mit der Freundschaft. Ich habe Uniformjacke, Mütze, Koppel und Trommel gepackt und zum Vereinsvorsitzenden getragen. Seine Frau öffnete, und als ich sagte: „Ich trete aus!“, antwortete sie: „Aber warum denn? Das Tambourcorps ist doch so schön!“ So schaffte ich wegen zu langer Haare und weil ich mich nicht unterordnen wollte nicht mal die Hölzerne (5 Jahre). Immerhin hatte ich trommeln gelernt.

Im Netz entdeckt, einen Film des Monschauer Autors und Kabarettisten Hubert vom Venn (das ist nicht mein Schwiegersohn) über Neutral-Moresnet. Bei Sylvia Fabeck, der Frau im Interview, lässt sich schön hören, wie die Leute im deutschsprachigen Ostbelgien sprechen.

Erkensruhr

Vorgeschichte bedeutet „Vor der Geschichtsschreibung.“ Die Geschichtsschreibung der Menschheit beginnt etwa 2400 v. Chr. mit dem in babylonischer Keilschrift in Tontafeln überlieferten Gilgameschepos. Der Text hebt an mit der Klage, dass nun schon alles einmal erzählt worden ist, was darauf verweist, dass es vorher schon Literatur gegeben hat, die nicht überliefert ist. Wir leben im Jahr 2019 nach Christus. Demnach liegt der Beginn der Geschichtsschreibung etwa 5000 Jahre zurück. Noch anfang des 19. Jahrhunderts wurde das Alter der Welt auf etwa 6000 Jahre geschätzt, errechnet anhand des Alten Testaments. Jacob Grimm hat noch daran geglaubt. Eine kulturelles Menschheitszeugnis findet sich jedoch schon in den Höhlengemälden von Lascaux. Sie sind etwa 15.000 Jahre alt. Wir überschauen also nur einen winzigen Bereich der Menschheitsgeschichte.
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Mal den Antwerpes reinhalten – Nachlese der Tour-de-France-Berichterstattung bei der ARD

Das Substantiv lässt sich unterteilen in Name und Klassenbezeichnung. Namen haben keinen Artikel, weil sie beispielsweise Einzelpersonen bezeichnen, etwa einen Mann namens Florian und keine Klasse von Personen mit den gleichen Merkmalen. Mit einer solchen Klasse von Florians hatte ich aber drei Wochen zu tun, mit den Radsportreportern der ARD, Florian Nass und Florian Kurz, also umgekehrt Kurz und Nass. Ich schaute mir nämlich jeden Tag die Übertragungen der Tour de France an, der Bilder malerischer französischer Land- und Ortschaften wegen, in erster Linie aus Begeisterung für Radsport.

Die kam so: Ich war gerade mal zarte 15 Jahre alt, als die Tour de France in meine Heimat kam, weil sie in diesem Jahr in Köln gestartet war. Die Tourkarawane kam die B477 lang, und an der winzigen Welle zwischen Butzheim und Frixheim habe ich damals im Schatten der Alleebäume gestanden und gewartet. Schon da bestand der Tourtross aus vielen Fahrzeugen, deutschen Polizisten, französischen Gendarmen, Signalgebern und Fotoreportern auf Motorrädern, ungezählten Autos und Motorradgespannen mit Kommissären, die den korrekten Verlauf des Rennens überwachten, und anderen Offiziellen und so weiter und so weiter, alle hupend und auf Trillerpfeifen blasend und wieder ein Motorrad und noch ein Auto und mehr aufgeregtes Tuten und Flöten, das die Erwartung in ungeahnte Höhen steigert, ein Augenblick der Ruhe vor dem Sturm, die erschrockenen Vögel heben wieder an zu singen, und dann rauscht das Fahrerfeld heran, eine bunte Schar gebeugter Männer auf Rennmaschinen wischt vorbei und verschwindet, hast du nicht gesehen, aus dem Blickfeld.
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