Es war ein Sonntagmorgen auf dem Land. Theo und ich stiegen zu Fritz in seinen weißen VW-Käfer, den seine Eltern ihm zum Abitur geschenkt hatten. Fritz war in Wevelinghoven mit einem Feund aus dem Abiturjahrgang zum Frühschoppen verabredet. Auch Theo hatte das Abitur geschafft. Ich hatte die Freunde stets um ihre Schulbildung beneidet, denn ich hatte nach acht Jahren in einer dreiklassige Volksschule eine Lehre absolviert, konnte zwar bereits einen Gesellenbrief vorweisen, doch achtete ihn gering, weil das Umfeld meinen Handwerkerberuf geringschätzte. Besonders die höheren Töchter und Mädchen aus besserem Hause ließen mich spüren, dass ich ihnen nicht gut genug war.
Ein weitere Demütigung kam von unseren alten Lehrer der Volksschule. Wenn wir ihn zu dritt trafen, erkundigte er sich nur nach dem Fortkommen der Gymnasiasten, zeigte für meine berufliche Entwicklung kein Interesse. Aber es war nicht nur das geringe gesellschaftliche Ansehen. Ich wollte mich gerne bilden, las viel, wusste aber, dass mir vielerlei nicht zugänglich war. Fritz und Theo ertrugen stets geduldig, dass ich sie mit Fragen löcherte, mir von ihnen quasi eine gymnasiale Bildung aus zweiter Hand besorgte.
Gut 25 Jahre später bin ich bei einer Trainingstour von Aachen nach Zons am Rhein durch Wevelinghoven gerollt und erkannte die Kneipe wieder, indem ich das für mich wichtige Erlebnis hatte. Wir hatten die Dorfschänke an jenem Sonntagmorgen voller Wevelinghovener gefunden, ein unfassbares Stimmengewirr in den dichten Schwaden von Zigaretten- und Zigarrenrauch. Vermutlich hatten sich die meisten der gutgelaunten Zecher ihren Segen im Hochamt der Pfarrkirche geholt, waren aber nach der Wandlung stiekum abgehauen, wie es im Rheinland gute Tradition ist. An den Tischen saßen sie Skat dreschend, hieben, die Trümpfe ausspielend, ihre dicken Handballen auf die Holzplatten, dass die Schnapsgläschen hüpften und wieder in kleinen Lachen landeten. Wir bahnten uns den Weg zur Theke und fanden dort den Freund neben seinem stolzen Vater. Der vereinnahmte uns, rief sogleich eine Runde auf, und indem er uns zuprostete, rief er: „Jezz hät ihr et jeschafft!“
So töricht das auch war, denn das Abitur ist ja nur die kleinste Hürde auf dem Weg in ein erfolgreiches Leben, dieses „Jetzt habt ihr es geschafft!“ traf mich ins Mark. Ich hatte es überhaupt noch nicht geschafft, und dachte, ich hätte mir eine Ehre ergaunert, allein durch Anwesenheit in einer Runde, zu der ich nicht gehörte. Auf dem Land der späten 1960-er Jahre schafften nur wenige das Abitur, bekamen damit einen Ritterschlag, der sie in die besseren Kreise aufnahm. Auf welche Weise ich es einmal schaffen würde, zeichnete sich in der Wevelinghovener Dorfschenke noch nicht ab. Es lag jenseits meines beschränkten Horizonts. Aber dieser angetrunkene Vater eines Abiturienten hat mir den letzten Impuls gegeben, nach einer Möglichkeit auszuschauen und einen Weg zu finden.