Hauptsache händisch heißt ein Aufruf von Blogfreundin Tikerscherk, illustriert mit einem handschriftlichen Blogtext. Inzwischen haben sich einige Bloggerinnen und Blogger handschriftlich beteiligt. Ich will etwas zur Theorie der Handschrift beitragen.
Niemand wird den Wert einer flüssigen und schönen Handschrift bestreiten. Und vermutlich weiß jeder, der schreiben kann, anzugeben, welche Bedeutung die Handschrift noch für ihn hat. Gerne wird das Besondere des handschriftlichen Briefes betont. Mancher hat kalligraphische Meisterleistungen vor Augen, den schönen Brief, die Notiz in einem Moleskinbüchlein oder den kunstvollen Eintrag im Poesiealbum. Doch das Hochwertige, das wir gefühlsmäßig mit der Handschrift verbinden, ist ein Blick in die Vergangenheit, in die Zeit vor Computer und Internet. Und vor allem, es ist privat.
Privat wurde die Handschrift allerdings schon vor über hundert Jahren, als die Schreibmaschine ihre bisherigen Aufgaben übernahm. Bis dahin war sie Speicher- und Kommunikationsmedium der Verwaltungen gewesen und stand in Konkurrenz zum Buchdruck. Diese Konkurrenz hatte auch die uns bekannte Form der Handschrift geprägt. Sie enthält seit dem Barock die Übertreibungen kalligraphischer Elemente wie Schleifen und Girlanden, mit denen sie sich deutlich von den Buchdrucklettern unterscheiden sollte. Vorher hatten die Buchdrucker mit ihren Lettern die Handschrift nachgeahmt, möglichst genau und schön, denn ihre Drucke sollten wie Handschriften aussehen, damit sie akzeptiert wurden.
Der Buchdruck hat der Handschrift noch mehr aufgeladen. Von handschriftlichen Büchern konnte niemand erwarten, dass sie fehlerfrei wären. Im Gegenteil: Mittelalterliche Texte sind voller Fehler, weil Fehler nur schwer zu korrigieren waren. Man war daran gewöhnt, dass ein abgeschriebenes Buch sich von der Vorlage unterschied. Die Idee des Fehlers im heutigen Sinne, wo sogar ein Schreibfehler im Bewerbungsschreiben zum Scheitern einer Bewerbung führen kann, eine solche Unerbittlichkeit gegenüber dem Schreibfehler kannte man im Mittelalter nicht. Es hat sogar analphabetische Kopisten gegeben, die den gesamten Text der Bücher abmalten, ohne Sinn und Verstand, wodurch sich viele Schreibfehler erklären. Und wenn eine Buchseite gar komplett in Holz geschnitten worden war wie bei den mittelalterlichen Blockbüchern, blieb eine Korrektur naturgemäß aus. Erst der Buchdrucker entwickelte den handwerklichen Ehrgeiz nach Korrektheit der Schriften. Denn er machte es möglich, einen Fehler in der fertigen Buchseite spurlos zu korrigieren, indem er die fraglichen Buchstaben austauschte.
Im Zuge dieser technischen Entwicklung wurde der Handschrift der Anspruch auf orthographische Richtigkeit aufgeladen. Schreibfehler wurden zum Makel, an dem sich später Schulnoten oder persönliche Abwertung orientierten. Darunter leidet auch die Realität der Handschrift in der Gegenwart. Ihre Zukunft ist düster. Diese Kulturtechnik wird sich noch weiter in den privaten Lebensbereich zurückziehen. Schon jetzt geraten handschriftliche Äußerungen kaum noch in die Öffentlichkeit. Ein Kollege kündigte mir einmal an, er werde mir aus dem Urlaub schreiben und fügte hinzu: „Aber nicht mit der Hand. Du bist Graphologe!“
Nichts ist weniger wahr. Weil ich mich intensiv mit Handschrift beschäftigt habe, lehne ich die Graphologie ab, denn sie ist ein missbräuchliches Werkzeug der Schnüffelei. Ich bestreite nicht ihre Nützlichkeit in der forensischen Kriminaltechnik, aber im privaten und beruflichen Alltag hat sie nichts verloren. Populäre Zeitungsartikel oder Buchtitel wie „Handschrift, der Spiegel unserer Seele“ oder „Was Ihre Handschrift über Sie verrät“ faszinieren und erschrecken zugleich. Man fürchtet, von der Graphologie bei einem peinlichen Defizit ertappt zu werden, von dem man selbst noch gar nichts wusste, als würde man in einem Alptraum in einer hintenrum beschmutzten Unterhose über die Straße laufen, und alle würden drauf zeigen und lachen. Weil jeder Mensch gewisse Abgründe in sich kennt oder ahnt, ist es fatal befürchten zu müssen, dass die eigene Handschrift einen Schlüssel für diesen Keller bereitstellt.
Trotz dieser Gefahr lieben wir an der Handschrift das Persönliche. Im handschriftlichen Brief ist der Schreibende fast körperlich noch anwesend. Wer sich hinsetzt und mit der Hand schreibt, hat mit der aktuellen Form seiner Schrift sogleich auch die eigene Gefühlslage vor Augen. Ähnlich ahnen wir die Gefühlslage dessen, der uns mit der Hand geschrieben hat. Diese Ahnung reicht. Wir lassen einen persönlichen Brief nicht graphologisch untersuchen, wie wir einem geliebten Menschen in der Regel keinen Privatdetektiv hinterher schicken. Im pfleglichen Miteinander gehört es sich auch nicht, die Taschen des anderen zu untersuchen oder ihn zu stalken.
Ausgelöst durch neue didaktische Überlegungen ist die Handschrift in die öffentliche Aufmerksamkeit geraten. Lehrer beklagen, dass Handschriften immer schlechter würden, die aufgescheuchte Presse startet hilflose Versuche, die Bedeutung der Handschrift aufzuwerten, indem sie Zeitungen (Bildzeitung, Titelseite vom 27. Juni 2012 – größer: Bitte klicken) oder Magazine (Magazin des Kölner Stadtanzeigers vom 18./19.April 2015) in Handschrift erscheinen lässt. Diese Versuche zeigen eines: Die Handschrift lässt sich zwar fototechnisch an moderne Verbreitungsmedien anpassen, aber ist für heutige Lesegewohnheiten zu sperrig. Zudem zeigt die handschriftliche Ausgabe der BILD, dass Bildredakteure passend zum Charakter hässliche Handschriften haben. Um das zu erkennen brauchen wir keine Graphologen, denn wir wissen, welch moralisch verkommenes Pack in der Bildredaktion sitzt. Wenn Bild handschriftlich schreit: “Alarm! Handschrift stirbt aus!”, möchte man angesichts der kakographischen Katastrophe fast sagen: “Zum Glück!”
Als Deutschlehrer habe ich einen Heftstapel korrigiert, der höher als mein Haus war, wie ich damals in meinem Arbeitszimmer unterm Dach ausgerechnet habe. Bei den Korrekturen sind mir natürlich tausende Handschriften begegnet. Obwohl ich mich immer um Objektivität bemüht habe, kann ich nicht verhehlen, dass schon der erste Anblick eines Textes mein Urteil zu beeinflussen drohte. Satirisch habe ich diesen Umstand hier versucht zu fassen (Erstveröffentlichung im Jahrbuch meiner Schule). Es gibt schöne und weniger schöne Menschen. Schöne Menschen haben es im Leben leichter. Ebenso gibt es schöne und hässliche Handschriften. Natürlich liest man eine schöne Handschrift lieber und folgt ihren Spuren inhaltlich bereitwilliger. Aber der äußere Eindruck kann täuschen. Und so zwang ich mich, auch hässliche Handschriften aufmerksam zu lesen.
Der heutige, zweilen desolate Zustand unserer Handschriften hängt eng mit den erlernten Ausgangsschriften zusammen. Wenn diese Erstschriften mit ihren verzerrten Formen also geeignet sind, regelrechte Sauklauen hervorzubringen, sollten wir die Erstschriften ersetzen durch ein klares Alphabet. Trotzdem wird sich die kalligraphische Frage nicht erledigen, denn wenn unsere Gesellschaft schöne Handschriften will, muss sie dafür sorgen, dass im Unterricht viel Zeit darauf verwandt wird. Wie mir jüngst Marion Wolff von der Deutschen Welle schrieb:
„Ansonsten ist es mit dem Schönschreiben wohl genauso wie mit dem Klavierspielen – Fingerfertigkeit erreicht man vor allem durch üben, üben, üben.“
Weil sich die Unterichtsinhalte unserer Schulen aber immer an den Erfordernissen der Wirtschaft orientieren, werden wir den Niedergang der Handschrift nicht verhindern können. Das öffentliche Gejammer ist scheinheilig. Ästhetische Werte sind wohlfeil. Wir erleben ja gerade eine kulturelle Revolution, ausgelöst durch die digitalen Medien. Handwerkliche Fähigkeiten werden in der Massenproduktion von Kulturgütern nicht mehr gebraucht. So ist es logisch, dass die Handschrift ihre Bedeutung verliert und letztlich nur in elitären Nischen weiter bestehen wird.
Danke, dass Du die Handschrift auch in ihrer geschichtlichen Bdeutung und Wandlung beleuchtet hast. Ich muss zugeben, dass ich selbst seit Jahren keinen langen Brief mehr geschrieben habe. Sogar Einkaufszettel tippe ich in mein Telefon.
Als ich den Text für´s Blog schrieb bemerkte ich, wie eingerostet meine handschrift ist. Ungelenk und inzwischen sehr steif. Früher war das anders und ich nehem diese Blogparade zum Anlass wieder zu schreiben.
Ich finde übrigens nicht, dass Du Anlass hast mit Deiner Schrift unzufrieden zu sein. Mir gefällt sie.
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Ich begrüße dein Projekt und unterstütze es gern. Vom Einkaufszettel habe ich gedacht, dass er ein Rückzugsgebiet der Handschrift wäre, aber du teilst mir das Gegenteil mit. Habs auch schon bei einem Mitglied unserer Hack-Gruppe gesehen, der auch Memos anderer Art eintippt.
Freut mich, dass dir meine Handschrift gefällt. Bei mir zeigt sich die mangelnde Übung dramatisch. Ich bin immer versucht, schneller zu schreiben als meinem Handgeschick angemessen, wodurch die Buchstaben verkommen. Da kommt die Unzufriedenheit her.
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Mir gehte s ebenso. Die mangelnde Übung macht eine unausgewogene Handschrift (früher hatte ich eine vielgelobte schöne Schrift) und das frustriert mich dann so, dass ich es ganz lasse. Das ist ein Fehler- Übung/ Meister- und so werde ich mich gleich heute daran machen das zu ändern.
Jetzt wird wieder per Hand geschrieben und nicht nur elektronisch.
Danke für Deine Unterstützung bei dem Projekt!
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Es war aber – zumindest bei mir und wohl auch bei vielen anderen – das Studium, das die Handschrift ruiniert hat. Nicht durch zu wenig Übung, sondern durch den permanenten Zwang, von Seminar zu Seminar eilende, immer zu schreiben und zu notieren, ohne Rücksicht auf ein Schriftbild, abzukürzen, wegzulassen und dann gelangweilt den Rest auch noch zu übermalen.
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Meine Handschrift war schon vorher hässlich, weshalb ich später viel geübt habe, weil ich sie meinen Schülern nicht zumuten wollte. Aber du hast Recht: Der Zwang zum schnellen Schreiben verformt die Handschrift. Bei mir kommt jetzt im Alter die Ungeduld dazu.
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Meine Handschrift ist eine Katastrophe, sie war vor dem Studium schlecht, danach schlechter. An der Tafel gebe ich mir Mühe, bitte auch um Ordnungsrufe, aber viel zu retten ist da nicht.
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Wohl wahr, insbesondere der letzte Absatz. Allein schon das Projekt von Frau Tikerscherk zeigt, dass die Handschrift mit dem aktuellen Leben schwer vereinbar ist: Seh ich mir die bisherigen Beiträge zum Beispiel auf dem (mehr oder weniger) smarten Telefon an, dann erkenne ich, dass ich nichts erkenne. Man kann schlichtweg nichts lesen.
Wie viele Jahre, Jahrzehnte wird Handschrift an Schulen noch gelehrt werden?
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Daran, dass Handschrift für den kleinen Bildschirm des Smartphones ungeeignet ist, hatte ich gar nicht gedacht. Vielen Dank für den Hinweis. Es wurde ja jetzt schon fälschlich von der Abschaffung der Handschrift geschrieben, obwohl der Grundschulverband nur die verbundene Ausgangsschrift abschaffen will, wie es ähnlich in skandinavischen Ländern und der Schweiz schon gemacht wurde.
Diese Anpassung ist nötig, damit Handschrift eben nicht verschwindet.
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Lieber Wortmischer,
Sie wissen, Sie sind mir sehr sympathisch. Aber in diesem Fall erlauben Sie mir bitte eine Kritik.
Ich betrachte es doch ein klein wenig als Missachtung der Schöpfungshöhe, Blogbeiträge und Kommentare von den hier versammelten Damen und Herren, so „nebenbei“ auf einem Smartphone lesen zu wollen. Wenn Sie sich nicht die Zeit und Ruhe nehmen können, auf Tablets ab 10 Zoll oder dem heimischen Bildschirm diese Perlen der Textkunst zu genießen, dann rennen Sie bitte nur auf dem Smartphone lesend, mit gesenktem Haupt durch die Gegend, wenn Sie eine Navi-App oder das Regenradar auf dem Display haben. Bei einem Zusammenstoß mit anderen Smartphonebenutzern sollte nicht einer dieser Blogbeiträge „Schuld“ sein!
Gruß Heinrich
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ups, wieder was vergessen 😉

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Ach, es ist eine Krux mit den Smartphones. Aber seit dem Kleider-Projekt zirpt dieses Ding alle paar Minuten mit neuen Kommentaren an allen möglichen Ecken und Enden dieses Internetzes. Und dann geh ich halt dorthin und sehe nach, wenn ich gerade untätig herumsitze oder – wie Sie auch – gerade ein Gulasch koche. Merkwürdig, wie sich solche Parallelen ergeben. Das Gulasch ess ich übrigens morgen mit der Tochter 3.0, die heut schon schnuppernd das Näschen gehoben hat, aber eben noch warten muss.
Aber was wollt ich sagen? … Ach ja: Gern les ich ja nicht auf Smartphones. Aber immer noch besser als gar nicht zu lesen 😉
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Wie schwer es ist, mehr als drei Sätze, fehlerfrei zu schreiben, habe ich heute morgen bemerkt. Auf die Idee, jemand könne von meiner Handschrift Rückschlüsse auf meine Persönlichkeit ziehen, bin ich gar nicht gekommen. Ich bin froh, dass zumindest du, lieber Jules, es nicht machen wirst. Es erscheint mir reichlich albern und wäre mir unangenehm.
Bei der BILD ist es nicht nötig. Da reicht es den Inhalt zu überfliegen um zu wissen, dass man sich mit den Autoren nicht näher beschäftigen möchte.
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Interessant, dass selbst eine geübte Schreiberin wie du schon Probleme damit hat. Ich hätte auch nicht gedacht, dass mir Handschreiben so rasch fremd werden würde.
Die Graphologie habe ich gefressen, besonders wenn sie sich in den Dienst von Unternehmen stellt, die sie im Bewerbungsverfahren einsetzen. Witziger Weise, hat die Schweizer Online-Zeitschrift „Graphologie News“ meine Kulurgeschichte der Handschrift veröffentlicht http://graphologie-news.net/cms/upload/archiv/Kulturgeschichte_Handschrift.pdf, obwohl ich mich darin sehr negativ über Graphologie und ihre schändliche Rolle im 3. Reich äußere.
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Einzelne Sätze oder das eines der Bilder (im Zusammenhang mit dem Ärmelhalter) kannte ich aus Texten oder Kommentaren von dir. Nun endlich, hatte ich Gelegenheit die „Kulturgeschichte der Handschrift“ einmal ganz zu lesen. Vielen Dank für den interessanten Text, der mich zurück in meine Schulzeit versetzte. Wie sehr sich die gelehrte Schrift in der Grundschule verändert hat, merkte ich, als ich erstmals die Schreibversuche meines Neffen vor mir hatte.
Am flüssigen Schreiben hapert es nicht bei mir. Es geht mir leicht von der Hand. Der Druck es fehlerfrei hinzubekommen und das Wissen, nicht korrigieren zu können, stellt mich aber vor eine echte Herausforderung. Wahrscheinlich auch, weil ein Brief nicht zwingend einen so schlüssigen Anfang und ein passendes Ende haben muss, wie eine Geschichte die andere unterhalten soll.
Die Rolle der Graphologie im 3. Reich war mir neu. Verwundern sollte diese weiter Abscheulichkeit wahrscheinlich nicht.
Liebe Grüße
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Das graphologische Element war dann wohl auch der Hintergrund für Tikerscherks Idee des händischen. Sie wollte endlich einmal erfahren, mit wem sie es auf ihrem Blog zu tun hat. Listig, listig!
Da ist aber auch noch etwas anderes, wenigstens in meiner etwas romantischen Vorstellung eines handschriftlichen Briefes. Es ist die Vorstellung einer geistigen Aufgeräumtheit, einer Ordnung von Ratio und Gefühl, die man braucht wenn man nicht streichen kann. Denn man streicht nicht; man kann Rechtschreibfehler machen, aber keine Kladde abliefern (woher kommt dieses Wort eigentlich?)
Wenn etwas verloren geht – sollte die Handschrift eines Tages aus dem täglichen Umgang endgültig verschwinden -, so ist das vielleicht genau diese Fähigkeit: Nicht nur einen Satz, sondern komplexe Gedanken zu formulieren. In einem Stück, ohne die Möglichkeit, die Versuchung, jeden Buchstaben nachträglich ändern zu können. Oder ohne die finale Todsünde von Copy&Paste.
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Danke, dass du einen Aspekt auf den Punkt bringst, den ich oben versäumt habe anzuführen. Was du schreibst legt nah, dass es durch Schreiben mit Computer zu einer Kurzatmigkeit des Denkens kommt, weil wir darauf verzichten, ein Problem gedanklich zu durchdringen, bevor wir lossschreiben, so dass selten vorauszusehen ist, wohin ein Text sich entwickelt.
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Da denke ich aber auch an die endlosen Exzerpte, an ausgeschnittene und geklebte Textstreifen, später dann mit der Schreibmaschine zusammengeschusterte Texte, vorher mühsam mit farbigen Stiften bearbeitet, um nicht immer und immer wieder abschreiben zu müssen, verlorene Lebenszeit.
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Oft denke ich daran, wieviel schwieriger es in vergangenen Zeiten war, ein wissenschaftliches Werk zu verfassen. Und trotzdem wurde es gemacht. Jacob Grimm hat sich beispielsweise von seinem Verleger vertraglich zusichern lassen, einen Druck der Lagen seines Deutschen Wörterbuchs mit breitem Rand zu bekommen, damit er Platz genug für Nachträge hatte, Nachträge, von denen er wusste, dass er ihre Einarbeitung in eine neue Druckauflage nie erleben würde. Wie ungeduldig sind hingegen wir und verzichten weitgehend auf die Kulturtechnik Handschrift, obwohl sie das Fundament unserer Geistesgeschichte bildete.
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Aber eine hässliche, gar unleserliche Handschrift ist ja kein Schicksal wie ein hässliches Äußeres, sondern eine Ungebührlichkeit gegenüber dem Leser, und ein Ärgernis für diesen. Ich hab schon mal ein von einem mir lieben Menschen an mich gerichtetes zuneigungsvolles, aber schluderig zu Papier gebrachtes Schreiben ungelesen gelassen und auf Nachfrage brüsk mitgeteilt: »Kanns nicht lesen.« – und diesen damit garstig verkränkt.
Ein guter Text in schlampiger Handschrift ist wie ein schönes Mädchen mit einem ungewaschenen Hals, hat einmal wer gesagt.
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Dem stimme ich uneingeschränkt zu, weil mir mein eigenes Beispiel vor Augen ist. Wenn ich als junger Lehrer meine Tafelanschriebe sah, habe ich mich geschämt vor meinen Schülern. Ähnlich bei meinen Korrekturvermerken in Klassenarbeitsheften. Ich habe dann verschiedene Ausgangschriften geübt wie ein Erstklässler, bis ich mit der Isländischen Ausgangsschrift zu meiner heutigen Verkehrsschrift kam. Es geht aber alles nicht ohne Übung.
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…es wird sich mit der Handschrift verhalten wie mit dem Stricken oder Brotbacken, einige werden sie aus Freude am Schreiben erhalten und eine Art Hobby daraus machen, so wird sie zur Kunst erhoben, vielleicht und nicht vergessen werden…
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So siehts aus, aber dass in der Schule noch vieles mit der Hand geschrieben wird, verhindert den Wandel der Handschrift zum Hobby oder zur Geheimwissenschaft. Ich habe junge Menschen immer als interessiert an Handschrift erlebt, beispielsweise, wenn ich einen Lehrgang in Kurrent (den meisten als Sütterlin bekannt) angeboten habe.
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…die Entwicklung geht weiter, ich sah eine Dokumentation…leider vergaß ich aus welchem Land, wo die Kinder in der Schule auf dem Tablet tippen lernten und gar nicht mehr mit der Hand schrieben…
…ich denke, jedes Handwerk hat seinen Reiz, weil es den Kontakt mit dem Material beinhaltet, was heute mehr und mehr verlorengeht, daher wundert mich nicht das Interesse an einer schönen oder alten Handschrift…sie ist eben selbst gemacht und trägt individuelle Züge…
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Es wird sicher Finnland gewesen sein. Da hat die Unterichtsministerin verkündet, dass es wichtiger wäre, wenn die Kinder beizeiten tippen lernen. Und weil Finnland bei den PISA-Studien immer gut abgeschnitten hat, ist unsere Pisa-besoffene Presse gleich darauf angesprungen und hat den Untergang der Handschrift beschworen.
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…hier gibt es einen Artikel aus dem hervorgeht, dass derartige Versuche in Schweden, aber auch in England gemacht wurden: http://blog.doebe.li/Blog/MitTabletsLesenUndSchreibenLernen….
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Dankeschön für den Hinweis, ein sehr interessanter Text. Ich habe ihn mit Gewinn gelesen.
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Sehr schön etwas über die Hintergründe zu erfahren, lieber Jules. Nun, ich habe bei Tikerschek auch geunkt „sage mir, wie du schreibst, und ich sage dir, wer du bist“, aber natürlich war dies spaßig gemeint. Grundsätzlich schätze ich Handschriftliches als persönlicher. Es kostet eben mehr Zeit und Aufmerksamkeit. Auch Mühe. Lieben Menschen schreibe ich handschriftlich und achte darauf, dass das Schriftbild schön und leserlich ist. Meine Notizen sind eine Aneinanderreihung von Krakeleien.
Hier in meiner Mini-Bibliothek habe ich einige alte, handschriftliche Bücher. U.a. Pucki – des Försters Töchterlein (?! ja, wirklich), auch eine sehr alte Bibel und ein älteres Geschichtsbuch von 18Pief. Einfach, weil sie so schön sind. Die kryptischen Buchstaben transportieren für mich stets so eine verstaubte Magie. Am besten, wenn das Papier vergilbt und der Titel auf dem Lederumschlag kaum mehr lesbar. Dann kann man über die Linien fahren und erahnen, wievielen Menschen das Geschriebene schon Träume bescherte.. 😉
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Deine Bemerkung im Kommentar hatte ich auch so verstanden, liebe Nana. Ich glaube, dass der Eindruck täuscht, den dein Bekenntnis zur Handschrift sowie die in anderen Kommentaren hier oder bei Tikerscherk erwecken. Vielmehr ist wahrscheinlich bei vielen erwachsenen Schreibern Realität, was Heinrich bekennt, nämlich keine Handschrift mehr zu haben. Es ist wie mit allen Fertigkeiten: Was nicht regelmäßig geübt wird, geht verloren.
Die alten Bücher deiner Hausbibliothek sind sicher in Fraktur gedruckt, oder? Die Kenntnis dieser Schrifttype ist auch im Schwinden. Nachfolgenden Generationen werden Bücher in Fraktur nichts mehr sagen und ihnen das von dir angedeutete Geraune um ihre Magie verstärken.
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Du hast natürlich vollkommen Recht, wenn du die private Bedeutung der Handschrift betonst. Die Handschriften meiner Frau oder meiner Töchter und einiger weniger Menschen haben wir mich einen emotionalen Wert, die ersten Versuche, frühe Aufsätze, auch eigene, können schon melancholisch stimmen, das würde ein Ausdruck nicht schaffen. In diesem Bereich ist es ein Verlust, wenn wir nicht mehr schön schreiben können – aber einer, den kaum noch einer bemerken wird, so, wie wir eben auch nicht mehr wissen, wie selbst gebackenes Brot schmeckt, das aus einem Backhaus kommt, oder wie es ist, keinen Zahnarzt zu haben.
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