Frau Lochmanns Jacke

rübenfeldWenn die Sonne hoch steht und das Land grell bescheint, setzt der Junge sich gern in den Schatten des Anhängers und wartet auf Züge. Es kommen nicht viele vorbei, und wann sie kommen, weiß niemand. Das Ereignis kündigt sich an, wenn das Vorsignal seinen Signalteller in die Waagerechte legt. Das scharrt, und dann springt der Kleine auf, bahnt sich einen Weg durch Holunderbüsche und Brombeerranken und setzt sich in die Böschung des Hohlwegs. Er kann ein gutes Stück der Strecke überblicken, bevor sie sich krümmt und aus seinem Blick verschwindet. Doch die Dampflok sieht er schon von weiter her, an den runden weißen Wolken, die über der Strecke aufquellen. Die Schienen unten künden als letzte das Nahen des Zuges an. Sie beginnen leise zu sirren, als wären sie in Hitze geraten. Donnern, Fauchen, Stampfen, Zischen, Rattern, Rattern, Rattern; hei, was für eine wilde Musik von Dampf und Eisen! Der Kleine springt auf, schwenkt sein Taschentuch, winkt in den Führerstand der Lok hinein, dem schwarzgesichtigen Heizer zu. Manch einer lächelt und lehnt mal kurz seinen Kopf aus dem kleinen Fenster. Dann die Waggons, einer nach dem anderen, und wie schön, wenn sich hinter den Fenstern eine Hand für ihn rührt. Wenn Güterzüge kommen, muss er Anhänger zählen. 80, 81, 82, 83, 83, – 94, 97, verzählt. Jetzt wird er in seinem ganzen Leben niemals mehr die richtige Zahl erfahren.

Gerne spielt er auch an kleinen Pfützen in der Karrenspur. Er gräbt einen Kanal und lässt die obere Pfütze leer laufen. Dann werden die Wasserflöhe von oben heimatlos. Das ist leider so.

Da taucht oben am Knipp seine Mutter aus dem Acker auf. Dauert es eine ganze Stunde bis sie bei ihm ist? Sie ist so langsam auf den Knien.

„Ach, hol doch mal die Jacke von Frau Lochmann und bring sie ihr!“

Frau Lochmanns Jacke ist blau. Er greift sie sich vom Kleiderhaufen und rennt los.
Zu seinen Füßen haben breite Knie eine staubige Spur hinterlassen, wo die Frauen durch die Reihen der jungen Rübenpflanzen gerutscht sind, um sie mit der Handhacke zu einzeln. In den Spuren welken die entwurzelten Pflänzchen. Es geht leicht bergan, dann wieder bergab. Ganz hinten am anderen Ende kriecht Frau Lochmann. Er läuft hin und gibt ihr die Jacke.
„Du bist aber ein lieber Junge!“, sagt sie und streift die Jacke über.

Es gefällt ihm hier. An diesem Ende des Rübenfelds war er noch nicht. Am Rain bricht er einen Holunderstock ab. Man kann mit einem Messer feine Muster in die Rinde schneiden. Das hat er bei seinem älteren Bruder schon gesehen. Er versucht es mit einem scharfen Stein, doch es gelingt nicht gut. Lieber macht er den Stock ganz blank. Wie er dort sitzt, fließt die Zeit vorbei, und erst spät erinnert er sich an seine Mutter. Auch Frau Lochmann ist nicht mehr zu sehen. Er rennt los. Hinter dem Knipp überholt er sie. Die anderen sitzen schon am Anhänger und kauen dicke Stullen aus Weißbrot, das die Bäuerin selber backt. Dazu gibt es Malzkaffee mit viel Milch aus der großen Töte. Den gießt die Bäuerin jedem ein, der seine blecherne Tasse hinhält.
„Wo warst du denn so lange?!“, fragt seine Mutter.
„Och, da hinten.“
„Wo da hinten?“
„Da hinten bei der Frau Arschloch!“

Der Knecht prustet in seine Tasse, und die Frauen juchzen auf.
„Bei der Frau Arschloch!“, wiederholen sie lachend,
„Da Hinten!“, ruft der Knecht und will sich schier nicht einkriegen vor Lachen. Dann müssen sie die Hände vor den Mund halten, denn Frau Lochmann hat sich gerade erhoben, klopft den Staub aus den Knieschonern und kommt heran.

Der Kleine guckt erstaunt. Was haben die denn? Da ist sie doch, – da, die Frau!
Meist zieht der Nachmittag sich lang. Die Frauen knien wie versteinert im Feld, über ihnen steigen die Lerchen auf, stehen fast still in der Luft und singen ihr eintöniges Tirili, das Wasser in den Pfützen ist schon hin und her geleitet, und ein Zug ist auch nicht in Sicht. Es kommt nie einer, wenn man sich danach sehnt. Da lernt er schon ein bisschen, dass die Zeit aufgehalten wird, wenn man sich sehnt. Und das macht einsam.

Wenn die Sonne endlich in die westliche Wolkenbank taucht, dann kommt der Bauer mit seinem Traktor gefahren. Er misst die Tagesleistung mit seinen Blicken aus, und dann ruft er die Frauen zum Gespann. Staubige Gestalten erheben sich aus dem Feld und kommen müde herüber. Ein Rest Kaffee ist noch da. Was nicht getrunken wird, kippen sie an den Wegesrand. Sie beladen den Wagen, die Frauen packen sich dazu, den Kleinen nehmen sie auch mit; die Rückfahrt beginnt. Nun wird allen der Weg ziemlich lang. Über den Wagen streicht ein kühler Wind, dem keine mehr viel entgegensetzen kann. Sie halten ihre Strickjacken vorne zusammen. Und der Kleine kauert sich zwischen die Strohballen. Zu Hause tut die Mutter Seife auf den Waschlappen und wäscht ihm die verdreckten Beine. Eine Welle von kleinen Stichen zieht über seine Haut, wo die Seife in die unzähligen winzigen Risse geht, die von den Strohhalmen kommen.

Dies ist ein Beitrag zum Schreib-mit-Projekt des Kollegen Wortmischer
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