Die zehnte Frittenbude

Im Traum erzählte ich einer sibyllinischen Frau von einem Traum und fand, während ich erzählte, dass im Traum geträumte Träume leider ziemlich simpel sind. Ich erzählte diesen: Auf Befehl höherer Wesen musste ich neun Imbusbuden in drei Reihen hintereinander aufstellen. Ich ordnete sie zu drei mal drei Buden eng beieinander und fand’s perfekt. Aber zuletzt war da noch eine zehnte Bude. Sie gehörte einem Türken namens Metin. Da beließ ich es bei der symmetrischen Anordnung, doch rückte die neun Buden so eng hintereinander, dass Metins Bude allein in die vordere Reihe passte. Sie störte die Symmetrie, aber zumindest Metin war zufrieden.

Beim Aufwachen erinnerte ich mich an einen Text über Imbissbuden in niederländischer Sprache. Bernd K., ein mit mir befreundeter Niederländischlehrer hatte ihn kopiert, um ihn im Unterricht zu behandeln. Der Text über Imbissbuden ist eigentlich eine Fotoreportage aus den 1970-er Jahren. Eine Familie, Vater, Mutter, zwei Kinder, fährt aus dem Urlaub mit dem Auto durch Nordfrankreich und Belgien zurück in die Niederlande. Die Kinder sehen eine Imbissbude am Straßenrand und rufen: „Pap, pap, laten we stoppen en frietjes kopen bij de Mijnheer!“ [Papa, Papa, lass uns anhalten und bei dem Mann Fritten kaufen!] Der Vater wirft einen prüfenden Blick auf die Imbissbude und findet: „Kinderen, dit is geen schone mijnheer. We kopen liever bij iemand anders.“ [Kinder, das ist kein sauberer Mann. Wir kaufen lieber bei einem anderen.] Wir sehen das Schwarzweißfoto eines zur Imbissbude umgewidmeten, ziemlich schmuddeligen Wohnwagens und schließen uns dem Votum des Vaters an, denn das macht einen guten Vater aus, dass er seine Kinder vor den Gefahren des Lebens schützt.

Es dauert nicht lange, bis die Kinder durch ein weiteres Schild „Friture“ verlockt werden. Sie rufen etwa: „Maar dit is zeker een schone mijnheer! We willen zijn frietjes!“ [Aber das ist ganz gewiss ein sauberer Mijnheer! Wir wollen seine Fritten!] Im grauen Himmel über diesem Wohnwagen scheinen Wolken zu wabern und ballen sich warnend zu Wörtern wie Pekig, Schmuddelig, Salmonellen, Durchfall, so dass der fürsorgliche Vater rasch das Gaspedal durchtritt. Die nächste Imbissbude ist von Harpyien, Kobolden und anderen Fabelwesen umschwärmt. Manche lehnen vorneübergebeugt an den Wohnwagenecken und kotzen, manche rufen warnende Worte. Es ist ein Elend. Inzwischen sorgt sich die Mutter um ihre hungrigen Kinder. Sie sitzen, ja hängen mehr, enttäuscht und entkräftet in ihren Sitzen. Der Vater, von Grausen geschüttelt, braust mit seiner Familie an zehn solcher Imbissbuden vorbei und hofft, dass die Kinder noch durchhalten.

Er muss freilich jedes Mal angehalten haben, um ein Foto zu schießen. Drum ist die Fotoreihe schäbiger Imbissbuden vielleicht eher entstanden, und er hat die Durchreise mit Kindern erfunden. Niederländer reden und schreiben gerne schlecht über ihre Nachbarn.

Ich habe übrigens nicht geträumt, wie der Traumbericht in meinem Traum bei der sibyllinischen Frau angekommen ist. Bevor ich aufwachte, sah ich sie noch lächeln.

Helen – Eine Kriminalkurzgeschichte in zwei Folgen (1)

In meiner Idealwelt lebe ich vergnügt dahin, freue mich, gesund zu sein, bin quasi alterslos, aber reich an Erfahrung, sammle hier faszinierendes Wissen auf, dort ein hübsches Erlebnis, lese und schreibe wozu ich Lust habe, genieße das Leben und lasse alle Tage den lieben Gott einen guten Mann sein. Manchmal sogar stimmen meine Idealwelt und die reale Welt völlig überein. So am letzten Freitag. Die Sonne schien, die Temperaturen waren fast frühlingshaft, da beschloss ich, unsere Bibliothek zu betreten, um einen Artikel im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm nachzuschlagen. Im DW zu stöbern, die in Leder gebundenen Bände aus dem Regal zu ziehen, auf den Lesetisch zu wuchten und aufzuschlagen, man kann sich nichts Harmloseres vorstellen. Das Unheil begann kaum merklich damit, dass ich die Bände des Deutschen Wörterbuchs nicht fand. Ich irrte durch die Lexikon-Abteilung der Bibliothek, wo es letztens noch gestanden hatte. 32 Bände über mehrere Regalmeter können schließlich nicht so einfach verschwinden. Doch indem ich das Wörterbuch nicht fand, spalteten sich Idealwelt und Realwelt auf. Ich stürzte kopfüber in ein Abenteuer, das mich wegen Mordes ins Gefängnis brachte.
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Der Spiegelmacher

Der Goldschmied Hannes Gensfleisch rieb sich zufrieden die Hände. Die beiden Verlobungsringe waren gut geworden. In die Innenseite hatte er einen Spruch eingeschlagen. Er hatte dazu neue Punzen machen müssen. Sein Auftraggeber, der junge Fust, hatte einen Spruch in Ogomzeichen verlangt. Der Goldschmied kannte diese heidnischen Runen nicht. Fust hatte ihm ein Vorbild aufzeichnen müssen. Die Runen sollten wohl aus Irland oder den schottischen Landen stammen. Jedenfalls würde der junge Fust zufrieden sein. Die Inschrift zeigt sich scharf und klar im Innern der Ringe. Ein Glück, denn mit diesem hoffärtigen Mann war nicht gut Kirschen essen. Auch sein Vater Johannes Fust war nicht recht geheuer. Der hatte ihm einmal Geld geliehen. Der Geldverleiher sah irgendwie bocksbeinig aus, in seinem schwarzen Kleid, der schwarzen Pumphose und der Kappe, an der eine große Pfauenfeder steckt. Ein Schauer lief dem Gensfleisch über den Rücken. Weiterlesen

Das Institut – Ein Wiedersehen

Einige Wochen gingen ins Land, die ich mit albernen Tätigkeiten verbrachte, deren Sinn sich mir nicht erschlossen. Ich hatte die Hoffnung aufgegeben, das Fräulein wieder zu sehen, als Sie eines Morgens vor mir durch den Park aufs Institut zu ging. Mein Herz hüpfte. Ich eilte ihr nach, und als sie den Paternoster bestieg, beschloss ich hinterher zu fahren.

Es war kein wirklicher Entschluss gewesen, denn nachgedacht hatte ich nicht, als ich den Schritt in die unter ihr auftauchende Kabine tat. Leise knarrten die eingefetteten Ketten des Aufzugs in ihrer Führung, während wir langsam aufstiegen. Ich wähnte das Fräulein über mir, glaubte das Scharren ihrer Pumps zu hören, was natürlich nur dem Wunschdenken entsprang, denn im Pasternoster hängen einzelne Kabinen an den zwei Umlaufketten. Der Fußboden der oberen Kabine ist demnach nicht die Decke der unteren. Trotzdem war ich glücklich, ihr so nah zu sein. Etage um Etage zog an mir vorbei. Als wir uns der fünften Etage näherten, beschleunigte sich mein Herzschlag. Auf dem dortigen Treppenabsatz stand wartend Dr. Spiegel. Erstaunt sperrte er den Mund auf, als ich an ihm vorbei fuhr. Ebenso verdattert war ich. Mir entrang sich nur ein zaghaftes: „Guten Morgen, Herr Dr. Spiegel!“ Ich hörte ihn noch rufen: „Erlenberg! Was tun Sie da?!“, da verschwand er zu meinen Füßen.
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Das Institut – Vom Fräulein träumen

[Folge 1]
Delhey saß über einen Stapel Zeitungen gebeugt und schnitt mit einer Papierschere Artikel aus. „Na, wie war’s?“, fragte er, ohne aufzusehen.
„Yooo. So lala. Dr. Spiegel hat mir das Wesen von Hierarchien erklärt. Ich soll seinen Vortrag zusammenfassen und heute noch einsenden.“
„Dann mal los! Ich hoffe, Sie haben genug aufgeschrieben, denn ich habe weder Zeit noch Lust, die Lücken in Ihren Notizen zu ergänzen.“
„Wie kommen Sie darauf, dass meine Notizen lückenhaft sind?“
„Wir werden sehen.“

Ich setzte mich an das Tischlein, spannte einen Bogen in die Schreibmaschine, holte die Notizen hervor und begann zu tippen. Gegen Mittag war mein Bericht fertig, so dass ich ihn an Delhey weiter reichen konnte. Der überflog ihn, grinste hämisch, rollte ihn wortlos und schob ihn in eine zylindrische Rohrpostkapsel.
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Das Institut – Das System des Dr. Spiegel

[Folge 1] „Stellen Sie sich ein großes Haus vor, genauer ein Anwesen mit vielen Fenstern. Man braucht Heerscharen helfender Hände, um Gardinen und Vorhänge abzuhängen, zu waschen und wieder aufzuhängen. Da stehen die Mägde tagelang im feuchten Nebel des Waschhauses, breiten die Tuche zum Trocknen über Hecken und plätten sie anschließend mit heißen Eisen. Dann müssen Wäschekörbe und Leitern treppauf, treppab getragen werden, entlang der weitläufigen Gänge im Haupthaus und in den Seitenflügeln, und die längsten unter den Dienstboten recken sich hoch zu den unzähligen Vorhangstangen.“ Er redete schnell, so dass ich nur Stichworte notieren konnte.

„Die Vielzahl solcher niederen Aufgaben im Herrenhaus erfordert eine kleine Gesellschaft dienstbarer Geister. Es gibt unter den Dienstboten eine straffe Hierarchie, denn es wäre sehr mühsam, sie selber anzuweisen und ihre Arbeiten zu kontrollieren. Gerade unter den Knechten und Mägden ist eine strenge Abfolge von Befehlenden und Befehlsempfängern nötig. An ihrer Spitze steht der Verwalter, und nur er allein muss sich jenen verantworten, die in einem Herrenhaus mit so vielen Fenstern zu leben belieben. Die Hierarchie drückt sich aus in der Zahl derer, die jedem einzelnen untergeordnet sind, was wiederum die Höhe der Entlohnung bestimmt. Jedermann wird verstehen, dass den geringsten Lohn verdient, wer niemanden mehr unter sich zu befehligen hat.
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Das Institut – Paternoster

„Erlenberg, zum Verwalter! Auf die fünfte Etage, sofort!“, herrschte mich Kollege Norbert Delhey an, als ich pünktlich um 7:55 Uhr unser Kellergelass betrat. „Aber nehmen Sie die Treppe! Der Paternoster ist für Sie tabu. Herr Dr. Spiegel wird Ihnen einiges sagen. Machen Sie sich unbedingt Notizen!“
Ich kramte aus der Schublade Block und Stift hervor, ging zum Treppenhaus und stieg hinauf. Hinter mir knarrte der langsam auf- und abfahrende Paternoster. Auf jedem Treppenabsatz konnte ich sehen, wie sich Leute befördern ließen, sah jeweils ihre Köpfe oder ihre Füße zuerst. Die Füße kennzeichneten den Abstieg, die Köpfe den Aufstieg.

Plötzlich fuhr ein schönes Fräulein im grünen Kostüm von unten herauf. Ihr Blick streifte mich achtlos. Ich sah sie aufwärts schwinden, betrachtete fasziniert ihr hübschen Beine, was ich ungeniert tun konnte, derweil sie in der Geschossdecke verschwand, hastete die Treppe hinauf, um sie nochmals in ganzer Schönheit bewundern zu können. Zuerst erschien ihr rotblonder Haarschopf, dann ihr schöner Kopf mit dem ebenmäßigen Gesicht, dann ihre schlanke Gestalt bis hin zu den hübsch bestrumpften Beinen. Sie stand in roten Pumps, scharrte ungeduldig mit ihnen auf dem Paternosterboden, ein Geräusch, das ich sehr erotisch fand und mich in Kombination mit den Pumps entzückte. Es gelang mir, sie dreimal zu sehen. Mit diesem Spiel gelangte ich fast mühelos auf die fünfte Etage. Bedauernd musste ich sie nach oben entschwinden lassen.
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Theo erzählt

Die beiden Brüder liegen blassnasig nebeneinander in dem französischen Doppelbett. Am Fußende bei der Tür steht Theo. Er trägt eine grellrote Pagenuniform. Auf seinem runden Kindergesicht zeigt sich ein zufriedenes Grinsen. Ja, er hat den beiden hier im Haus ein Zimmer besorgt, weil sie zu betrunken waren, mit dem Auto nach Hause in Deutschland zu fahren. Er hatte sie beinahe unversehrt hochgebracht, obwohl der Jüngere unten in der Bar kaum noch hatte stehen können. Auf der steilen Treppe war er gestolpert und hatte sich das Schienbein geprellt, aber das gilt wenig, solange nur der Große zufrieden ist.

Sie liegen also in Unterhosen unter den Federbetten. Der Kleine schaut starr zur Deckenfunzel hinauf, einem gelben runden Glasteller, in dem zwei tote Fliegen plumpe Schatten werfen. Der Große hält den Oberkörper mit den Ellenbogen aufgestützt, damit er Theo ansehen kann. Seine Lider hängen schwer über glasigen Augäpfeln. Er will schlafen.

Theo ist hellwach.

„Vorige Woche haben wir ein Polizeiauto verwoest. Wir waren mehr dan hundert Weerter Jungen. Da kwamen noch ein paar Bullen und willten welche von uns mitnehmen. Toch wir haben alle verprügelt. O ja! es ist sehr grappig, mit die Politie zu fechten.“ Er schnauft, holt ein kariertes Taschentuch aus seiner engen Uniformhose und putzt sich die Nase.
„Da kann man lachen!“
„So?“, sagt der Große und peilt ihn durch den Augenspalt an.
„Hier im Wald, da ist eine Fietspad. Einmal waren wir alle dronken und haben uns hinter die Büsche versteckt. Tot eine Dolle Mina auf ihre Bromfiets langskwam. Die haben wir dann samen mit die Brommer umgeworfen, in eine Pfütze. Sie hat sehr geflucht. Wir haben viel gelachen!“
Der Große hat die Augen wieder auf. Er fügt sich und sagt: „Gib mir mal den Tabak aus der Jacke, Theo!“
Theo nimmt die Jacke vom Stuhl, wühlt in den Taschen und holt eine Packung Van Nelle Half zwaare Shag hervor. Der Große setzt sich auf, stopft sich die Kopfkissen in den Rücken und dreht eine Zigarette.
„Die Dollen Minas sind sehr gefährlich! Hier in Weert fechten wir alltijd tegen die. In Amsterdam lauern sie die Jungen auf und ziehen ihnen die Hosen runter. Dann fassen sie dich an die Eier.“ Theo schüttelt sich. „Aber nicht mit uns, o nein, Mann!“
Der süßliche Rauch von Van Nelle zieht durch das kalte Hotelzimmer. Theo streckt die Hand nach dem Tabak aus und dreht sich auch eine.
„Manchmal fahren wir nach Maaseik in België“, sagt Theo. Er leckt, die Gummierung des
Zigarettenblättchens entlang. „Da gibt es gute Nutten.“
Der Kleine will jetzt auch rauchen.
„lch sage zu Rob, meine Chef, Rob, sage ich, du musst gute Nutten in die Bar holen! Aber er macht es nicht. Seine Frau willte das nicht. Seine Frau ist sehr eng.“
Theo zupft versonnen an seiner roten Uniformjacke.
„Rob, die alte Glatzkopf, willte neue Haare haben. Da ist er nach Eindhoven gegangen und hat sich eine Pruik gekauft.“
„Perücke“, verbessert ihn der Kleine.
„Ja, Perücke“, nickt Theo. „Aber seine Frau was böse. Sie hat gesagt: ‚Rob, hast du Karneval in deine Kopf!?'“
Einen Augenblick wird es still. Sie rauchen. Theo reicht aufmerksam einen schweren gläsernen Aschenteller rund, in dem in dunkelgrünen Frakturbuchstaben Brand’s Bier zu lesen ist. Nacheinander stuppen sie die Kippen hinein. Sie horchen nach einem frisierten Moped, das von weit heranknattert, unten vorbeifährt, irgendwohin gegen Osten, und endlos lange zu hören ist.
„Jetzt ist er bald in der Inneren Mongolei angekommen“, sagt der Kleine.
Sein Bruder lacht. Theo lacht mit, obwohl er nicht verstanden hat, worum es geht.
Durch einen Spalt zwischen den weinroten Vorhängen zieht kalt und bleiern die frühe Morgenluft herein. Die beiden Säufer im Bett frösteln.
„Eh, ihr seid Deutsche. Aber das macht nichts“, sagt Theo und greift nach der Türklinke. „Ich habe in Rotterdam eine Freund, die kann allein maar eine Satz auf Deutsch sagen: „Wollen Sie noch Wurst!?“
Die in den Betten fangen albern zu kichern an. Nach müde kommt blöd. Theo lacht mit. Er lässt die Türklinke wieder los und schaut die beiden prüfend an. Dann kommt er ins Zimmer zurück und sagt: „Rob kennt eine Typ vom Schlachthof in Arnheim. Die hat sich einmal nach der Arbeit ganz viel Wurst mitgenommen. Und ein großes Messer. Die Wurst hat er sich in die Hose getan. Vornerein. Dann ist er in die Bars von Arnheim gegangen. Und wo ihm ein schönes Mädchen tegenkwam, hat er sich ein Stück Wurst vorne aus die Gulp?…“
„Äh…..Hosenschlitz!“ sagt der Große,
„… die Hosenschlitz gezogen und zack, mit die Messer abgeschnitten. Davon sind die Meisjes alltijd grün geworden und in Ohnmacht gefallen. “
„O Mann, Theo“, stöhnt der Kleine, „was erzählst du für einen Scheiß?“
Der Große zieht sein Kopfkissen zurecht und lässt sich zurückfallen. „Um fünf Uhr morgens“, sagt er vorwurfsvoll.
„Passt auf, es kommt ja noch“, sagt Theo freundlich: „Also, in die letzte Bar war die Metzger schon sehr dronken. Er zieht wieder raus, hackt mit die Messer ab, und…? Was passiert? Er fällt selbst in Ohnmacht! Haha! Versteht ihr? Er hat sich die Lul abgehackt!“
Die Brüder schüttelt’s in ihren Betten.
„Nein!“, sagt der Große.
„Toch! Das hat die jetzt davon“, sagt Theo und holt einen Seufzer der Befriedigung von ganz tief unten.


verwoest = verwüstet
mehr dan = mehr als
kwamen = kamen
toch = doch
grappig = lustig
dronken = betrunken
alltijd = ständig
Dolle Mina war eine Bewegung niederländischer Frauenrechtlerinnen aus dem Jahr 1970
wo ihm ein schönes Mädchen tegenkwam = begegnete

Stummer Schrei

In letzter Zeit scheinen einige meiner Träume zusammenzuhängen, so auch der, den ich in der Kur am Bodensee geträumt habe, wo ich vier Wochen verbrachte, topfit wegfuhr, um mir in Hannover ein Bein zu brechen.

Stummer Schrei

Eine hässliche Neubausiedlung. Vor Monatsfrist habe ich dort vergeblich eine Frau Cornelius gesucht. Damals war das Viertel überwiegend im Rohbau gewesen, Betonklötze mit Flachdächern im Stil von Plattenbauten. Im Untergeschoss eines Plattenbaus war die üble Backstube einer Billigkette. Ich wollte da Brötchen holen, fand den Laden aber verwaist. Nachdem ich eine Weile vergeblich gewartet hatte und auch auf mein Rufen nichts geschah, entdeckte ich seitlich des Ladens eine Tür. Ich fand sie offen und sah in eine Lagerhalle voller Gerümpel. Das war übles Zeug, der Sperrmüll, den Plattenbauwohnungen so ausspucken. Ich rief noch einmal, aber weil niemand kam, ging ich wieder. Später war der Laden noch immer verwaist. Ein Mann kam hinzu, und gemeinsam sichteten wir die Lagerhalle. Zielsicher ging er zu einem Schrank am rückwärtigen Ende der Halle und öffnete ihn. Im Schrank stand in namenlosem Entsetzen die Verkäuferin. Ihre Augen waren schreckgeweitet, der Mund zu einem stummen Schrei geöffnet, ein Gesicht, wie man es kennt aus Edward Munchs Gemälde „Der Schrei.“ Wir befreiten sie, und sie eilte dienstfertig in den Laden, wo sie hektisch anfing zu verkaufen, denn sie hatte den Tag über noch nichts eingenommen. Freilich war die Zeit, in der die Leute Brötchen wollen, längst vorbei. Unklar blieb, ob sie sich selbst eingesperrt hatte oder es Übeltäter gewesen waren. Jedenfalls war sie im Schrank verblieben, freiwillig oder schreckensstarr. Die Schranktür war unverschlossen gewesen.

Ein konspiratives Treffen

Unser erstes konspiratives Treffen in Steffen Gauklers großer Wohnung war nicht der Mühe wert. Wir wollten eine subversive Zeitung machen, aber kamen nicht vorwärts. Gaukler hatte einen Drucker eingeladen, einen Altkommunisten wohl, der kürzlich ein derartiges Heft herausgebracht hatte. Weil John, unser programmatischer Kopf, noch immer nicht eingetroffen war, blätterte ich das Heft durch, konnte aber nicht viel damit anfangen, da ich meine Lesebrille nicht bei mir hatte. Die Texte im Heft waren durchgängig in Acht-Punkt-Schrift gesetzt und auch das Layout war Kleinklein. Die Schrifttype erinnerte mich an ein derartiges Heft mit einem Text des Anarchisten Michail Alexandrowitsch Bakunin, das mir vor langer Zeit ein gewisser Günther, Student der Freien Grafik an der Kölner Werkkunstschule, zugesteckt hatte. Es war im Duplexverfahren gedruckt gewesen mit einem Verlauf im Text von Rot zu Schwarz. Das hier hatte zum Glück keine Verläufe, war aber für mich trotzdem unlesbar.

Zeitweise saß Julia neben mir, wieder einmal mit sich und der Welt im Hader. Die Beziehung zu mir sei ja irgendwas zwischen verheerend und verzehrend gewesen. Ich bezweifelte das. Sie war schon immer bereit gewesen, für ein gelungenes Wort die Realität zu verzerren. Aus dem Nichts war damals ein Dissens entstanden, und nichts, was ich versucht hatte, war geeignet gewesen zu verhindern, dass das Zerwürfnis sich verschlimmerte. Eine Lawine von Hader und Selbsthader ging zu Tal und riss mit, was im Weg stand. Julia seufzte. Sie schien genug zu haben vom Warten, denn mit einem Mal stand sie auf und war verschwunden. „Sich Polnisch verabschieden“ nennt man das wohl.

Auch Philipp verabschiedete sich, wollte sich wohl irgendwas vom Kiosk holen. Im Rausgehen sagte er beiläufig, er habe gerade den alternativen Nobelpreis in Pataphysik bekommen, aber da wäre nichts dran, den bekomme schließlich jeder zum Geburtstag. Ich widersprach: „Das Institut hat über 1200 Mitglieder, also haben im Schnitt täglich drei Leute Geburtstag. Der alternative Nobelpreis wird aber nur einmal im Jahr verliehen.“

Gaukler kam hinzu und verkündete, John habe angerufen. Er werde in 45 Minuten sicher eintreffen.
„Wie sicher?“, fragte ich.
„Nun, sein Problem ist das neue Bett mit der vorzüglichen Matratze. Da liegt er so fein, dass er sich morgens kaum zum Aufstehen überreden kann.“
„Früher scheiterte die Revolution an Bahnsteigkarten, heute an zu bequemen Betten. War er schon auf, als er anrief?“
„Er sagte ja, aber kontrollieren konnte ich das natürlich nicht.“
„Scheiß Schnurlose!“, sagte der alte Drucker.
Zu Philipp sagte Gaukler: „Denk daran, dass dieses Haus 110 Kellergeschosse hat und der Kiosk ganz unten ist.“
„Du wohnst auf der 111ten Etage, du Trollo!“, sagte Philipp.

Marga, eine Arztehefrau und Hobbyfotografin, breitete ihre weiten schwarzen Röcke aus und setzte sich neben mich auf die Couch. Sie steckte mir ein Dutzend Folien zu, von denen man selbstklebende Sticker abziehen konnte.
„Mach was draus!“, sagte sie.
„Spätkapitalistischer Tinnef!“, sagte der Drucker verächtlich, „daraus wird nie was.“
Ich fand das auch, zumal ich das Layout machen sollte. Wie gesagt, unser erstes konspiratives Treffen war nicht der Mühe wert.