Im Winter 2013/2014 ist das russische Kreuzfahrt- und Forschungsschiff Akademik Shokalskiy in der antarktischen See mit 74 Personen an Bord im Eis eingeschlossen worden, dann fuhr sich der zur Rettung herbeigeeilte chinesische Eisbrecher Xue Long (Schneedrache) im Packeis fest, und auch der australische Eisbrecher Aurora Australis konnte nicht zu den Eingeschlossenen vordringen.
Im arktischen Wintereinbruch unserer Tage spielte sich vor meinen Fenstern eine ähnliche Kuriosität ab. Zugegeben wars weniger dramatisch. Beim Versuch, einen geparkten PKW aus dem Schnee zu befreien, hatte sich ein Abschleppwagen des ADAC selber festgefahren und versuchte gut eine halbe Stunde wegzukommen. Ich hörte seinen Motor und die durchdrehenden Räder für die Dauer meines Mittagsschlafes. Als ich danach ans Fenster trat, war ein weiterer Abschleppwagen vorgefahren und versuchte den Kollegen freizuschleppen.
Doch das wirklich Ulkige war eine Dreiergruppe, die sich eingefunden hatte: Ein Kamera-, ein Tonmann und was der dritte tat, konnte ich nicht sehen. Der Kameramann eilte jeweils den ADAC-Fahrern hinterher, die gewichtig zwischen den beiden Fahrzeugen hin- und hergingen, der Tonmann folgte, der andere auch, drei eifrige Leute vom Fernsehen umschwärmten die Situation, damit man heute Abend in den Nachrichten zeigen kann, wie der Wintereinbruch sogar den ADAC in Schwierigkeiten gebracht hat.
Dass ich mir gestern in ungewohnten Winterschuhen blutige Blasen lief, wird nur hier berichtet. Das kam so: Normalerweise kann ich mit der Linie 9 der Überlandwerke und Straßenbahnen Hannover AG (ÜSTRA) aus einer Randgemeinde bis fast vor meine Haustür fahren. Doch am Nachmittag war der Schienenverkehr aus dem Vorort eingestellt. Da stapfte ich gut zwei Kilometer durch den Schnee zu einer Straßenbahnlinie, auf der noch Bahnen fuhren, teils als U-Bahnen. Dann versuchte ich in der U-Bahnstation der Innenstadt in die Linie 9 umzusteigen. Sie wurde über die elektronische Anzeige angekündigt. Die Minuten zählten herab auf Null, aber die Bahn kam nicht. Stattdessen verschwand sie aus der Anzeige und eine andere wurde angekündigt. Eine Frau fragte bei der Informationssäule an. Der ÜSTRA-Mitarbeiter am anderen Ende vernahm erstaunt die Botschaft, dass die Bahn nicht gekommen war, stellte dann fest, dass er sie ebenfalls nicht mehr in seinem Computersystem hatte. Immerhin war er jetzt auch informiert, was zeigte, wozu Informationssäulen eigentlich gut sind. Nach kurzer Recherche sagte er, dass die Linie 9 vermutlich und gegebenfalls gar nicht mehr führe. Trotzdem kündigte das System fröhlich weitere Bahnen an.
Auf meinem erzwungenen Fußweg nach Hause warnte ich einen jungen Mann, der gerade einen Fahrschein ziehen wollte: „Das Geld können Sie sich sparen. Die Bahn fährt nicht.“
„Trotzdem danke!“, sagte er grimmig, als hätte ich den Bahnverkehr eingestellt. Wo an Haltestellen keine elektronischen Anzeigentafeln installiert sind, wartete man im Schneetreiben vergeblich auf die Bahn. Selbst die Üstra-App zeigte keine Ausfälle an, und ich konnte nicht jedem Bescheid geben, zumal die Überbringer schlechter Nachrichten sich den Zorn der Betroffenen zuziehen. Als ich an der Haltestelle nah meiner Wohnung vorbeiging, wurde endlich über Lautsprecher durchgesagt, dass der Linienverkehr eingestellt sei.
„Wir bitten um Verständnis.“
Na klar. Im Februar schneit es immer völlig überraschend. Außerdem sind die ÜSTRA-Verantwortlichen ja erst gestern von hinterm Mond eingewandert und konnten von den Warnungen der Wetterdienste nichts wissen. Und wenn sogar der ADAC im Schnee steckenbleibt, macht die ÜSTRA sich völlig zu Recht einen schlanken Fuß.
Vielleicht ist die Bahn gerade in ein Paralleluniversum abgebogen und das elektronische Anzeigensystem kann so etwas nicht erfassen? Da könnte man eine prima Gruselgeschichte draus machen oder einen Sciencefiction.
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Der Gedanke ist verführerisch. So eine Geschichte über eine Art Höllenfahrt habe ich mal gelesen. Auch selbst eine geschrieben:https://trittenheim.wordpress.com/2016/09/05/allzeit-nach-bielefeld/
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Ich kann mich daran erinnern, dass in mittlerweile sehr weit zurückliegenden Zeiten in der Schule mal so eine Geschichte vorgelesen wurde. Von einem Zug, der von der Strecke abkommt, und bis zum St.Nimmerleinstag durch das pechschwarze, unendliche Nichts fahren muss.
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Könnte es sich um die Kurzgeschichte “Der Zug zur Hölle“ (OT: “That Hell-Bound Train“) von Robert Bloch handeln, ich erinnere mich dran dass wir die seinerzeit mal im Englischunterricht lasen.
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Genau! Danke für den Nachweis!
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Das ist mir auch schon öfters bei Trambahn- und Bus- und S-Bahn- und U-Bahn-Ausfällen widerfahren, dass da auf den elektronischen Anzeigen stets angezeigt wird, dass Zug/Bus etc. mit z. B. der Nummer 27 in 1 Minute eintreffen wird, obwohl weit und breit nichts zu sehen ist. Dieses „nächster Zug kommt in 1 Minute“ verharrt dann in der Regel stundenlang auf der Anzeigentafel. Und ich denke mir dann jedesmal, dass die Leute von den Öffentlichen Verkehrsbetrieben ja noch dreister lügen als Politiker! Und das will schon was heissen!
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Bislang hatte ich völlig naiv gedacht, das Anzeigesystem bekäme Signale von Kontrollpunkten, aber ers ist wohl so, dass es schlicht die Fahrpläne abarbeitet.- Deshalb reagiert es auch nicht auf verspätete oder ausgefallene Bahnen. Stadtbahnmitarbeiter sind nicht auf Flexibilität eingestellt, und Fahrgäste sind die Blöden.
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heute morgen sagte einer vom winterdienst, dass ja all das nix besonderes sei, wir aber durch die milden winter der vorjahre verwöhnt. im winter fällt halt schnee.
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Entwöhnt statt verwöhnt passt besser. Vor allem hat man bei den Verkehrsbetrieben nicht die nötige Infrastruktur und reagiert verspätet oder unflexibel. Im Fall der ÜSTRA hat sie keinen Schaden, wenn Passagiere nicht rechtzeitig informiert werden. Die Leute lösen einen Fahrschein, können aber nirgendwo mitfahren.
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je, nun, dass die verkehrsbetriebe (inner- und außerstädtisch) mit wetter nicht klar kommen, ist ja kein neues phänomen. ich erinnere mich, wie ich im winter `78/79 mein babymädchen dick eingemummelt durch die straßen schob und feststellte, wie groß doch unsere stadt ist, wenn man sie zu fuß mit kinderwagen durchqueren muss, weil nicht einein verkehrsmittel fährt. (das war der gleiche tag, an dem ich mit großen mühen und mehreren eimern kohle meine wohnung von morgens +3 auf abends immerhin +15 grad hochheizte und das kind noch immer nicht aus der mummelei entlassen konnte.)
der unterschied zu heute ist nur, dass die „moderne technik“ es nicht schafft, uns wenigstens aus unserer verzweifelten ahnungslosigkeit zu holen.
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Der Dritte in der Dreiertruppe war bestimmt der unbezahlte Produktionsassistenz-Praktikant ; )
(Unlängst sah ich eine Folge von “Medical Detectives“ mit exakt dem gleichen Szenario wie von Ihnen beschrieben, nach einem wahren Kriminalfall: der Täter fährt sich am Tatort mit dem Auto fest, ruft einen Abschleppdienst, der fährt sich ebenfalls fest und muss einen weiteren Abschleppdienst herbeirufen. Szenen-Dubletten kommen bekanntlich häufig vor, im Leben wie im Film*.)
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„Szenen-Dubletten im Leben wie im Film“ ist ulkig. Vielen Dank für die Nachweise.
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