Nach dem frühen Tod des Vaters genossen meine jüngere Schwester und ich die Geborgenheit des verwaisten Ehebetts neben meiner Mutter. Mit zehn Jahren wurde ich daraus verbannt. Ich musste das Zimmer meines jüngsten Onkels im Haus meiner Großeltern beziehen. Onkel Heinz hatte es aufgegeben, als er in Bonn ein Jurastudium aufnahm. Sein ehemaliges Zimmer lag auf der ersten Etage zur Landstraße hin. Auch das Zimmer nebenan war verwaist, war das Schlafzimmer von Tante Käthe und Onkel Eduard gewesen, bis sie ein eigenes Haus bezogen hatten. Unter dem, was nun mein Zimmer sein sollte, lag das sogenannte „gute Zimmer“, das nur zu festlichen Anlässen benutzt wurde.
Tagsüber gefiel mir die unvertraute Umgebung, nachts hatte ich ein wenig Angst, denn ich war im vorderen Gebäudetrakt ganz allein. Das Zimmer hatte noch einen kleinen Vorraum, in dem ein alter Vitrinenschrank stand. Onkel Heinz hatte die Zeitschrift Das Beste aus Readers Digest gesammelt. Sie hatte etwa das Format DIN-A5 und war gelumbeckt, wie die einfache Form der Klebebindung heißt. Gut 30 Bände standen in der Vitrine in Reihe. Im Sommer musste ich schon früh ins Bett. Da lag ich und blätterte vergeblich die Bände „Das Beste“ durch, in der Hoffnung, etwas Erotisches zu finden, denn in mir waren die ersten sexuellen Gefühle erwacht. Das erklärt auch meine Verbannung aus der Geborgenheit zwischen Schwester und Mutter.
Aber in diesem geschniegelten Heft gab es nichts Anregendes, nur erzkonservative Erbauungsliteratur, und im Anzeigenteil wurden Mittel gegen abstehende Ohren beworben. Ich erinnere mich an kuriose Vorher-Nachher-Bilder, auf denen die zuvor abstehenden Ohren nach Behandlung so platt am Kopf klebten, dass die Probanden schier ohrlos wirkten. In jeder Ausgabe über Jahre hinweg – immer wieder Werbung fürs Ohranlegen. Ich habe alle gesehen, weil ich hoffte, auf den Werbeseiten mit den kleinen Bildern würde mal für Büstenhalter oder Ähnliches geworben. Leider fand ich nur Fotos von Leuten mit Ohren. Ich kannte einen Jungen, der schier problemlos abstehende Ohren hatte. Mädchen konnten sie leicht mit ihren Haaren kaschieren. Es war also nicht so dramatisch, dass man dagegen Mittel brauchte. Oder verstießen Segelohren in Amerika etwa gegen die erlaubte Norm?
Das landläufige „Segelohren“ meint vermutlich, dass ein Segelohrenbesitzer einen Berg oder Kirchturm besteigen und auf seinen abstehenden Ohren wie auf Tragflächen nach unten segeln könnte. Was soll schlecht daran sein? Man könnte kritisieren, dass die Ohrensegelei als Fortbewegungsmethode zu gefährlich wäre oder nicht weit genug tragen würde, wie in einem Cartoon von FK Waechter, auf dem einer mit ausgebreiteten Armen über dem Boden schwebt, und ein Beobachter sagt zum anderen: „Nicht hoch, aber immerhin.“ Aber bei aller herablassenden Kritik müsste man Segelohren nicht festkleben oder gar operieren. Im Gegenteil sind abstehende Ohren ein markantes Erkennungsmerkmal, so dass nicht mal nachlässige oder kurzsichtige Eltern ihr Kind verwechseln würden. Mit den aufgestellten Lauschern war zudem gewiss gut Hören. Weder ästhetisch noch funktional ist folglich gegen abstehende Ohren etwas einzuwenden. Die Amis mal wieder.
Der Umzug in das Zimmer von Onkel Heinz mit seinen gesammelten Das-Beste-Ausgaben war ein Bruch in meinem noch jungen Leben, aber er hatte auch etwas Gutes, warf Rätsel, neue Erkenntnisse und Erfahrungen auf, erweiterte mithin meine Perspektive.