Das Beste mit Ohren

Nach dem frühen Tod des Vaters genossen meine jüngere Schwester und ich die Geborgenheit des verwaisten Ehebetts neben meiner Mutter. Mit zehn Jahren wurde ich daraus verbannt. Ich musste das Zimmer meines jüngsten Onkels im Haus meiner Großeltern beziehen. Onkel Heinz hatte es aufgegeben, als er in Bonn ein Jurastudium aufnahm. Sein ehemaliges Zimmer lag auf der ersten Etage zur Landstraße hin. Auch das Zimmer nebenan war verwaist, war das Schlafzimmer von Tante Käthe und Onkel Eduard gewesen, bis sie ein eigenes Haus bezogen hatten. Unter dem, was nun mein Zimmer sein sollte, lag das sogenannte „gute Zimmer“, das nur zu festlichen Anlässen benutzt wurde.

Tagsüber gefiel mir die unvertraute Umgebung, nachts hatte ich ein wenig Angst, denn ich war im vorderen Gebäudetrakt ganz allein. Das Zimmer hatte noch einen kleinen Vorraum, in dem ein alter Vitrinenschrank stand. Onkel Heinz hatte die Zeitschrift Das Beste aus Readers Digest gesammelt. Sie hatte etwa das Format DIN-A5 und war gelumbeckt, wie die einfache Form der Klebebindung heißt. Gut 30 Bände standen in der Vitrine in Reihe. Im Sommer musste ich schon früh ins Bett. Da lag ich und blätterte vergeblich die Bände „Das Beste“ durch, in der Hoffnung, etwas Erotisches zu finden, denn in mir waren die ersten sexuellen Gefühle erwacht. Das erklärt auch meine Verbannung aus der Geborgenheit zwischen Schwester und Mutter.

Aber in diesem geschniegelten Heft gab es nichts Anregendes, nur erzkonservative Erbauungsliteratur, und im Anzeigenteil wurden Mittel gegen abstehende Ohren beworben. Ich erinnere mich an kuriose Vorher-Nachher-Bilder, auf denen die zuvor abstehenden Ohren nach Behandlung so platt am Kopf klebten, dass die Probanden schier ohrlos wirkten. In jeder Ausgabe über Jahre hinweg – immer wieder Werbung fürs Ohranlegen. Ich habe alle gesehen, weil ich hoffte, auf den Werbeseiten mit den kleinen Bildern würde mal für Büstenhalter oder Ähnliches geworben. Leider fand ich nur Fotos von Leuten mit Ohren. Ich kannte einen Jungen, der schier problemlos abstehende Ohren hatte. Mädchen konnten sie leicht mit ihren Haaren kaschieren. Es war also nicht so dramatisch, dass man dagegen Mittel brauchte. Oder verstießen Segelohren in Amerika etwa gegen die erlaubte Norm?

Das landläufige „Segelohren“ meint vermutlich, dass ein Segelohrenbesitzer einen Berg oder Kirchturm besteigen und auf seinen abstehenden Ohren wie auf Tragflächen nach unten segeln könnte. Was soll schlecht daran sein? Man könnte kritisieren, dass die Ohrensegelei als Fortbewegungsmethode zu gefährlich wäre oder nicht weit genug tragen würde, wie in einem Cartoon von FK Waechter, auf dem einer mit ausgebreiteten Armen über dem Boden schwebt, und ein Beobachter sagt zum anderen: „Nicht hoch, aber immerhin.“ Aber bei aller herablassenden Kritik müsste man Segelohren nicht festkleben oder gar operieren. Im Gegenteil sind abstehende Ohren ein markantes Erkennungsmerkmal, so dass nicht mal nachlässige oder kurzsichtige Eltern ihr Kind verwechseln würden. Mit den aufgestellten Lauschern war zudem gewiss gut Hören. Weder ästhetisch noch funktional ist folglich gegen abstehende Ohren etwas einzuwenden. Die Amis mal wieder.

Der Umzug in das Zimmer von Onkel Heinz mit seinen gesammelten Das-Beste-Ausgaben war ein Bruch in meinem noch jungen Leben, aber er hatte auch etwas Gutes, warf Rätsel, neue Erkenntnisse und Erfahrungen auf, erweiterte mithin meine Perspektive.

Schlittenfahrt

Im Winter, wenn Schnee gefallen war und die Bruchstraße eine geschlossene Schneedecke hatte, entdeckte Bauer Schmieder sein Herz für Kinder. Irgendwann am Tag fuhr er seinen Deutz-Traktor auf die Straße, band den Schlitten seiner kleinen Tochter an die Anhängerkupplung und hängte den des jüngeren Sohns dahinter. Im Nu strömten die Kinder der Straße mit ihren Schlitten herbei, banden sie an und hintereinander. Los ging die wilde Fahrt. Bauer Schmieder gab Gas, ein Ruck, und die Schlittenreihe setzte sich in Bewegung. Das ging gut, bis zur Kreuzung oben. Da war der Schnee noch von den Reifen der Traktoren festgefahren, und die Schlitten holperten hurtig über die vereiste Piste, dass man Mühe hatte, sich festzuhalten.

Wo die Straße in die Winterlandschaft des Hohlwegs eintauchte, lag Tiefschnee. Und spätestens hier kippte einer mit seinem Schlitten um, und das Schlittengespann riss auseinander. Die Kindermeute schrie „Halt!“, und wenn dann wieder alles gerichtet war, wurde „Schnee fassen!“ gerufen. Jede, jeder nahm zur Stärkung eine Handvoll Schnee in den Mund. Der Schnee lag in der Bruchstraße ganz unberührt. Niemand dachte daran, er könnte schmutzig sein. Es war ein Ritual, sich Schnee in den Mund zu stecken, bevor die wilde Rodelfahrt weiter ging hinter dem Trecker von Bauer Schmieder. Weiter, immer weiter die tief verschneite erste Bruchstraße entlang. Bis zu ihrem Ende. Spätestens da, wo ein alter Rheinarm ein weites Tal hinterlassen hatte, drehte Schmieder. Bis zum zweiten Hohlwewg kamen wir nie. Vermutlich war Schmieder genervt, weil die Seilzüge zwischen den Schlitten immer öfter rissen. An einigen Schlitten waren das ja nur Schnüre. Die konnten die Last nicht halten, wenn mehrere Schlitten hinter ihnen hingen.

Ich war sowieso heilfroh, wenn es wieder heimwärts ging, denn meistens war ich schon ganz durchnässt und durchgefroren und freute mich auf ein heimelig warmes Zuhause.

Die verwunschene Bruchstraße

„Alle 1000 Jahre versinkt eine Stadt um einen Meter“, sagte mein Freund Thomas, der Stadtplaner in Aachen gewesen war. Dieser Wert bestätigt sich in Aachen. Wo für Neubauten ausgeschachtet wird, stößt man in zwei Metern Tiefe auf römische Grundmauern. Aber auch in meinem Heimatdorf gibt es römische Spuren, wenn man die Landschaft zu lesen versteht. Ich wuchs auf in Butzheim, das mit meinem Geburtsort Nettesheim ein Doppeldorf bildet. Von Süd nach Nord führt durch Butzheim die Bundesstraße 477. Sie folgt der Trasse einer römischen Fernstraße, die von den südlichen Provinzen zur Nordsee führte. Im rechten Winkel zweigt in östlicher Richtung die Bruchstraße ab.

Sie ist eine lange Straße, mit wechselnden Gesichtern. An ihrem Anfang ist sie von Bauernhöfen gesäumt. Im ersten links bin ich aufgewachsen. Am letzten Gehöft auf der linken Seite endete für mich der heimische Bereich. Es war Rufweite. Dahinter steigt die Straße leicht an, überwindet an der Wegkreuzung oben die Kuppe, wo sie zuerst sanft abfällt, dann abschüssig wird. Von der Kuppe konnte ich unser Haus noch sehen. Dann taucht die Straße in einen tiefen Graben, dessen Hänge dicht mit Holunder, Hasel und Brombeere bewachsen sind.

Hier begann das Abenteuer, ab hier verdient die Bruchstraße das Attribut „verwunschen.“ An den Steilhängen des Hohlwegs steht der Mergel an. Wo er Wind und Wetter ausgesetzt ist, wirkt er grau, doch der frische Mergel leuchtet gelb. Im Mergel kann man prächtig graben und Höhlen ausschachten. Kaninchen, Dachs und Fuchs hatten es uns vorgemacht. Doch wir schachteten rechteckige Kammern. Das hatten schon Generationen vor uns getan. Denn gelegentlich fanden wir unter Gestrüpp vergessene Kammern, von uns „Bunker“ genannt. Da spielten wir, ungestört von Erwachsenen, und hatten den ganzen Tag zu tun, gruben Bunker, schnitzten Pfeil und Bogen aus Haselholz oder Esche, Pfeifen aus Holunder, bauten mit Dosentelefonen Kommunikationslinien auf und vergaßen die Zeit.

Blick in die erste Bruchstraße


Rund 500 Jahre hielten die Römer das Rheinland besetzt. Ein halbes Jahrtausend waren römische Soldaten die Bruchstraße gegangen. Dass die Bruchstraße eine Heeresstraße war, erklärt auch die beiden Hohlwegpassagen. Was wir „Mergel“ nannten, waren große Lössablagerungen seitlich eines alten Flussbetts. Bei Wegen durch Lössablagerungen verfestigen Tritte von Huftieren, die von ihnen gezogenen Karren und menschliche Schritte das Bodenmaterial und zermahlen es zu Staub. Wind und Regen transportieren den Staub ab. Dadurch graben sich die Wege immer tiefer in die Umgebung.

Nach etwa einem Kilometer weitet sich der Hohlweg und gibt den Blick frei auf das oben genannte Tal. Auf dessen östlicher Seite zeigt sich der Einschnitt zum zweiten Hohlweg. Das Tal zwischen beiden Hohlwegen hat ein Rheinarm ausgeschwemmt. Denn einst hat sich der Rhein in der Kölner Buch in viele Arme verzweigt, bevor man ihn mit Deichen in ein Bett zwang.

Der ferne Hohlweg ist tiefer eingeschnitten als der erste, hat offene steile Hänge, die wir uns nicht zu erklettern trauten. Hier waren wir selten. Es war einfach zu einsam und zu weit weg. Noch seltener waren wir am Ende der zweiten Hohlwegpassage, wo die Bruchstraße einen Querweg kreuzt und auf einem Damm ein altes Moor überquert, das im 19. Jahrhundert trocken gelegt wurde. Ein Kanal mit brackigem Wasser erinnert daran. Dann durchzieht die Straße den Ausläufer eines alten Auwalds. Später Felder und fern ein Gehöft. Wenige Meter hinter dessen Hauswiese stößt die Bruchstraße an ein Feld und ist einfach weg. Als Junge habe ich dort mit dem Fahrrad gestanden und bedauert, dass unsere Straße nach so vielen zielstrebigen Kilometern ein sang- und klangloses Ende im Acker fand, ohne Sinn und Verstand. Mir war, als wäre sie unter der Ackerkrume noch zu finden.

Da wusste ich nicht, dass ich auf einer alten Römerstraße stand. Dass die Bruchstraße eine Heeresstraße war, erklärt auch ihr unrühmliches Ende. Nachdem der letzte römische Legionär durchgezogen war, hatten die Leute dort den Weg verlegt, und später untergepflügt. Sie hatten einfach das Tor geschlossen, wie es sich gehört, wenn der letzte Gast gegangen ist.

Oben auf dem Lousberg – da war natürlich Schnee …

Aus dem Tal der Soers die Schlachtrufe der Fußballfans. Heimspiel der Alemannia. Ein kollektives Aufstöhnen. – Es muss eine Lust sein, das Maul aufzureißen, und es kommt der gleiche Laut heraus wie aus dem Nachbarmaul, und links und rechts, oben und unten, zehntausendfach. Es ist die geballte Energie von Gleichgesinnten, die ins Stadion donnert, wieder heraus und über den Lousberg hinweg, dass mir die Ohren schallen. Der Schuss war wohl vorbeigegangen, das Tor lag im Schneetreiben, doch sofort gingen die Pauken wieder, die Sprechchöre zu takten für den neuen Angriff, den neuen Ansturm. Da werden sie gebibbert haben, die Spieler vom FC-WirhabendieHosenvoll.

Ich bin natürlich kein Lokalpatriot, hab mal wieder zu kräftig aufgetragen, damit man Lust hat, noch ein bisschen zu folgen. Stell dir vor, du bist ein Fußballer dort unten auf dem Platz. Du bist mitten im Spiel, forderst den Ball und kriegst ihn, nimmst an, tunnelst deinen Gegenspieler, hast den Ball wieder am Fuß, guckst einmal auf, ziehst ab, und die Kirsche plumpst ins Netz. Der Torwart ist albern daneben gesprungen, die Verteidiger raufen sich das Haar.

Dann kriegst du die Begeisterung aus zehntausend Kehlen. Kannst du dir vorstellen, was das mit dir macht? Du musst stabil sein, damit du nicht abhebst. Auf jeden Fall, wirst du süchtig danach. Du willst es noch mal und immer wieder, dieses Bad in sozialer Energie. Wenn du nicht stark bist, dann geht es dir wie manchem Spieler, der einmal auf dem Gipfel seiner Leistung war. Doch dann hat es eine Weile mal nicht gepasst, du bekommst Entzugserscheinungen und wirst unruhig. Du strengst dich an, doch weil du grad die Seuche hast, will einfach nichts mehr gelingen. Dann kann es sein, dass du trübsinnig wirst. Jeder von uns kennt das elende Gefühl, wenn die Zustimmung der anderen/des anderen zu lange ausbleibt. Man müht sich und man verkrampft dabei, und bekommt noch weniger von dem, was man sich wünscht. Wir alle brauchen soziale Energie. Es ist etwas, was wir uns selbst nicht geben können.

Oben am Meilenstein, den ein Obrist Napoleons errichten ließ, da schaute ich hinunter zum fernen Fußballfeld. Das Flutlicht gleißte durch die diesige Luft, in der die winzigen Schneeflocken wirbelten. Hast du dir schon einmal vorgestellt, derart angestrahlt zu werden, damit auch jeder sieht, was du Gutes tust? So im Licht der Aufmerksamkeit zu stehen? Ach, welch eine Lust muss das sein. (Doch für einen Einzelnen eigentlich zuviel.)

Damit allein ist es ohnehin nicht getan. Du brauchst neben der sozialen Energie auch die Kraft aus der Natur. Man muss sie aufsuchen und auf sie lauschen, damit sie einen richtig taktet. Du brauchst auch die Besinnung auf die eigene Natur, musst hören wie dein Blut rauscht, musst deinen Trieben ordentlich Nahrung geben. Schön essen, genug schlafen, eine gute Sexualität haben, etwas gestalten und dergleichen.

Wenn du ein glückliches Leben haben willst, brauchst du die Beachtung der anderen und Achtung der Natur. Dann fließt du einträchtig im Strom der Zeit, und dann lebst du im Augenblick, spürst kaum etwas mehr. Du hebst den Kopf, huch? Wo ist die Zeit geblieben, denn natürlich bist du mit ihr weiter geflossen, du hast es nur nicht bemerkt.

Haut es dich jedoch im Leben einmal um, kriegst du einen Schlag, als hätte dich ein Bus gestreift, ja, dann bist du irgendwo zu lange stehen geblieben. Die anderen sind weiter gezogen, doch du hast geträumt. Oder du hast dich gegen deine Natur vergangen, dann ist’s kein Bus, der dich streift, sondern eine rasende Lokomotive. Das kann passieren. Wenn du nicht tot bist, und du bist es nicht, sonst würdest du ja nicht lesen, dann musst du dich zuerst berappeln, und dann begib dich rasch in Sicherheit. Zuerst musst du dich wieder auf deine Natur besinnen, und dann umarme einen Baum, was nicht lächerlich ist. Wenn du aufgetankt hast, guck, wer in deiner Nähe ist, auf Armeslänge, nicht unerreichbar fern. Du hast ja noch ein bisschen, also gib, damit du zurückbekommst und wieder ein Mitmensch wirst. Du gibst und nimmst, vergisst den Baum nicht, und langsam wirst du wieder fit. Komisch, auch die Wechselfälle des Lebens sehen dich jetzt wieder freundlich an.

Wenn du gescheit und geschickt bist, dann wirst du bald stärker sein als zuvor. Denn du hast die Erfahrung des vergangenen Stoßes, und der gab dir nicht nur den Schmerz. Hinterher kam die Einsicht, und das ist ja eigentlich ein Draufschauen von oben, aus einer göttlichen Sicht. Nur musst du aufpassen, dass du nicht zu rasch gehst. Denn du wächst langsam und darfst nicht den anderen und der Natur vorauseilen, sonst kommst du erneut in Schwierigkeiten. Du brauchst auch die Ruhe, – und deshalb höre ich hier auf..

Ein Wort zum Sonntag, nimm es oder lass es liegen.
[Publiziert am 27. November 2005 im Teppichhaus Trithemius, abcypsilon777. Blog.de]

Eine Furcht, stärker als der Mutter Hand

Ohne Erlaubnis ist ein Wanderer im unwegsamen Gebirge meiner Erinnerung unterwegs. Manchmal löst sich ein Brocken unter seinem Fuß, poltert herab und trudelt durch mein Bewusstsein. Da erinnere ich mich plötzlich an ein Erlebnis, bei dem ich etwa fünf Jahre alt war. Meine Mutter fuhr mit mir und meiner Sandkastenfreundin Josie mit dem Zug zu einem Verwandtenbesuch an die Mosel. Es waren Josies Verwandte. Josies Mutter stammte aus dem kleinen Moseldorf Ernst. Es gibt ein verschollenes Schwarz-weiß-Foto, so eines mit dem geriffelten weißen Rand. Meine Mutter in der Mitte trägt einen weiten Rock, eine Jacke und einen kecken Hut. Sie hat links und rechts Josie und mich an der Hand.

Gerade frage ich mich, wer das fotografiert hat. Vielleicht ist das Foto eines jener falschen Erinnerungen, die sich gerne mit richtigen verbacken, so dass ein nicht aufzulösendes Konglomerat entsteht.

Es war für mich die erste Fahrt mit der Eisenbahn. In Koblenz mussten wir umsteigen. Wir gingen durch eine belebte Unterführung, als uns ein Soldat oder Polizist in Uniform entgegenkam. Plötzlich bekam ich große Angst. Ich riss mich von der Hand meiner Mutter los und rannte weg. Warum der Uniformierte mich so ängstigte, weiß ich nicht. Böse Zungen könnten vermuten, dass ich wohl bereits im Kindergarten ein kleiner verstockter Verbrecher war, der die Polizei fürchten musste. In Wahrheit habe ich im Leben nur wenig mit der Polizei zu tun gehabt. Einmal, mit 19 Jahren wurde ich vorgeladen, weil ich in der Druckerei Fehldrucke von Fahrscheinen der Kölner Verkehrsbetriebe (KVB) an mich genommen hatte. Ich gab an, ich hätte ein einziges Blöckchen genommen, um daraus eine Collage zu gestalten, denn Leute vom grafische Gewerbe sähen in den Drucksachen einen anderen Wert als deren Auftraggeber. Die Sache wurde fallengelassen. Meine Furcht vor Soldaten war begründeter. Niemand versieht das Kriegshandwerk, niemand tötet seine Mitmenschen, ohne innerlich abzusterben. Folglich bin ich Kriegsdienstverweigerer.

An die Mosel gelangten wir damals doch, trafen wohl erst im Dunkeln ein. Am nächsten Morgen erwachte ich und sah vor dem Fenster eine Nebelwand. Als es heller wurde, verwandelte sich die Nebelwand in einen direkt hinterm Haus aufragenden Weinberg. Nie zuvor hatte ich einen derartig steilen Berg gesehen. Und dass ihm erlaubt war, so dreist gegen das Haus vorzurücken, war mir unbegreiflich.

Als Jugendlicher nächtigte ich mit Freunden in der Jugendherberge des Moselstädtchens Cochem. Josies Bruder Werner war auch dabei. Wir beschlossen, nach Ernst zu seinen Verwandten zu trampen. Eine Gruppe um Werner fand zuerst eine Mitfahrgelegenheit. Wir folgten wenig später nach. Ich erinnerte mich, dass die Verwandten Göbel hießen. Wir fanden im Ort eine Bäckerei, eine Metzgerei, einen Gasthof, ein Weingut Göbel, aber unsere Freunde waren verschwunden.

Die Poesie der Liste (2)

Die Poesie der Liste

Im hintersten Winkel meiner Festplatte fand ich heute eine Liste, die ich im Jahr 2003 erstellt habe. Dort sind SF-Romane aufgelistet, die im Zeitraum 1968 bis 1982 Jahre im Heyne Verlag erschienen sind und sich in meinem Besitz befanden. Im Jahr 2003 hauste ich nach einer Trennung in einem dunklen Eineinhalb-Zimmer-Apartment eines großen Neubaus in Aachen-Burtscheid. Ich hatte mir die Wohnung angesehen, als die Morgensonne hineinlugte. Zu anderen Tageszeiten lag sie im Schatten des darüberliegenden Balkons. Mein Leben verlief damals wie eine Achterbahnfahrt. Es gab nur jauchzende Höhen und niederdrückende Tiefen, selten Mittellagen, die mich zur Ruhe kommen ließen.

Damals entdeckte ich für mich den Internetmarktplatz Ebay und wusste endlich, was ich mit gut 400 SF-Taschenbüchern tun sollte, die ich aus Platzmangel lieblos im Keller aufbewahrte. Ein Schritt zurück:

Ende 1968 arbeitete ich zusammen mit meinem älteren Bruder in einer Kölner Druckerei. Zu unserem Feierabendritual am Freitagnachmittag gehörte, ins Zentrum zu fahren und in der Buchabteilung von Karstadt nach neuen SF-Büchern auszuschauen, die in einer Reihe aus dem Heyne Verlag erschienen. Mein Interesse an SF-Literatur hat mich auch während des Studiums in den 1970-er Jahren nicht verlassen. Einige Jahre zeichnete und gestaltete ich monatlich eine Seite für die Studenten-Zeitschrift „Aachener Prisma.“ Honorar gab es keines, aber man konnte bei einer Mitarbeiterin Rezensionsexemplare von Neuerscheinungen ordern. Das war besonders bei teuren Fachbüchern nützlich.

Irgendwann bat ich, bei SF-Verlagen Rezensionsexemplare zu bestellen. Ich wolle einen Aufsatz über Science Fiction verfassen. Ab dann sandte der Heyne Verlag regelmäßig seine gesamte Monatsproduktion, ohne ja eine Gegenleistung zu bekommen oder zu verlangen. Schenke einem Sammler die komplette Sammlung, und er wird das Interesse verlieren. So ging es auch mir. Die Bücher wurden mir lästig. Die meisten stellte ich ungelesen ins Regal, wo sie in zwei Reihen hintereinander verstaubten. Bei meinem Umzug nahm ich sie mit und deponierte sie im Keller. Für den Verkauf bei Ebay erstellte ich die Fleißarbeit der Liste. Ich glaube, ein Mann aus Freiburg hat die Sammlung für 440 DM gekauft. Die TB wären heute viel mehr wert, weil einige Titel lange vergriffen sind. Aber ich war jung brauchte das Geld.

Eine von 12 Seiten der Liste:

Episode aus dem Lehrerdasein (5) – Kollegentratsch

Zeugniszeit. Frau Ziegmann, eine neue Kollegin, die gerne ein bisschen hilflos tut, muss ein Zeugnis neu schreiben, weil nachträglich eine Note geändert wurde. Sie steht in der Tür zum Lehrerzimmer und ruft verzweifelt: „Ich kann nur mit dem spitzen Kuli schreiben, und der liegt zu Hause auf meinem Schreibtisch!“
„Soll ich Ihnen meinen Füller leihen?“, frage ich.
„Das geht doch nicht“, sagt sie.
„Wieso? Stimmt was nicht mit Ihrer Feinmotorik?“
„Das ist aber jetzt unverschämt!“, entgegnet sie.
„Den Druck einer zarten Damenhand hält mein Füller jederzeit aus“, sage ich und reiche ihr meinen Füller.
Sie nimmt ihn und schreibt ihr Zeugnis.

Vertraulich sagt Kollegin Gisela, die Ziegmann und Kollege Werner seien neuerdings ein Herz und eine Seele. Werner sei ja so geduldig und würde den ellenlangen Auslassungen der Ziegmann interessiert lauschen.
„Dann haben sich zwei gefunden“, sage ich, „solche elend langen Erzählungen sind ja auch seine Spezialität.“
„Ja“, sagte Gisela, „wie die vom Igel in der Garage und all den rätselhaften Flohbissen, mit denen alle Familienmitglieder bis zu den Knien aufwärts geplagt waren, unerklärlich zunächst, bis man den Igel als Wirtstier enttarnt hat.“

(Tagebuchnotiz von 1993)

Pferd Behrens

In unruhiger Nacht träumte ich von einem Mann mit dem Vornamen „Pferd.“ Sein ganzer Name lautete Pferd Behrens. Mehr weiß ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich an einen Kollegen im Referandariat namens Behrens. Sein Vorname ist mir entfallen. Nennen wir ihn Pferd. Pferd und ich, wir trafen uns wöchentlich im Fachseminar Deutsch. Zwei-dreimal bin ich bei ihm zu Hause gewesen, denn er wohnte mit seiner Frau und einem kleinen Kind wie ich im Aachener Frankenberger Viertel. Sie hatten zwei Zimmer, links und rechts des Hausflurs, was mir als sehr unbequem vorkam. Von seiner Frau erinnere ich nur noch, dass sie Gemütlichkeit verströmte, weil sie stets in plüschigen Schluppen umherging.

Pferd Behrens musste jeden Abend einen ganzen Kasten Bier austrinken, um schlafen zu können. Entsprechend aufgedunsen wirkte sein Gesicht. Es war immer hellrosa. (Ich erspare uns den Witz, er habe gesoffen wie ein Pferd.) Mich verband nicht viel mit ihm. Einmal wollte er mich zum Angeln am Fischteich seines Angelvereins mitnehmen, aber ich lehnte ab, weil mir Angeln als sinnlose Tätigkeit vorkam, vor allem für einen Vegetarier. Trotzdem hatten wir engen Kontakt. Der ging vornehmlich von ihm aus, denn er rief mich täglich mindestens einmal an. Wir schrieben zu dieser Zeit beide an unserer Examensarbeit. Mein Thema lautete: „Laterales Denken als Methode bei der Rezeption fiktionaler Texte im kommunikativen Literaturunterricht.“ Ich fand, schon wegen des Titels hätte ich eine Eins verdient gehabt, bekam aber nur eine Zwei plus, denn der Co-Gutachter fand, ich hätte zu viele Kommafehler gemacht.

Bei meiner Arbeit brauchte ich keine Hilfe, aber Pferd Behrens bei seiner. Er hatte eine neue Methode erdacht, wie man in Sätzen die Wortart Verb identifizieren kann. Wie das ging, weiß ich nicht mehr, aber das Thema seiner Examensarbeit war ebenso innovativ wie mein Thema. Ich fand es überflüssig, dass deutschsprachige Schüler*Innen in Sätzen nach Verben angeln, zumal der reine Grammatikunterricht in NRW abgeschafft war. Er kannte meine ablehnende Haltung zu isoliertem Grammatikunterricht für Muttersprachler, doch rief mich dauernd an, um mit mir grammatische Fragen zu erörtern. Seine Examensarbeit enthielt also einiges von meinem Gehirnschmalz.

Nach dem Zweiten Staatsexamen bekam er eine Stelle irgendwo im Selfkant, einer Region nördlich von Aachen, zog weg, ohne seine neue Adresse mitzuteilen, und meldete sich nie mehr – bis letzte Nacht. Da hatte er seinen Vornamen geändert in Pferd.

Waidmannsheil – Auf die Wildsau gehen

Kollege Noemix zitiert hier einen kuriosen Dialog aus der ARD-Telenovela “Sturm der Liebe“- es geht um eine verletzte Wildsau. Das erinnerte mich an einen Wildsaujäger, den ich vor fast acht Jahren in Bad Godesberg in der Kur kennengelernt habe. Er war ein kleiner stämmiger Rheinländer, vierschrötig mit grober ewig triefender Säufernase, Bauunternehmer im Ruhestand, bodenständig und von keinerlei Selbstzweifeln angefächelt. Er hatte im Vorjahr stolze 86[!] Wildschweine geschossen und mit besonders stattlichen Exemplaren schon zwei Goldmedaillen gewonnen.
„Un dies Jahr krieje isch och die Goldmedaille“, sagt er selbstbewusst. Der Keiler wäre schon erlegt. „Bei uns im Vorgebirge ham mir ja jute Böden, wenn man in der Eifel Wildschweine schießt, sind die Waffen oft abgebrochen von den Steinen.“
Was sind denn die Waffen, die Hauer etwa?
„Jo, jo!“
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