„So bleiben!“

Schon während ich das schreibe, schaffe ich nicht, was der reich tätowierte mann beim abschied von mir verlangte: „Bleib wie du bist!“ Das war erst gestern. Inzwischen ist unser planet auf seiner bahn um die sonne etwa 2,5 Millionen kilometer weitergedonnert. Falls wer nachrechnen möchte, das sind 107.200 stundenkilometer x 24 Stunden. Obendrauf käme noch die rotationsgeschwindigkeit der Erde von 1670 km/h, jetzt auch mal 24, wäre gerundet 40.000 + 107.200 = etwa 150.00 km/h. Genau genommen käme hier noch die geschwindigkeit unseres sonnensystems hinzu. Das solare sonnensystem kreist wohl mit 800.000 km/h um das zentrum der milchstraße.

Macht zusammen 2.500.000+150.000+800.000=3.450.000 km/h. Mit welcher geschwindigkeit unsere Milchstraße sich vom zentrum des urknalls fortbewegt, will ich lieber nicht wissen, desgleichen nicht, ob sich unser universum irgendwo hinbewegt. Mir ist jetzt schon schwindlig. Weil derlei kräfte seit gestern auf mich eingewirkt haben, bin ich schlicht um einen tag gealtert. Folglich bin ich beim besten willen nicht mehr so, wie ich gestern auf der terrasse im Von-Alten-Garten war, als der tätowierte mann mir abverlangte zu bleiben, wie ich bin.

Er hatte dort an einer bierflasche lutschend auf einer bank neben meiner gesessen, war dann aufgestanden, um die leere flasche sorgsam an den abfalleimer zu stellen. Im vorbeigehen sagte er: „Jetzt kannst du dich rüber setzen, da hast du mehr sonne. Außerdem“, fügte er mit schier kindlicher freude hinzu, „wohnt in der buche ein eichhörnchen.“
Ich habe schon mal ein eichhörnchen gesehen, war ich versucht zu sagen, wollte ihn aber nicht vor den kopf stoßen, sondern sagte: „Ein eichhörnchen? Wie schön!“

„Bleib, wie du bist!“ auf menschliches maß heruntergebrochen, sagte vielleicht ein früher Photograph zu seinem modell, damit das bild nicht verwackelte. „So bleiben! Gleich kommt das vögelchen!“ Das modell des malers muss nicht in einer position verharren. Einmal sollte Kurt Schwitters einen befreundeten arzt, den Dr. Schenzinger malen, derweil er klavier spielte. Schwitters berichtet: „Neben mir lag ein bierfilz. Dr. Schenzinger spielte die Mondscheinsonate erster Satz. Ich versuchte herauszufinden, ob seine Bewegungen charakteristisch für die Mondscheinsonate waren. Plötzlich kam mir die geniale, vielleicht minder geniale, jedenfalls eine Eingebung. Ich stand auf, bestrich den Bierfilzdeckel auf seiner Rückseite mit roter Farbe und klebte ihn auf die Wange des Profilbildes, das ich gemalt hatte. Es reichte vom Ohr bis zur Nase. Die Mondscheinsonate verstummte und Dr. Schenzinger fragte, was ich getan hätte. Ich hätte ihm den Bierfilz auf die Backe geklebt. Er sagte: ‚Nehmen Sie den Bierfilz ab.‘
‚Das tue ich nicht!‘
‚Dann nehme ich ihn ab!‘
‚Das werden Sie nicht tun, Sie würden die Einheit des Kunstwerks zerstören.‘
‚Der Bierfilz ist eine Beleidigung für mich.‘
‚Der Bierfilz charakterisiert Sie irgendwie.‘
‚Wie kann mich der Bierfilz charakterisieren?‘
‚Ich kann nicht sagen wie, aber er tut es, das fühle ich.‘
‚Und drückt er vielleicht die Mondscheinsonate aus? Wie stehen Sie zu der Frage, ob der Bierfilz Beethoven ausdrückt?‘
‚Mein Herr, denken Sie vielleicht, dass Sie selbst Beethoven ausdrücken?‘

Schwitters fuhr fort: „Dr. Schenzinger ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Seit der Zeit waren wir nicht mehr Freunde, besonders als ich das Bild mit der Bierfilzbacke als Portrait Dr. Schenzinger ausstellte.“ Dr. Schenzinger müsste inzwischen tot sein. Sein Bierfilzbackenportrait blieb wie es ist und sauste noch eine weile durch den Kosmos.

Bei einem spaziergang am beginn des ersten lockdowns begegnete mir ein vierschrötiger mann. Als wir uns passierten, befahl er mit hässlich quäkender stimme: „Bleiben Sie gesund!“ Mir war klar, dass damit ein wunsch gemeint war. Aber die befehlsform erregte nachhaltig meinen widerspruch. Möglicherweise wäre es anders gewesen, wenn die wunschformel schöner geklungen hätte, etwa wie aus dem mund eines engels. So aber konnte ich mich mit der übergriffigen formel: „Bleiben Sie gesund!“ nie anfreunden und oft habe ich gedacht: Ob ich gesund bleibe oder nicht, das geht dich einen dreck an!

„Bleib wie du bist!“, kann ich grad akzeptieren aus dem mund eines mannes, der sich freute, dass ich ihm mit achtung begegnet war.
Wenn nur die kosmischen kräfte nicht wären 😉

Die ihre hacken in den fluss werfen

Einem bauern im alten Griechenland ist die einzige hacke in den fluss gefallen. Er beklagt lauthals seinen verlust und will nicht aufhören mit seinem jammer. Irgendwann geht er den göttern so auf die nerven, dass sie ihm, um endlich ruhe zu haben, eine goldene hacke zuwerfen. Darob werfen auch andere bauern ihre hacken in den fluss. Das jammern will kein ende nehmen, und die götter schwören einander, niemals mehr zu reagieren, wenn menschen ihre stimmen erheben und ihre hände flehend gen himmel strecken.
Es hat sich wohl noch nicht herumgesprochen, weshalb die katholiken zwischen ostern und himmelfahrt frühmorgens mit bittprozessionen um die felder ziehen.

Ich erinnere mich: Ältere vorbeter leierten litaneien und wir kinder mussten mitlaufen und ebenfalls leiern: „erbarme dich unser“ oder „bitte für uns.“ In meiner kindheit war es üblich, dass jungen nach ostern kurze hosen trugen. Ich erinnere mich, gegen 6 uhr in der morgenkühle gebibbert zu haben. Ein älterer junge trug eine eng sitzende lederhose und schlug sich immer klatschend auf die oberschenkel, um sie aufzuwärmen.

Meine mutter zwang mich, bei den bittprozessionen mitzulaufen, ohne zu erklären, wozu das gut war. Sie folgte einfach der tradition der eltern, großeltern, urgroßeltern, ururgroßeltern bis hinab in finstere vergangenheit, als die bittprozessionen noch heidnische flurbegehungen waren und der kontrolle der flurgrenzen dienten. Bei den ripuarischen franken war das der grund, warum die knaben mitlaufen mussten. Es war rechtsbrauch, zum festlegen einer grenze, einen knaben mitzunehmen. Und war ein grenzstein gut in der erde, verabreichte man dem jungen ein paar schallende backpfeifen oder zog kräftig an seinem ohr. So würde er sich zeitlebens an die stelle erinnern und den grenzverlauf bezeugen können. Das wort „Zeuge“ kommt vom verb „ziehen“, der zeuge wäre demnach, der am ohr gezogen wurde.

Die bäume hinter meinen fenstern boten heute morgen einen wunderbarer kontrast zwischen licht und schatten. Wohin die sonne kam, erstrahlten die bemoosten äste und das frische blattwerk in kräftigem grün. Ich sah aus dem fenster, erinnerte mich an die zeit der bittprozessionen und wärmte mir die oberschenkel am heizkörper. Wie gut, dass wir keine knaben mehr am ohr ziehen müssen, weil wir inzwischen schrift, besitzurkunden und grenzkataster haben. Und das gejammer mit „erbarme dich unser“ können wir uns nach 2000 unerhörten jahren auch sparen. Wir gelten da oben nämlich als die bauern, die ihre hacken absichtlich in den fluss geworfen haben.

Sich das leben leicht machen

Als nicht anerkannter kriegsdienstverweigerer musste ich an einem manöver teilnehmen. Unser bataillon war im wald positioniert. Derweil wir uns dort einrichteten, hatte ein oberfeldwebel sich von rekruten eine dusche bauen lassen. Eine gießkanne hing im baum, und wenn er an einer strippe zog, neigte sie sich und versprühte kaltes wasser. Unter gejohle nahm der kerl ein duschbad. Ich staunte über die fähigkeit, sich mit der situation zu arrangieren und das beste daraus zu machen. Dass eine kalte dusche, bei der man im schlammigen waldboden steht und von johlenden deppen umringt ist, das attribut das “beste“ verdient, wird mancher bezweifeln.

Aber der feldwebel genoss es wohl und aus seiner sicht, war es das beste. Die fähigkeit, für sich das beste aus situationen herauszuholen, finde ich beneidenswert, und man kann sich denken, dass ich diese fähigkeit nicht habe, weil ich sonst das wort „beneidenswert“ nicht benutzt hätte. Mich zu arrangieren, beherrsche ich wohl, das beste aus einer situation zu machen aber nicht. Dazu gehört auch, für die dinge des lebens, für die alltäglichen schwierigkeiten, kreative lösungen zu finden. Das internet ist voll von sogenannten lifehacks, und man sollte annehmen, das unser planet inzwischen ein rundum erfreulicher ort ist, wo alles wunschgemäß „fluppt“, wie der Kölsche sagt.

Der einsatz meiner besteckschublade hat vier senkrechte fächer und an der stirnseite ein querfach. Gewohnheitsmäßig habe ich im querfach immer die kaffeelöffel gelagert, weshalb ich die schublade weit aufziehen musste, um daran zu gelangen. Meine putzhilfe hat kürzlich den einsatz gewendet, so dass jetzt die kaffeelöffel bequem erreichbar vorne liegen. Auf die idee, mir den alltag so zu erleichtern, quasi das beste aus der situation zu machen, wäre ich im leben nicht gekommen.

Warum jetzt die welt kein rundum erfreulicher ort ist, wo doch die probaten lösungen in großer zahl verfügbar sind, erklärt vielleicht folgende geschichte: Die letzten drei monate meines 18-monatigen wehrdienstes leistete ich Köln in der stammdiensstelle des heeres ab. Man verwaltete dort alle akten der unteroffiziersdienstgrade des heeres. Zu jener zeit war das scheidungsrecht geändert worden. Das Schuldprinzip bei Ehescheidungen wurde durch das Zerrüttungsprinzip abgelöst. Es mussten nun aus allen scheidungsurteilen, unteroffiziersdienstgrade betreffend, die begründungen mit den schulderwägungen herausgenommen und vernichtet werden. Die rohen soldatischen bürokräfte der stammdiensstelle hatten bald herausgefunden, welche akten interessanten lesestoff hergaben, sagten mir: „Den fall musst du mal lesen! Den auch!“ und so weiter. Ich erinnere mich an einen fall, bei dem ein kompaniechef seinen oberfeldwebel ständig auf manöver geschickt hatte, damit er in ruhe mit dessen frau herummachen konnte. Da habe ich habe mir den gehörnten oberfeldwebel immerzu unter der albernen gießkannendusche vorgestellt.
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Von Menschen und Fröschen

Kürzlich, also gestern von heute aus, staunte ich mal wieder über mich, genauer ich hätte gestaunt, wenn mir nicht zu kalt gewesen wäre. Ich saß nämlich schon ein weilchen in meinem lieblingssessel und fror. Eigentlich hätte ich nur aufstehen, drei meter gehen und nach einer decke greifen müssen. Aber ich konnte mich nicht dazu überreden. Etwas in mir dachte wohl, die heizung wird gleich anspringen und dich in wohlige wärme hüllen. Oder ein UFO in form eines riesenföns würde nahebei landen und mich warmpusten. Ich harrte also aus in der kälte, tat nichts, dachte mir höchstens quatsch zusammen oder wie man landläufig sagt, ich machte mir warme gedanken.

Dabei verheizte ich das restliche bisschen energie in mir, denn das gehirn ist bekanntlich der größte energieverbraucher. Während also die feuerluke meines gehirns weit offen stand und den holzstapel von hinterm haus verschlang, ohne dass mir eine alternative zum deckenholen eingefallen wäre, musste ich an den sonst glücklich vergessenen FDP-außenminister Philipp Rösler denken.

Der hatte in seiner antrittsrede als neuer FDP-parteivorsitzender genüsslich berichtet: „Wirft man einen Frosch in heißes Wasser, so hüpft er sofort wieder heraus. Setzt man ihn dagegen in kaltes Wasser und erhöht langsam die Temperatur, dann wird er nichts merken und nichts machen. Und wenn er es merkt, dann ist es zu spät für den Frosch.“ Dass in der sozialisation eines menschen etwas gewaltig schief laufen muss, damit er der FDP beitritt, kann man sich lebhaft vorstellen. Aber gehörte dazu auch ein brutales experiment mit fröschen? Oder war es die besondere perversion beim kleinen Philipp gewesen, die ihn letztlich an die parteispitze spülte?

Es ist an der zeit zu fragen, was in meiner sozialisation schief gelaufen ist, dass ich mir keine decke holen kann. Frösche bei lebendigem leib zu kochen, wäre mir nie in den sinn gekommen. Darum war die FDP für mich keine option. Aber einen unangenehmen zustand zu erdulden, auszuhalten wie ein langsam erhitzter frosch, gehörte zum denken meiner kindheit. Meine mutter lebte mir vor, was in der kriegsgeneration überlebensstrategie gewesen war. Die härten eines krieges, hunger, bombenterror, gewalt, brutalität, tod und zerstörung zu ertragen, fordert den klaglos leidenden untertanengeist. Und als die naziherrschaft überwunden war, lief das erdulden einfach weiter, wie ein abgesprungener, leer laufender antriebsriemen. Man beschwerte sich nicht, veränderte nichts, sondern arrangierte sich mit einschränkungen.

Ein Beispiel: In meiner lehrzeit war ich täglich 12 stunden unterwegs, fuhr morgens um 6:35 uhr mit dem bus nach Neuß, traf dort um 7:30 uhr ein, saß im warteraum des busbahnhofs eine halbe stunde ab, bevor ich um 8 Uhr die arbeit begann. Wenn ich nur 15 Minuten dieser fruchtlosen halben stunde hätte eher anfangen können zu arbeiten, wäre ich abends eine ganze stunde eher zu hause gewesen. Doch niemand wäre auf die idee gekommen, die arbeitszeiten an meine busverbindungen anzupassen, ich konnte derlei nicht mal denken. Als kürzlich viral ging, wie die junge frau im internet ihre optionen auf 30 tage urlaub und frisches obst am arbeitsplatz so bitterlich beklagte, musste ich weinen.


Allemal besser als erdulden?

Der frühling kommt auf leisen sohlen

Rot ist die einzige farbe, die die rote rose nicht hat. Ja, denn ihre blütenblätter nehmen alle farben des spektrums auf. Nur rot will die rose nicht haben. Daher strahlt sie es ab. So geht es mit allen farben, die wir unter der sonne sehen, stets sind sie der sache nicht zueigen. Beim menschen ist es zum glück anders. Seine ausstrahlung kommt von innen, ist also ein ausdruck seiner selbst. Allerdings ist nicht zu bestreiten, dass manche menschen etwas ausstrahlen, was sie nicht haben. Sie schauspielern, ahmen nach, was sie sich bei anderen abgeguckt haben. Es kann durchaus fruchtbar sein, sich bei anderen etwas abzugucken, besonders wenn man kenntnisse erwerben und fähigkeiten entwickeln, also wachsen will, womit wir endlich beim thema sind. Es geht um grün. Derzeit krabbelt die temperatur immer wieder über die magische zehn-grad-marke. Weil sie drei tage hintereinander über zehn grad celsius geblieben ist, wächst die natur. Grünen ist wachsen, niederländisch: „groeien“, schwedisch „gro“, englisch „to grow“. Alle diese wörter sind verwandt mit dem althochdeutschen Adjektiv „gruoen“, woraus unser adjektiv „grün“ entstand. „Grün“ ist wiederum eng mit „gras“ verwandt. Eigentlich bezeichnet unser farbadjektiv „grün“ demnach wachsendes gras.

Der frühling kommt auf leisen sohlen. Zehn grad, dann sprießen in den vorgärten die frühlingsblumen. Dass unsere vorfahren jedoch nicht die blumen, sondern das sprießende gras in ein wort für wachsen gefasst haben, ist ein hinweis auf ihre lebensweise. Sie waren ackerbauern und viehzüchter. Deshalb achteten sie in erster linie darauf, wenn nach dem harten winter das gras wieder wuchs und das vieh auf die weiden konnte. Demgemäß staunt der germane in der Edda, dass es nichts gab, bevor die welt entstand, nicht einmal gras.

    Urzeit war es, da Ymir hauste:
    nicht war Sand noch See noch Salzwogen,
    nicht Erde unten, noch oben Himmel,
    Gähnung grundlos, doch Gras nirgend.

    (Lieder-Edda, Völuspá 3)

Das gras grünt. Der satz ist pleonastisch, denn gras und grün bedeuten ja eigentlich das gleiche. Leider ist in der stadt vom grünen nicht viel zu sehen. „Da jedermann gehet, waechst kein Grasz“, wusste man schon 1622. Der germanische Schutzgott heimdall konnte das gras wachsen hören. Dazu ist der mensch nur im übertragenen sinne fähig, und wenn er es noch so hübsch besingt wie The Move in „I Can Hear the Grass Grow“ (1967). Unsere welt ist vermutlich viel zu laut. Egal jetzt. Über den winter kann meinetwegen gras wachsen.

Schönes wochenende!

Die Welt als Scheibe

Hätten wir nicht die Medien, würden wir vom ständigen Werden und Vergehen wenig mitbekommen. So aber wird täglich vermeldet, welche medialen Personen perdu sind. Alle anderen vergehen von der Öffentlichkeit fast unbemerkt. Ich schaue aus dem Fenster, sehe ein hutzeliges Fräulein in gelber Jacke, das oft durch die Nachbarschaft streift. Irgendwann werde ich es nicht mehr sehen, dann ist es gestorben und wurde ohne mein Wissen verbrannt oder verbuddelt. Ebenso in meiner Nachbarschaft ist ein Kindlein geboren. Da steht ein Kinderwagen im Flur. Später wird es ein Laufrad sein. Dann ist aus dem fremdbewegten ein selbstbewegtes Individuum geworden mit all den Entwicklungsfolgen.

Es ist viel leichter, sich die Welt als rotierende Scheibe zu denken. In ihrem Zentrum entsteht Leben, richtet sich auf und handelt, und indem es handelt, wird es kaum merklich durch die leise, aber stetig wirkende Zentrifugalkraft auf der Scheibe nach außen getrieben – hin zum Rand und purzelt hinunter. Kurz vor dem Rand macht das heutige Mensch einige Verrenkungen, um den Fallprozess hinauszuzögern. Darin gleicht es dem männlichen Küken, das auf dem Förderband zum Schredder treibt. Es macht, bevor es zwischen die stoisch mahlenden Walzen fällt, noch einen Trippelschritt zurück. Der menschliche Trippelschritt ist Sport, Medizin, Altersforschung und frommes Gebet.

Ähnlich dem biologischen Werden und Vergehen gibt es ein geistiges, nämlich das Entstehen, Aufstehen und die Fortentwicklung neuer Gedanken. Entstehend aus dem Zentrum der Scheibe wirken sie eine Weile in anderen Köpfen, erzeugen den Konsens des „Man denkt so, so denkt man nicht“, bis diese Übereinstimmung veraltet und über den Rand fällt.

Heute Morgen erwachte ich mit folgendem Bild in meinem Kopf: In einem Rundfunkstudio saß als Moderator einer Musikwunschsendung der Sänger Ben Blümel, der kürzlich in den von RTL verkitschten Passionsspielen den Jesus gemimt hat. Blümel trägt Kopfhörer auf dem Kopf, wo sonst. Im Off, aber für uns Betrachter sichtbar, ruft einer an und sagt: „Hallo, hier spricht Gott. Ich grüße alle, die mich kennen und wünsche mir ‚Rivers of Babylon‘ der Gruppe Bonnie M.“

Ich preise mich glücklich, diese Idee nicht in der Zeit der Inquisition gehabt zu haben. Freilich wären auch die schärfsten Denker dieser gnadenlosen Gerichtsbarkeit nicht in der Lage gewesen, die Blasphemie in diesem Bild zu verstehen, denn es mussten zuvor unzählige Menschen und Ideen entstehen, wirken und in den Schredder fallen, unter anderem der Bonnie-M.-Erfinder Frank Farian.

Irritierende Falschnehmungen

Die Frau im Gesprächskreis trug eine grüne Hose und ein grün gemustertes Oberteil. Wenn sie redete und etwas die Hände dabei bewegte, sah ich an ihnen immer zwei rosafarbene Gummihandschuhe, wie man sie in der Küche verwendet. Mein Hirn sah sich offenbar genötigt, das kräftige Grün durch eine komplementäre Farbe zu unterstreichen, mir also eine Falschnehmung unterzujubeln. Es wurde über fehlerhafte Erinnerungen gesprochen. Ich habe mein Beispiel zurückgehalten, weil ich dazu hätte weit ausholen müssen. Nämlich: In meiner autobiografischen Erzählung „Meuters Fluch“ schildere ich ein Ereignis, das sich in einer verrufenen Kneipe zugetragen hatte, im „Dreckigen Löffel“:

    (…) Man munkelte, die Schläger seien aus dem angrenzenden „Dreckigen Löffel“ gekommen, wo inzwischen eine Rockerbande verkehrte, die unsere Gegend terrorisierte. Ich habe eine Brandnarbe am rechten Unterarm. Die holte ich mir an der Theke des Dreckigen Löffels. Da wollte ich Geld für den Zigarettenautomaten wechseln und legte abwartend meinen Arm auf die Theke. Neben mir saß einer der Rocker auf dem Hocker. Während der Wirt das Wechselgeld hervorkramte, schob der blöde Rocker seinen Unterarm dicht an meinen und ließ seine brennende Kippe dazwischen fallen. Er hatte wohl damit gerechnet, dass ich gleich zurückzucken würde. Das tat ich aber nicht, sondern nutzte die Gelegenheit, mir Respekt zu verschaffen, und wartete, bis er seinen Arm wegzog. Ich habe noch immer eine helle, kreisrunde Narbe auf dem Unterarm, meine bleibende Erinnerung an Meuters Fluch.

Als ich vor einer Weile meinen Jugendfreund Fritz wiedertraf, der Meuters Fluch gelesen hatte, sagte er, der Rocker im Text sei übrigens er gewesen. Und er zeigte zum Beweis die Narbe auf seinem Unterarm vor, die in Form und Lage exakt mit meiner Narbe übereinstimmt. Ich konnte das gar nicht glauben, denn meine Erinnerung war die oben geschilderte. Zudem war Fritz auch in seiner Jugend ein Gemütsmensch, kein Rocker und so gar nicht auf Krawall aus. Wir saßen auch nie im Dreckigen Löffel an der Theke, sondern besuchten die angrenzende Diskothek. Meine literarische Version passt demnach besser, obwohl die Narben mich Lügen strafen. Bei den rosafarbenen Handschuhen warte ich aber noch auf den Gegenbeweis.

Und übrig bleibt das Nichts

Ich hätte nichts dagegen, wenn es dereinst von mir heißen würde: „‚Die Riemannsche Vermutung‘ hat er mathematisch nie beweisen können.“ Man würde denken, aha, er hat sich mit der bedeutendsten mathematischen Hypothese unserer Zeit beschäftigt. Dann muss er ein begabter Mathematiker gewesen sein.

Anderes Beispiel: Als am Aachener Bahnhof Rothe Erde ein ramschiger Discounter aufgab und umgewandelt wurde in einen Ein-Euro-Laden, musste er die verirrten Hungrigen abschrecken. Darum warb er mit der Negationsformel: „Kodi, der Markt, in dem es nichts zu essen gibt.“

Der kürzlich verstorbene deutsche Schauspieler Fitz Wepper war bekannt in seiner Rolle als Harry Klein an der Seite von Horst Tappert in der Krimiserie Derrick. In den Nachrufen auf Wepper ließ kein drittklassiger Journalist sich nehmen, darauf hinzuweisen, dass der an Wepper gerichtete Satz: „Harry, hol schon mal den Wagen!“, nie so gefallen sei. Das wünscht man sich, dass nach einem schaffensreichen Leben in erster Linie ein aus der Luft gegriffener Satz übrig bleibt. „Fritz Wepper, ein Mann, zu dem ein berühmter Satz nie gesagt wurde.“

Dann schon lieber, „Ein Mann, der die Riemannsche Vermutung nicht hat beweisen können.“

Die Macht der Kirche

Als ich einmal als junger Lehrer in einer Freistunde im leeren Lehrerzimmer saß, kamen zwei katholische Religionslehrer herein. Sie blickten sich verschwörerisch um und fanden wohl, dass die Luft rein wäre. Da hockten sie sich an einen entfernten Tisch, steckten die Köpfe zusammen und redeten. Sie saßen so weit weg, dass ich den Inhalt ihrer Rede nicht verstehen konnte. Aus dem Gemurmel tönte etwas hervor. Es ging wohl um „GV.“ Jetzt ist GV in meiner Heimat das Kfz-Kennzeichen von Grevenbroich gewesen und wurde übersetzt mit „Gefährlicher Verkehrsteilnehmer.“ Gemeinhin verhüllt das Akronym GV aber eine andere Art gefährlichen Verkehrs, meint nämlich den Geschlechtsverkehr.

Die tuschelnden katholischen Religionslehrer führten also ein konspiratives Fachgespräch über Geschlechtsverkehr. Bevor bei mir das Kopfkino ansprang und mir jugendgefährdende Bilder zeigte, hatte ich mich glücklicherweise eingehört. Das Thema der Kollegen war nicht Geschlechtsverkehr, sondern Generalvikariat. Diese mächtige Institution kürzen die Katholiken nämlich ebenfalls ab als GV. Man kann das seltsam finden. Ich glaube, dahinter steckt der Überwindungsgedanke. Wie die Katholiken bei der Christianisierung alle heidnischen Kultstätten schleiften und just an diesen Stellen ihre Wegkreuze, Kapellen und Gotteshäuser errichtet haben, wie ihre Schreibermönche heidnische Texte vom Papyrus schabten und sie mit frommen Buchstaben übermalt haben, so nennen sie eben die Unkeuschheit des Geschlechtsverkehrs „Generalvikariat.“ GV ist GV in schwarzen Kutten.

Worum ging es? Als ich die Stelle an diesem Gymnasium antrat, stellte ich verwundert fest, dass ich wie die meisten auch samstags zu unterrichteten hatte. Es waren insgesamt wenige Stunden, ungünstig auf den Vormittag verteilt, und der Grund war ein offenes Geheimnis, nämlich die mittwochs stattfindende Schulmesse. Mittwochs begann der reguläre Unterricht erst zur 2. Stunde, damit unsere frommen Schüler Zeit und Gelegenheit hatten, die Schulmesse zu besuchen. Wir waren kein kirchliches, sondern ein städtisches Gymnasium. Aber ein eifriger Religionslehrer im Priesteramt hatte mit der Macht der Kirche die 1. Mittwochsstunde okkupiert, und wer daran rüttelte, kriegte den Schädel rasiert und wurde exkommuniziert, mindestens aber als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Ein todesmutiger Kollege, gewiss ein verstockter Heide, hatte sich nun am Mittwochmorgen zur 1. Stunde ans Kirchenportal geschlichen und gezählt, wer das Angebot der Schulmesse überhaupt annahm. Er zählte über Wochen drei bis fünf fromme Schäflein. Auf einer Schulkonferenz teilte er das Ergebnis seiner Erhebung mit, argumentierte, wir könnten die Schulmesse auf die 7. Stunde verlegen und dafür den Samstag freimachen. Wenn nur so wenige aufrechte Schüler für unser aller Seelenheil beten würden, wären wir eh verdammt und müssten alle in Sünde sterben. Diesen Anschlag auf die Heilige Schulmesse hatten die empörten Religionslehrer dem Aachener Generalvikariat zugetragen und das GV aufgefordert, uns alle mit dem Kirchenbann zu belegen. Ich weiß nicht, was man beim GV unternommen hat, unsere 1. Stunde am Mittwoch zu behalten, aber sie kam irgendwann frei und damit auch unser Samstag.

Die Lüneburger wollten morgen einen verkaufsoffenen Sonntag abhalten. Der Einzelhandelsverband hatte Plakate drucken lassen und an seine Mitglieder verteilt. Die hatten ihre Schaufenster damit dekoriert und sich mit zusätzlicher Ware fürs erwartete große Verkaufsgeschäft eingedeckt, bis jemand aus dem Dekanat Lüneburg dem Generalvikariat Hildesheim, dem „GV“ also, gesteckt hat, dass die gottlosen Lüneburger Heiden den Heiligen Palmsonntag öffnen wollen für Geschacher und Verkauf, obwohl das laut niedersächsischer Landesverfassung verboten ist. Folglich mussten die Plakate wieder abgehängt werden. Im Fernsehen zeigte eine Händlerin ihre überbordende Osterware, die sie nach Ostern nicht mehr verkaufen könne. Recht so. Hätte sie mal Palmwedel besorgt. Als Binnenmigrant preise ich die niedersächsische Landesverfassung. Keine konsumverwirrten Idioten werden die Lüneburger Fußgängerzone verstopfen, wenn alle Niedersachsen des Tages gedenken, als Jesus unter Jubel und Palmgewedel auf einem Esel in Jerusalem eingeritten ist.

Ein Textvagabund – Was Finnen unter Kälte verstehen

In vielen Büros der Verwaltungen hängen launige Sprüche oder Texte an der Wand oder am Schwarzen Brett, mit denen man sich den Büroalltag versüßt. Einst wurden sie als Fotokopien verbreitet. Inzwischen werden sie per E-Mail oder Messenger weitergereicht und verbreiten sich im Internet, so beispielsweise die Geschichte vom Hund des Gewerkschafters oder die Anleitung „Wie man andere in den Wahnsinn treibt.“ Derlei Texte haben eine Weile Konjunktur, verschwinden dann in der Versenkung, bis sie irgendwer erneut in Umlauf bringt. Wer sie erdacht und niedergeschrieben hat, ist fast nie festzustellen. Es handelt sich wie bei Witzen oder urbanen Sagen um Textvagabunden.

Eines Tages, Jahre ist’s her, sandte mir mein Freund Jeremias Coster, Professor für Pataphysik und Leiter des Instituts für Datengeräte an der Technischen Hochschule Aachen, einen vagabundierenden Text zu. Es war nicht die erste dieser Art, denn Coster sammelte schon seit Jahrzehnten schriftliche Belege der Volkskultur. An Costers Exemplar erinnerte ich mich, nachdem ich gelesen habe, dass die Finnen mal wieder weltweit die glücklichsten Menschen sind. Der Textvagabund passt, weil’s nach einem einzigen Frühlingstag wieder lausig kalt geworden ist. Hier Costers Sendung, von mir für das Teestübchen formatiert:
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