Schon während ich das schreibe, schaffe ich nicht, was der reich tätowierte mann beim abschied von mir verlangte: „Bleib wie du bist!“ Das war erst gestern. Inzwischen ist unser planet auf seiner bahn um die sonne etwa 2,5 Millionen kilometer weitergedonnert. Falls wer nachrechnen möchte, das sind 107.200 stundenkilometer x 24 Stunden. Obendrauf käme noch die rotationsgeschwindigkeit der Erde von 1670 km/h, jetzt auch mal 24, wäre gerundet 40.000 + 107.200 = etwa 150.00 km/h. Genau genommen käme hier noch die geschwindigkeit unseres sonnensystems hinzu. Das solare sonnensystem kreist wohl mit 800.000 km/h um das zentrum der milchstraße.
Macht zusammen 2.500.000+150.000+800.000=3.450.000 km/h. Mit welcher geschwindigkeit unsere Milchstraße sich vom zentrum des urknalls fortbewegt, will ich lieber nicht wissen, desgleichen nicht, ob sich unser universum irgendwo hinbewegt. Mir ist jetzt schon schwindlig. Weil derlei kräfte seit gestern auf mich eingewirkt haben, bin ich schlicht um einen tag gealtert. Folglich bin ich beim besten willen nicht mehr so, wie ich gestern auf der terrasse im Von-Alten-Garten war, als der tätowierte mann mir abverlangte zu bleiben, wie ich bin.
Er hatte dort an einer bierflasche lutschend auf einer bank neben meiner gesessen, war dann aufgestanden, um die leere flasche sorgsam an den abfalleimer zu stellen. Im vorbeigehen sagte er: „Jetzt kannst du dich rüber setzen, da hast du mehr sonne. Außerdem“, fügte er mit schier kindlicher freude hinzu, „wohnt in der buche ein eichhörnchen.“
Ich habe schon mal ein eichhörnchen gesehen, war ich versucht zu sagen, wollte ihn aber nicht vor den kopf stoßen, sondern sagte: „Ein eichhörnchen? Wie schön!“
„Bleib, wie du bist!“ auf menschliches maß heruntergebrochen, sagte vielleicht ein früher Photograph zu seinem modell, damit das bild nicht verwackelte. „So bleiben! Gleich kommt das vögelchen!“ Das modell des malers muss nicht in einer position verharren. Einmal sollte Kurt Schwitters einen befreundeten arzt, den Dr. Schenzinger malen, derweil er klavier spielte. Schwitters berichtet: „Neben mir lag ein bierfilz. Dr. Schenzinger spielte die Mondscheinsonate erster Satz. Ich versuchte herauszufinden, ob seine Bewegungen charakteristisch für die Mondscheinsonate waren. Plötzlich kam mir die geniale, vielleicht minder geniale, jedenfalls eine Eingebung. Ich stand auf, bestrich den Bierfilzdeckel auf seiner Rückseite mit roter Farbe und klebte ihn auf die Wange des Profilbildes, das ich gemalt hatte. Es reichte vom Ohr bis zur Nase. Die Mondscheinsonate verstummte und Dr. Schenzinger fragte, was ich getan hätte. Ich hätte ihm den Bierfilz auf die Backe geklebt. Er sagte: ‚Nehmen Sie den Bierfilz ab.‘
‚Das tue ich nicht!‘
‚Dann nehme ich ihn ab!‘
‚Das werden Sie nicht tun, Sie würden die Einheit des Kunstwerks zerstören.‘
‚Der Bierfilz ist eine Beleidigung für mich.‘
‚Der Bierfilz charakterisiert Sie irgendwie.‘
‚Wie kann mich der Bierfilz charakterisieren?‘
‚Ich kann nicht sagen wie, aber er tut es, das fühle ich.‘
‚Und drückt er vielleicht die Mondscheinsonate aus? Wie stehen Sie zu der Frage, ob der Bierfilz Beethoven ausdrückt?‘
‚Mein Herr, denken Sie vielleicht, dass Sie selbst Beethoven ausdrücken?‘
Schwitters fuhr fort: „Dr. Schenzinger ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Seit der Zeit waren wir nicht mehr Freunde, besonders als ich das Bild mit der Bierfilzbacke als Portrait Dr. Schenzinger ausstellte.“ Dr. Schenzinger müsste inzwischen tot sein. Sein Bierfilzbackenportrait blieb wie es ist und sauste noch eine weile durch den Kosmos.
Bei einem spaziergang am beginn des ersten lockdowns begegnete mir ein vierschrötiger mann. Als wir uns passierten, befahl er mit hässlich quäkender stimme: „Bleiben Sie gesund!“ Mir war klar, dass damit ein wunsch gemeint war. Aber die befehlsform erregte nachhaltig meinen widerspruch. Möglicherweise wäre es anders gewesen, wenn die wunschformel schöner geklungen hätte, etwa wie aus dem mund eines engels. So aber konnte ich mich mit der übergriffigen formel: „Bleiben Sie gesund!“ nie anfreunden und oft habe ich gedacht: Ob ich gesund bleibe oder nicht, das geht dich einen dreck an!
„Bleib wie du bist!“, kann ich grad akzeptieren aus dem mund eines mannes, der sich freute, dass ich ihm mit achtung begegnet war.
Wenn nur die kosmischen kräfte nicht wären 😉