Zeugniszeit

In den Jahren 1990 bis 2000 habe ich regelmäßig Tagebuch geführt. Ich schrieb in DIN-A5-Chinakladden, solche mit schwarzem Einband, eingefasst mit roten Dreiecken. In eine Kladde passten etwa zwei Monate; pro Jahr macht das fünf bis sechs Bände. Eine Weile habe ich gelegentlich das aktuelle Datum des Tages im Jahrzehnt der Tagebücher aufgesucht und nachgeschaut, was mich damals beschäftigt hat. Es war und ist eine Zeitreise in eine versunkene Welt. Vor 30 Jahren, am 8. Juni 1992 habe ich als Klassenlehrer einer 9. Klasse Zeugnisse geschrieben, die Namen jeweils kalligrafisch. Es war die Arbeit eines ganzen Nachmittags. Im Tagebuch findet sich folgende Notiz:

Der stellvertretende Schulleiter hatte die digitale Erfassung der Zeugnisnoten und den Computerausdruck der Zeugnisse vorangetrieben und pries das Angebot an als Arbeitserleichterung. Nach und nach war das Kollegium auf das Angebot eingeschwenkt, bis auf den genannten Kollegen und mich. Ein Jahr später trat der stellvertretende Schulleiter an mich heran und sagte: „Ich bitte dich, die Zeugnisnoten deiner Klasse ebenfalls digital zu erfassen und die Zeugnisse ausdrucken zu lassen.“
„Warum?“
„Das geht aus Gründen der Gleichbehandlung nicht anders.“
„Was du zuerst nur als Angebot vorgestellt hast, wird jetzt zur Norm? Die ersten Zeugnisse, die vom Computerdrucker ausgespuckt wurden, verstießen doch auch gegen die Gleichbehandlung.“
„Ja, aber jetzt bist du der einzige, der nicht mitmacht. Also schließe dich uns an.“
“Dir ist klar, dass es davon kein Zurück mehr gibt?“, sagte ich und fügte mich widerwillig dieser formalen Nivellierung nach unten. (Die Sache ist hier schon ausführlicher beschrieben.)