Wie einer lernte, das Telefon zu hassen (3)

Zu Hause hätten sie ja in dieser Zeit kein Telefon gehabt, fuhr mein Freund fort. Aber auch dort hätten ihm die liebestrunkenen Mädchen keine Ruhe gelassen. Sie riefen einfach in der Nachbarschaft beim Ehepaar Ruß an.
„Frau Ruß kam in ihren rosa Plüschpantöffelchen über den Gehweg getrippelt und klingelte mich heraus.
,Ein Mädchen ist am Telefon und möchte dich dringend sprechen. Beeil dich! Es scheint wichtig zu sein!‘
Du musst wissen“, erläuterte Carlsen, „dass Frau Ruß die Ehefrau von Herrn Ruß war.“
„Ach, das hätte ich nicht von den beiden gedacht. Es muss halt alles seine Richtigkeit haben auf dem Dorf.“
Carlsen ignorierte meine Bemerkung.

„Ja, und Herr Ruß war mein strenger Lehrer in der Volksschule gewesen. Wenn mich also Frau Ruß die Treppen hinauf zu ihrem Telefon abführte, war mir, als träte ich gleich vor meinen Scharfrichter. Mein Herz klopfte wie wild, und ich hatte die Zunge bereits quer im Maul, bevor ich die Wohnung meines ehemaligen Lehrers betrat. In der Diele der Eheleute Ruß stand auf einem Tischlein unter dem Garderobenspiegel mein Folterinstrument, das Telefon. Seine obszöne Hässlichkeit war noch unterstrichen durch eine grüne Samthaube, aus dem die Wählscheibe kreisrund ausgespart war. Die Ränder waren mit goldfarbenen Brokatborten verziert. Frau Ruß übergab mir den ebenfalls häubchenverzierten Hörer und zog sich scheinbar diskret ins angrenzende Wohnzimmer zurück. Aber die Tür blieb nur angelehnt, so dass ich mir vorstellen konnte, wie Frau und Herr Ruß begierig jedes meiner Worte aufzufangen versuchten, Frau Ruß, um zu erfahren, aus welchem wichtigen Grund ihre nachbarschaftliche Hilfe gefragt war, Herr Ruß, um zu hören, ob die Züchtigkeit gewahrt blieb und ob ich fähig war, mich mithilfe eines modernen Fernsprechapparates zu verständigen.

Ich sagte Hallo? in die Sprechmuschel hinein.
,Ich bin’s! Warum sprichst du so leise?‘, tönte es aus dem Hörer zurück.
,Bärbel?‘
,Wieso Bärbel? Ich bin’s, Monika. Machst du wieder mit dieser Bärbel rum?‘
,Nein, natürlich nicht. Du musst schon entschuldigen, aber eure Telefonstimmen sind ähnlich. Und sie hat sich auch mit Ich bin’s gemeldet.‘
Ein Augenblick war Stille, und ich hatte Zeit, mich im Garderobenspiegel zu betrachten. Meine Ohren glühten.
Monika atmete tief. ,Ich muss jetzt wissen, ob du mich wirklich liebst.‘
,Warum?‘
,Und du fragst auch noch warum?! Ich habe mich zufällig mit Bärbel unterhalten. Was war das da mit dem Gerede von Verlobungskarten? Versprichst du jeder hergelaufenen Tussi gleich die Verlobung?‘
,Hallo? Ich bin erst 17.‘
,Schlimm genug.‘
,Lass uns in Ruhe reden. Ich kann jetzt nicht gut. Wir können uns ja treffen.‘
,Ach, wie gnädig, der Herr, wir können uns ja treffen. Am Telefon geht es jetzt nicht‘, höhnte Monika.

Aus dem Wohnzimmer der Eheleute Ruß kam ein Hüsteln, erst von ihr, dann von ihm. Ich hörte beide leise diskutierten. Am Ende setzte Herr Ruß sich durch, und Frau Ruß kam in die Diele mit den Worten: ,Herr Ruß findet, du solltest jetzt das Gespräch beenden!'“

(Fortsetzung)