Folge 1 –
Gemäß einem grausamen Beschluss der Schöpfung, werden die meisten Lebewesen dieses Planeten unter einem Unstern geboren. Sie müssen von der ersten Minute an um ihr Leben fürchten, sind auch hinfort niemals sicher. So sehr sie umher krabbeln und sich strecken, sie werden gefressen, zermalmt, zerfetzt, ersäuft, dahingemordet. Unter den wenigen vom Schicksal begünstigten Menschen gibt es einige, die trotzdem leiden, weil sie unter einem Fluch leben. Er scheint bei ihrer Geburt ausgesprochen zu sein und ist durch nichts abzuwenden.
Als Herr Dumont sich seine Wohnung angeschaut hatte, war sie noch möbiliert gewesen. Am Ende des langen Flurs hatte ein wuchtiger Eichenschrank gestanden. Doch als er einzog, war der Schrank fort, und es zeigte sich, wo er gestanden hatte, diese verschlossene Tür, zu der niemand einen Schlüssel hatte. Der Fluch seiner Kindheit traf ihn wie ein Schlag.
Theo Dumont war bei seinen Großeltern aufgewachsen, nachdem seine Eltern ihn dort abgeladen hatten, damit sie ungestört in der Weltgeschichte herumreisen konnten. Die Großeltern lebten im niederländischen Limburg, und zwar im Dorf Berg en Terblijt. Theo Dumont erinnerte sich an seinen ersten Besuch, die Ankunft, mit der sein bisheriges Leben schlagartig endete und einem Alptraum wich. Er musste neun Jahre alt gewesen sein und saß auf der Rückbank einer Limousine. Sein Vater steuerte den schweren Wagen über eine Brücke, unter der das Flüsschen Geule dahinplätscherte. Hinter der Brücke bog die Straße, damals noch ein Weg, scharf nach rechts und folgte dem Flussufer, bevor sie sich im stolzen Bogen nach links wandte und einen steilen Berg hinauf strebte. Am Fuß des Anstiegs parkte sein Vater, sie stiegen aus und überquerten die Straße. Auf der anderen Seite stand turmhoch der Mergel an. Oberhalb der Abbruchkante war der Berg dicht bewaldet.
Wind und Wetter hatten den eigentlich gelben Mergelstein eingetrübt, aber mitten im Grau der Felswand sah Theo Dumont zwei kleine Fenster mit Gardinen, dazwischen eine grün gestrichene Haustür, die Grottenwohnung seiner Großeltern. Der Großvater hatte in seiner Jugend noch in den Bergwerksstollen geschuftet und Mergel aus dem Berg gesägt. Schon die Römer hatten den Mergel als Baustein geschätzt. Er war nicht nur leicht zu verarbeiten, sondern schuf auch ein angenehmes Raumklima in den damit errichteten Häusern. Sämtliche Gebäude der Region waren einst aus Mergelstein erbaut worden. Nach beinah zwei Jahrtausenden, in denen man den Berg beraubt, Gänge, Stollen und Hallen gegraben hatte, war ein Gangsystem von mehreren hundert Kilometern entstanden, das sich bis zur Maas und weit ins heutige Belgien erstreckt. Die Grottenwohnung mit ihren drei Zimmerchen war einst für arme Bergarbeiter gegraben worden. Theo Dumont sollte das fensterlose hintere Zimmerlein seines Onkels beziehen. Onkel Rob war jetzt erwachsen und studierte etwas Unaussprechliches an einer dubiosen Universität. Im Dorf hatte Rob schon in jungen Jahren nur „Die oude man“ (Der alte Mann) geheißen, was gewiss damit zusammenhing, dass sein einst schwarzes Haar aufgrund rätselhafter Umstände in einer Nacht schlohweiß geworden war.
Herr Dumont sah sich, „die kleine Theo“, noch sein Köfferchen neben dem fremden Bett abstellen, und wie er an der rückwärtigen Zimmerwand die verschlossene Eichentür entdeckte. Da ereilte ihn der Fluch. Mit dieser stets verschlossenen Tür wurde die Wohnung vom gewaltigen Höhlensystem abgeschottet. Gegen alles, was in den finsteren Tunneln hauste, was dort waberte und sich gegen die Menschenskinder in der Höhlenwohnung ballte, schützte nur die eine Tür, direkt neben seinem Bett.