Freund Fritz sandte mir eine Postkarte. Sie zeigt in verkleinerter Version ein Plakat des Arbeitskreises „Bücherbrücke West – Ost“ von 1956 mit dem Slogan: „Schick auch ein Buch nach Drüben.“ Dieses „Drüben“ meinte die DDR – in der Diktion der Adenauer-Ära „die Sowjetzone“ oder „die Ostzone.“ Als Ende der 1960-er Jahre in der Bundesrepublik die Jugend gegen die herrschende Politik aufbegehrte und eine außerparlamentarische Opposition formierte, hielt man deren Vertretern gern entgegen: „Geh doch nach drüben!“ Das Plakat schickt einen Bücherpfeil von links unten nach rechts oben in eine für mich imaginäre Welt, denn ich habe dieses Drüben nie gekannt.
Als ich in den 1990-er Jahren erstmals dort zu tun hatte, existierten nur Reste. Beispielsweise war die Altstadt von Görlitz etwa zur Hälfte restauriert. Verfallene Bauten der anderen Hälfte zeigten, wie Drüben wohl zuletzt ausgesehen hatte. Auch habe ich in Berlin noch den Palast der Republik besichtigt. Bei einem späteren Besuch war er bereits abgerissen, ein barbarischer Akt von Siegermentalität. Angeblich war der Palast asbestverseucht, aber dass man ihn nicht sanierte, erinnert an den christlichen Überwindungsgedanken, als im Zuge der Christianisierung alle heidnischen Kultplätze mit christlichen Bauten überformt wurden. Entsprechend finden sich heute auf dem Gelände des Palastes Konsumtempel.
Siegermentalität und Überwindungsgedanke zeigt sich auch beim Duden. Als ich letztens für diesen Text recherchieren wollte, wie der Redaktionsleiter der letzten Ausgabe des Leipziger Duden (DDR) hieß, fand ich im Wikipedia-Eintrag und auch auf der Seite des Duden Verlags keinen Hinweis. Auch das Bibliographische Institut in Leipzig, das den DDR-Duden in 5. Auflage bis 1989 herausgegeben hatte, existiert nicht mehr. Im Jahr 1991 war es dem Mannheimer Lexikonverlag Bibliographisches Institut und der F.A. Brockhaus AG einverleibt worden. Damit war das Ende der 60 Mitarbeiter großen Leipziger Redaktion gekommen. Redaktionsleiter Dieter Baer ging in den Ruhestand. Inzwischen gehört der gesamtdeutsche Duden zur Unternehmensgruppe Cornelsen.
Es war vor der Wiedervereinigung nicht nötig gewesen, einen Mannheimer Duden nach drüben zu schicken, denn auch der Leipziger Duden galt für den gesamten deutschen Sprachraum. Ich bin glücklicher Besitzer des letzten DDR-Duden von 1989. Ein Freund und Kollege hat ihn für mich von einem Berliner Büchermüllhaufen gerettet. Der DDR überdrüssige Bürger haben sich nach der Wiedervereinigung schmählich der DDR-Literatur entledigt. Hätte ich das weinrot eingebundene Buch nicht, wäre der Name Dieter Baer ebenfalls im Orkus der Geschichte verschwunden.