Schneller brauner Fuchs springt über faulen Hund

Nach langer Zeit traf sich ein Teil der Hack-Gruppe wieder bei Herrn Putzig. Zu meinem Bedauern fehlte aber Konrad Fischer. Ein anderer Gast sollte mir bekannt gewesen sein, denn er hatte vor Jahren auf der Geburtstagsfeier von Filipe d’Accord „Aufgelegt“, was ja die landläufige Bezeichnung für die Tätigkeit des Discjockeys ist. „Auflegen“ meint „Schallplatten auf den Plattenteller legen“, was heute selten geschieht. Die Arbeit des Discjockeys beginne beim Studium der einschlägigen Musik-Fachpresse, erfuhr ich. Hernach werde die Musik angehört und, wenn gut befunden, aufgesucht und in Playlists zusammengestellt. Beim „Auflegen“ drücke er nur noch Knöpfe, sagte der Gast.

Das Wort „Auflegen“ ist also eine von den versinkenden Metaphern. Bald werden nur noch wenige seine Herkunft kennen. Hernach wurde über Probleme mit Tanten gesprochen, was mich nur mäßig interessierte, denn ich habe theoretisch zwar Tanten im Rheinland, weiß aber nichts mehr von ihnen. Aber ich wollte sowieso von einem anderen Gespräch berichten.

Einmal bei einer Silvesterfete in Aachen unterhielt ich mich mit einem Doktoranden der Theoretischen Physik. Noch nie hatte ich mit einem Menschen gesprochen, der Theoretische Physik betreibt. Wie geht das wohl? Wir sprachen übers Schreiben, denn neben mir stand der Freund, mit dem ich einen Kriminalroman geschrieben hatte, und der Mann der theoretischen Physik beneidete uns, da er eben nur theoretische Physik zu schreiben habe. Ich sagte, dass englische Wissenschaftler wohl auch theoretische Physik zu erzählen wüssten. Der Physiker nickte: „Das ist so. Doch die Engländer selbst sagen, wenn man eine Arbeit über theoretische Physik lesen wolle, die knapp ist und nur das Wichtige in geraffter Form enthält, dann würde man auch als Engländer lieber die Arbeit eines deutschen Wissenschaftlers lesen.“

Dazu konnte ich ein Beispiel beitragen: Zu der Zeit, als man noch Fernschreiber mit Lochstreifen benutzte, hatten englische wie deutsche Fernmeldetechniker einen Funktionstest, um festzustellen, ob auch alle Zeichen korrekt übertragen werden. Die Engländer sendeten einen Satz, der alle Buchstaben des Alphabets enthält:

    THE QUICK BROWN FOX JUMPS OVER THE LAZY DOG.

Die Deutschen Fermelder sendeten als Funktionstest nur „R“ und „Y“, denn diese beiden Buchstaben decken die gesamte Lochstreifenmatrix ab. Wenn R und Y korrekt übermittelt werden, sind der Datenweg und die Maschinerie in Ordnung.

Die Buchstaben R und Y (grau unterlegt) nutzen zusammen alle Nadeln der Lochstreifenmatrix


Das ist also der Unterschied: Deutsche Wissenschaft: RY
Englische Wissenschaft: THE QUICK BROWN FOX JUMPS OVER THE LAZY DOG.
Jetzt kommst du!

Einstweilen wünsche ich allen, seien sie Aufleger, Physiker, Fernmelder, Tanten oder sonst was Schönes, einen guten Rutsch und ein frohes neues Jahr!

Eilt! Wichtig! Wichtig! – Das letzte Telegramm

Auf meinem Smartphone befindet sich der von mir selten genutzte Messenger-Dienst „telegram.“ Es handelt sich um die englische Schreibweise des eingedeutschten Fremdwortes „Telegramm“, zusammengesetzt aus griechisch tele = fern und gramma = Buchstabe, Schrift, zu Deutsch „Fernschreiben.“ Telegramme sind aus dem öffentlichen Leben verschwunden. Ihre hohe Zeit hatten sie vor der Verbreitung des Telefons. In meiner Jugend Ende der 1960-er Jahre auf einem rheinischen Dorf hatten nur wenige Familien ein Telefon. In meinem Fall waren es die Nachbarn Ruß. Herr Ruß war mein Lehrer in der Volksschule gewesen. Aus wichtigen Gründen wurde bei Ruß angerufen. Traf ein solcher Anruf ein, kam Frau Ruß in den rosafarbenen Pantoffeln zu uns nach nebenan und rief ans Telefon. Was ein wichtiger Grund war, wurde unterschiedlich definiert. Beispielsweise gab es ein Mädchen, das anrief, um von mir Liebesbeteuerungen zu hören. Es war eine Pein für mich, denn das Telefon der Familie Ruß stand in der Diele, und durch die nur angelehnte Wohnzimmertür lauschten die Ruß mit. Ich stand mit roten Ohren in der Diele und hatte Zungenlähmung. Ein Telegramm wäre angenehmer gewesen:

    ++ LIEBE MICH! ++ SONST SATZ HEISSE OHREN! ++

Naturgemäß war der Inhalt von Telegramm-Botschaften in der Regel dramatischer, wie im gezeigten Beispiel:


Die Kürze war nicht nur im Fall des ohnehin blanken Sohns geboten. Denn jedes Wort kostete extra, weshalb der sogenannte Telegrammstil üblich wurde. Man diktierte den Text einem Postbeamten. Der übermittelte den Text mittels Fernschreiber an ein Telegrafenamt in der Nähe des Adressaten. Die streifenförmige Nachricht aus dem Fernschreiber wurde zurechtgeschnitten und auf einen Vordruck geklebt. Ein Motorradbote überbrachte das Telegramm noch am selben Tag. Noch im Jahr 1978 wurden nach Angaben der Deutschen Bundespost etwa 13 Millionen Telegramme übermittelt.

Diesen Dienst stellt die Post mangels Nachfrage zum Jahresende am 31. Dezember 2022 ein. Die Schrift- und Buchkultur bröckelt zuerst an ihren Rändern. Meine lieben Damen und Herren! Georg-Cristoph Lichtenberg wünschte sich das letzte Buch zu kennen. Ihr Teestübchenbetreiber wünscht sich, das letzte Telegramm zu bekommen. Man kann den Dienst im Internet nutzen. Für alle Fälle:

Die Erzählung meines Bruders und ihr wahrer Kern

Mein fünf Jahre älterer Bruder erzählte mir gerne Märchen, so auch, dass er als Messdiener in die Turmspitze unserer Pfarrkirche St. Martinus geklettert war. Im Dach habe es nur ein Zickzack von Leitern gegeben. Die Kugel auf der Spitze sei mit einer Falltür gesichert gewesen. Da habe er reinschauen können und verstaubte Schriftstücke gesehen. Als ich zehn Jahre später Mitglied des Kirchenchors war, durfte ich während der Messe auf der Orgelempore sein. Da stieg ich einmal hinauf in den Glockenturm. In der Turmspitze waren durchaus Leitern zu ahnen, aber verloren sich in der Finsternis, so dass ich die Erzählung meines Bruders verwarf.

Vor zwei Jahren ist er verstorben, kann also nicht mehr befragt werden. Inzwischen glaube ich, dass es sich bei der Erzählung meines Bruders um einen von Messdienern über die Generationen weitergegebenen Mythos handelt. So wie sie einander die lateinischen Gebete der Liturgie mündlich weitergaben und verfälschten, weil sie kein Latein verstanden, erzählten sie von Inhalten der Turmkugel, ohne sie je gesehen zu haben.

Über das gern gelesene Blog des Aachener Historikers und Archivars Klaus Graf wurde ich aufmerksam auf einen Aufsatz über Turmkugelarchive. Der Historiker Beat Kümin schreibt in „Nachrichten für die Nachwelt. Turmkugelarchive in der Erinnerungskultur des deutschsprachigen Europa“, es „(…) dürften mit Sicherheit Hunderte, aber wahrscheinlich Tausende dieser meist aus vergoldetem Metall gefertigten Behälter – mit oder ohne Wissen der Anwohner – hermetisch verschlossene Hülsen, Röhrchen oder Schachteln mit geheimnisvollen Nachrichten und Materialien enthalten.“ Gefunden werden diese „Einlagen“, nachdem eine Turmkugel abgenommen wurde, um sie beispielsweise neu zu vergolden.

Als ich etwa die 8. Klasse der Volksschule besuchte, gab es in meinem Heimatdorf Nettesheim ein spektakuäres Ereignis, zu dem sich viele Dorfbewohner eingefunden hatten. Da war die örtliche Dachdeckerfamilie mit drei Generationen auf dem Kirchturm, um den renovierungsbedürftigen Wetterhahn von der Spitze zu holen. Ich erinnere mich, dass ich Großvater, Vater und Sohn in schwindelerregender Höhe mit Bangigkeit beobachtete. Dabei beeindruckte mich besonders, dass der Sohn mein Mitschüler Juppi aus dem Jahrgang unter mir war.

[Im Bild: St. Martinus Nettesheim, Foto: Wikipedia] zum Vergrößern bitte klicken.

Turmkugelarchive zu bergen und wieder auf die Turmspitze zu setzen, ist demnach Aufgabe der Dachdecker. In Rosdorf bei Göttingen hat im Jahr 1749 der Schieferdecker nicht nur neue Schuhe und Strümpfe verlangt, sondern auch mit Kugel, Fahne und Musikbegleitung durch die Gemeinde ziehen zu dürfen, schreibt Kümin. Nachdem der Dachdecker die Kugel wieder auf die Turmspitze gesteckt hatte, setzte er sich oben drauf, um die neuen Strümpfe und Schuhe anzuziehen.

Was wird nun aufbewahrt in den Turmkugelarchiven? Kümin schreibt: „Stellvertretend mag hier die Apostelkirche Hannover stehen, wo das Spektrum 1882 Baudokumentationen, Grußworte einer benachbarten Pfarrei sowie eines Handwerkbetriebs, Werbematerial für die Landeslotterie, Spendenaufrufe, den zuvor im Grundstein eingeschlossenen Text, einen Führer durch das Gotteshaus, Bilder der königlichen Familie sowie verschiedene Zeitungen und Münzen umfasste.“ Die Einlagen sind Dokumente ihrer Zeit und als Botschaften für nachkommende Generationen. gedacht. Kümin spricht von einem Rhythmus „absichtlicher Zufälligkeit“ und nennt zwei Generationen als Öffnungs- und Sichtungsintervalle.

In einer Turmkugel in Allerstedt fand man im Jahr 1927 die fast bange Frage an die Zukunft:

    „Was wird an Errungenschaften da sein, wenn wieder einmal diese letzten Nachrichten gelesen werden! Wird man vielleicht lächeln über das, worüber wir noch staunen?“

Über Schreibmaschinen und Suppe

In meinem Kopf geht mal wieder einiges durcheinander. Nichts fügt sich, kein Gedanke will Verantwortung übernehmen. Statt zu sagen, ich gehe hurtig voran, wer will, kann sich ja anschließen, drucksen alle Gedanken herum und warten darauf, dass sich einer erbarmt.
Im Fernsehen sah ich einen Spielfilm über Astrid Lindgrens frühes Leben. Mit 18 etwa tippte sie zum ersten Mal auf einer Schreibmaschine, und der erste Buchstabe, der unter ihrem Tastenanschlag auf dem Papier erschien, war das große V, so im Film. Was ist besonders am V? Es ist ein sogenannter Halbvokal. In der römischen Capitalis konnte V auch den Lautwert U haben. Erst im 18. Jahrhundert wurde im lateinischen Alphabet V und U deutlich unterschieden. V kann also den Lautwert von U oder F annehmen. Der deutsche Maler Louis Corinth pflegte seine Bilder mit dem römischen Halbvokal V = LOVIS zu signieren, woraus die vom Maler angenommene Aussprache Lovis wurde.

Aber darum geht es nicht, es geht um die Faszination Schreibmaschine. Wie ein Typenhebel kraftvoll aufs Farbband schlägt und einen unverrückbaren Abdruck auf dem Papier hinterlässt, diese Faszination ist uns mit der digitalen Schreibmaschine abhanden gekommen. Ich weiß, dass die digitale Schreibweise viele Vorzüge hat. Man erinnere sich, wie mühsam einst die Korrektur war. Es gab diese Tipp-Ex-Blättchen für kleine Korrekturen. Man fuhr den Wagen an die zu korrigierende Stelle zurück, schaltete das Farbband aus und tippte den Fehler nochmals mit dem untergelegten Blättchen Tipp-Ex. Dann konnte man die so geweißte Stelle neu überschreiben.

Nebenbei wäre zu fragen, welche kulturellen Folgen Tipp-Ex-Korrekturen hatten, schließlich musste man einen getippten Fehler quasi bekräftigen, wo fälschlich stand: „der Verstand fehlte noch“, statt “ der Vorstand fehlte noch“, da musste man das e nochmals tippen, bevor das o möglich wurde, wodurch dem Vorstand auf immer der fehlende Verstand aufgeschrieben ward.

Größere Passagen wurden mit flüssigem Tipp-Ex eingepinselt und konnten erst überschrieben werden, wenn die weiße Farbe getrocknet war. Und wie oft war eine Korrektur hoffnungslos. Dann musste die Entscheidung fallen, eine ganze Passage neu zu schreiben und damit die alte zu überkleben. Die spätere Fotokopie egalisierte die Textcollage. Doch manchmal blieb nur das neue Schreiben einer Seite und das, wo ich nach dem polizeibekannten Terroristensystem schreibe: „Jede Sekunde ist mit einem Anschlag zu rechnen.“ Anders in dieser prasselnden Demonstration des Zehnfingerschreibens durch die Berliner Bloggerin Mikage fürs Teppichhaus Trithemius bei Blog.de:


YO!

Was macht die Faszination der mechanischen Schreibmaschine aus? Es ist die Wertigkeit jedes einzelnen Buchstabens. Vor allem: Jede getippte Seite ist ein Original, während ein digitales Dokument nichts ist. Und ist nicht der Wagen der Schreibmaschine mit seinem Wandern, Anschlag für Anschlag auch wie die Lokomotive, die Lore um Lore die Gedankenfolgen aufs Papier zieht?

Noch immer lungern die Gedanken untätig herum. Noch immer wartet eins auf das andere. Drum wars das, liebe Leute. Mehr bringe ich heute nicht hervor. Nachzutragen wäre, dass ich heute zu zweiten Mal Linsensuppe gekocht habe und dass sie beim zweiten Mal besser gelungen ist als zuvor. „Da könnte ich mich reinsetzen“, sagte einst eine Freundin, wenn sie lecker gekocht hatte. In all den sieben Jahren unseres Zusammenseins habe ich den Sinn nicht begriffen, und ich verstehe ihn heute noch nicht. Niemand soll sich erfrechen, sich in meine gute Linsensuppe zu setzen.

Immerhin behalten wir die Zacken

Es ist noch dunkel, als wir zur Rückreise aufbrechen. Am Abend und die ganze Nacht über hat es gestürmt. Beim Abendbummel war der Wind über meine Stirn unter die Strickmütze gefahren und hatte sie abgestreift, auch jetzt, als wir mit Koffern an der Bushaltestelle stehen, bläst er noch heftig durch die Straße. Eine Frau im Mantel quert sie, um die Stufen zur matt beleuchteten Bäckerei hinauf zu steigen. „Gute Heimfahrt!“, ruft sie uns zu. An den letzten Tagen habe ich immer wieder Rückreisende mit Koffern an den Haltestellen gesehen und ein leises Gefühl des Triumphs verspürt, es ihnen noch nicht gleich tun zu müssen, habe aber nichts gesagt. Die Frau hat das Gefühl beispielhaft sublimiert.

Der Bus erscheint pünktlich, dreht auf dem Weg zum Hafen seine Runde durch den Ort und sammelt wie ein Lumpensammler Heimreisende mit Gepäck ein. In der Abfahrtshalle der Fähre versperrt eine Reihe von Drehkreuzen den Weg. Sie geben ihn frei, wenn man die Rückfahrkarte unter einen Scanner hält und auch nur dem, der die Kurtaxe auf den Fahrschein gebucht hat. Es soll sich keiner drum drücken, findet die Kurverwaltung. In der Halle ein Drehständer mit kostenlosen Ansichtskarten. „Wieder nicht daran gedacht, Ansichtskarten zu schreiben?“, steht dran. Gute Marketing-Idee der Kurverwaltung. Wir decken uns mit den verschiedenen Motiven ein. Es ist hübsch, auf der im Seegang sanft schaukelnden Fähre, Ansichtskarten zu schreiben. Zum neuen Jahr ist das Porto erhöht worden. Das zwingt zur Doppelfrankierung mit Postkartenmarken oder mit denen für Briefe.

Die neuen Marken haben seitlich einen QR-Code. Er macht das Tracking von Briefsendungen möglich. Der Kunde kann den Code scannen und den Weg der Post verfolgen. Ob eine Sendung eingetroffen ist, lässt sich allerdings nicht feststellen. Dafür ist noch immer das Einschreiben erforderlich. Der Nutzen für Postkunden ist eher gering. Der Code soll die Mehrfachnutzung einer versehentlich ungestempelten Marke verhindern. Was die Post sonst noch mit den anfallenden Daten macht, gibt sie nicht bekannt. Immerhin werden die Adressaten mit den Handydaten der Absender verknüpft, wodurch auf Dauer ein gigantisches Soziogramm entsteht. So dringen QR-Codes immer mehr in unser Leben ein und killen das Private.

Der in die Öffentlichkeit gezerrte Philatelist kann allerdings mit dem Code Information über das Markenmotiv abrufen. Bemerkung am Rande über Ränder: Einst waren die Marken auf Bögen gedruckt und mit einer Lochperforation getrennt. Beim Abreißen entstanden die typischen Briefmarkenzacken. Die selbstklebenden Marken sind durch einen Steg voneinander getrennt und einzeln perforiert. So behalten sie ihre Zacken, obwohl es technisch überflüssig ist, ein Zugeständnis an alte Formgewohnheiten.

Über unsere Rückreise mit der Bahn und eine weitere Begegnung mit QR-Codes ist schon hier berichtet.

Staunet und seid stumm – Die Geburt des Rundfunks im Jahr 1906 – Heiligabend auf hoher See

Am Heiligabend wird der Rundfunk 115 Jahre alt. Der Rundfunkjournalist Kurt Seeberger schreibt: „Einige Küstenschiffe an der Atlantikküste Amerikas waren 1906 mit neuen Funkgeräten ausgerüstet worden. Die Funker in den Kabinen lauschten an jenem Abend auf die üblichen Signale und Zeichen, als im Kopfhörer plötzlich die Stimme eines Mannes erklang. Dann hörte man eine Violine, hierauf wieder die Stimme des Mannes. Niemand hatte auf den Schiffen je so etwas gehört. Die Funker meldeten ihre Beobachtungen nach der neuen Station für drahtlose Telegraphie in Brant Rock (Mass.) Dort hatten sich unter Leitung von Professor Reginald Aubrey Fessenden einige Wissenschaftler zu einem Experiment versammelt.“ Fessenden berichtet:

    „Das Programm am Weihnachtsabend war folgendermaßen: zuerst eine kurze Ansprache von mir, wobei ich sagte, was wir vorhatten, dann etwas Phonographenmusik – das Largo von Händel. Dann spielte ich ein Violin-Solo, und zwar die Komposition ‘Heilige Nacht’ von Gounod, die mit den Worten endet ‘Staunet und seid stumm’. Ich sang einen Vers und spielte Violine dazu, weil mir das Singen nicht recht gelang. Dann kam der Bibeltext ‘Ehre sei Gott in der Höhe’. Wir schlossen dann damit, dass wir ihnen ‘Frohe Weihnachten’ wünschten und ihnen sagten, dass wir vorhätten, am Neujahrsabend wieder zu senden.’” (Seeberger, Kurt; Der Rundfunk; in: Stammler, Wolfgang; Deutsche Philologie im Aufriss, Band III, Berlin 1957, Sp. 666.)

Seebergers Schilderung der ersten Hörfunksendung zeigt bereits die Höhen und Tiefen des jungen Mediums. Fessendens Programm ist die Matrix für alles Kommende. Er bot einen Wechsel zwischen Musik- und Wortbeitrag sowie Live- und Konservenmusik. Geradezu programmatisch war Fessendens inhaltliche Musikauswahl: „Staunet und seid stumm“; der Vers legt die Rollen fest. Radio wird nicht als wechselseitiges Medium präsentiert, sondern als Einkanalmedium. Einige wenige senden ein Programm, und die Hörer an den Radiogeräten lauschen stumm und staunend. Sie haben weder einen Einfluss auf die Programmmacher noch auf deren willkürliche Themenwahl.

Die Reaktion der Funker zeigt deutlich, dass sie sich noch an die Rolle des stummen Empfängers gewöhnen mussten. Inzwischen wissen wir, dass wir nach dem Anhören einer Radiosendung nicht beim Sender anrufen müssen, um den Empfang zu bestätigen.

Andererseits zeigt die Schilderung des Hörerlebnisses durch die ersten Rezipienten bereits die Schwäche des flüchtigen Mediums, die ja später noch vom Fernsehen übertroffen wird. Von dem vielfältig entwickelten Programm geht dem Empfänger offenbar das meiste direkt verloren. Was von allem bleibt: Ein Mann hat gesprochen, dann hörte man eine Violine, dann sprach noch einmal der Mann.
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„Tante, Tante! Da ist ein Mensch im Schrank! (Aus meinem Tagebuch 2/1997 (größer: bitte klicken))

Betrachtet man die Bildungsbemühungen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, vom Schulfunk, Schulfernsehen über die „Sesamstraße“, „Wissen macht Ah!“ bis „Quarks & Co“, müssten die Deutschen in den Jahren seit Bestehen der Bundesrepublik immer klüger geworden sein. Doch das meiste wird unmittelbar wieder vergessen. Über neues Wissen muss man sich austauschen können. Es müssen Rückfragen möglich sein, die möglichen Konsequenzen erörtert werden und dergleichen, damit man sich Neues wirklich aneignen kann. Hinsichtlich seiner Bildungsfunktion ist der Rundfunk demnach eine Fehlkonstruktion. Wäre die Bildungsabsicht ernst gemeint, hätte man ihn von Anfang an wechselseitig organisieren müssen, so wie es Bertolt Brecht in seiner Radiotheorie vorgeschlagen hat. “
„(…) Um das Positive am Rundfunk aufzustöbern; ein Vorschlag zur Umfunktionierung des Rundfunks: Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen.“

Auditive und audiovisuelle Einkanalmedien wie Radio und Fernsehen sind in erster Linie Zerstreuungsinstrumente. Wissen kommt aus ihnen wie aus Gießkannen, und es ist nicht zu kontrollieren, welches Köpfchen von welchem Tröpfchen getroffen wurde und wie rasch es trocknet. Es kann ein Zuschauer dem Tagesschausprecher zuhören und am Ende nur noch wissen, welche Krawatte er getragen hat. Auch nach Ranga Yogeshwars Wissenschaftssendung erinnere ich mich nur an sein zierliches Kopfwackeln.

Finde deinen ersten Blogeintrag im Internetarchiv!

Kürzlich zeigte arte den dystopischen SF-Film „Rollerball“ aus dem Jahr 1975. Die Welt ist darin beherrscht von wenigen Konzernen. Zur Unterhaltung der Massen dient der brutale Sport „Rollerball“, bei dem die Mannschaften bis aufs Blut gegeneinander kämpfen. Sie gehören den verschiedenen Konzernen, da Nationen abgeschafft sind. Abgeschafft sind auch Bibliotheken. Das kulturelle Erbe der Menschheit ist digital in einer zentralen Datenbank erfasst. Als der Protagonist dort recherchieren will, wann die Herrschaft der Konzerne begonnen hat, erfährt er beiläufig, dass der Zentralcomputer das 12. Jahrhundert nicht mehr auffindet. Da das Gedächtnis der Menschheit nur noch digital existiert, ist ein ganzes Jahrhundert verloren.

Im Jahr 1975 war an das Internet noch nicht zu denken. Von ihm heißt es: „Das Internet vergisst nichts.“ Die stereotype Formel stimmt nur bedingt. Alles, was sich mit Suchmaschinen finden lässt, muss ja irgendwo auf Servern gespeichert sein. Sobald Server abgeschaltet oder zerstört werden, sind auch die dort gespeicherten Seiten verloren. Im vergangenen März brannte in Straßburg ein Rechenzentrums-Verbund mit rund 100.000 Servern. Wie viele Kunden vom Datenverlust betroffen sind, lässt sich noch nicht abschätzen.

Bei meinem Aufruf zur Bloggeschichte taucht die Frage auf, ob denn die frühen Versuche überhaupt noch auffindbar wären, wenn es zu lange her ist und oder der Weblogdienst nicht mehr existiert und die Server abgeschaltet sind. Vorausgesetzt man weiß die damalige Internetadresse noch, gibt es eventuell eine Rettung: Verlorene Internetseiten speichert das schon 1996 gegründete Internetarchiv waybackmachine, ein gemeinnütziges Projekt mit Sitz in San Francisco. Ein Spiegelserver der Daten von San Francisco befindet sich sinnvoller Weise auf einem anderen Kontinent, nämlich in der ägyptischen Bibliotheca Alexandrina. Freilich ist die Speicherung von Blog-Postings lückenhaft. Man braucht etwas Glück. Wer seine alte Internetadresse nicht mehr weiß, kann testweise seine aktuelle in die Maske eingeben und findet seinen Anteil am kulturellen Welterbe der Menschheit. Viel Erfolg!

Weiter zum Projekt Sammlung historischer Bloggeschichten

Gutenberg bei WP umgehen – zwei gute Tipps

Wer nach Möglichkeiten sucht, den unhandlichen WP-Editor mit dem hochtrabenden Namen „Gutenberg“ zu umgehen, findet im Netz fast nur Hinweise auf ein Plugin mit dem Classic-Editor. Dieses Plugin kann aber nur installieren, wer den teuren Businesstarif gebucht hat.
Kürzlich fand ich zwei preiswertere Möglichkeiten. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen geriet ich beim Bearbeiten eines Textes ins gewohnte Backoffice mit dem Classic-Editor-Formular. Ich habe auf den Link im Browserfenster kurzerhand ein Lesezeichen gesetzt und kann damit den alten Editor problemlos aufrufen, nachdem ich einen Entwurf gespeichert habe. Die zweite Möglichkeit habe ich einem Kommentar der Userin Belana Hermine bei Kollegin Miss Tueftelchen gefunden (klick Abbildung).

Viel Vergnügen mit dem Classic-Editor und viel Erfolg!

Ruchloser Diebstahl in der Heiligen Nacht

„Wenn du liest, musst du fremde Gedanken denken“, sagte Coster, der ehemalige Professor für Pataphysik und Leiter des Instituts für Nachrichtengeräte an der Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen und fuhr fort:
„Wenn du liest, bist du wie ein Kalb hinterm Karren angebunden und musst durch die Spur tappen, durch die der Karren rumpelt.“
„Halt oder Hüh!, um in Ihrem Bild zu bleiben, Coster. Ich bin nicht angebunden, sondern kann jederzeit stehenbleiben, also das Buch sinken lassen und das Stück, das ich dem Karren hinterher getrabt bin, als Denkanstoß nutzen, in eine andere Richtung zu denken, quasi eine eigene Karrenspur anlegen.“

„Ich sag doch, wenn du liest, nicht wenn du aufhörst zu lesen, du Trollo“, sagte Coster ungehalten. „Also wenn du liest und weiterliest, das Buch nicht auf die Knie sinken lässt, wenn du gefesselt bist vom Text, wie man landläufig sagt, was nichts anderes meint als hinterm Karren angebunden zu sein, dann hast du vermutlich längere Gedankenfolgen als du hättest, würdest du nicht lesen.“
„Da haben Sie Recht, Coster, lesend haben wir lange Gedankenfolgen, nämlich die ein Autor …“
„Oder eine Autorin, soviel Zeit muss sein.“
„ … immer schön der Reihe nach aufgeschrieben hat. Unser normales Denken ist kurzatmig:
– Habe ich das Fenster in der Küche zugemacht?
– Die Bürostuhllehne drückt mir links in die Weichteile.
– Ich könnte mal was trinken.
– In meinem rechten kleinen Finger leide ich am Tennisarmsyndrom. Kommt von der ergonomisch geformten neuen Maus. Witz.
– Nachdem ich das Schwittersplakat auf den Tisch tapeziert habe, wirft es Falten.“

„Und weiter?“
„Nichts weiter. Der Karren hat sich festgefahren.“
„Der Grund ist aber auch weich da in deiner Birne.“

„Na, erlauben Sie mal, Coster. Wussten Sie eigentlich, dass Coster im Niederländischen Küster bedeutet? Auf dem Grote Markt der Stadt Haarlem steht das Standbild von Laurens Janszoon Coster, einem Küster der Parochialkirche. Dieser Mann soll angeblich im Jahr 1428 das Drucken mit beweglichen Lettern erfunden und erste Bücher, sogenannte Costeriana, gedruckt haben, sagen die Haarlemer, nur ohne ’soll‘ und ‚angeblich.’“
„Weiß ich doch, Laurens Coster war ein Vorfahre von mir.“

„Hehe, Ihr Vorfahre! Jetzt glaube ich das auch noch. Genau wie die Legende, dass Laurens Janszoon Coster einen verderbten Gesellen namens Johannes Faust in seinem Haus hat wohnen lassen. Dieser finstere Gesell stammte ursprünglich aus Mainz. In der Heiligen Nacht des Jahres 1428, als alle in der Christmette waren, stahl der ruchlose Johannes Faust die Gießinstrumente für die Lettern und floh nach Mainz. Dort tat er sich mit dem arbeitslosen Kalligraphen Peter Schöffer zusammen. Sie gossen mit den gestohlenen Gießinstrumenten ihre ersten Lettern und druckten damit die Bibel.“

„Jetzt bist du wieder bei deinem Thema, Trithemius. Ich sehe förmlich die Stricke hinter deinem Karren lose herunterbaumeln von den Kälbern, die sich verzweifelt losgerissen haben.“

„Selber schuld. Die Klugen bleiben bei der Sache. Mit der Idee, dass Faust die Gießinstrumente in der Heiligen Nacht gestohlen hat, als alle in der Christmette waren, nur er nicht, beginnt bereits die Dämonisierung der Druckkunst. Nur ein Teufelsbündler würde wagen, die Heilige Nacht durch eine Untat zu entweihen. Doch Faust statt Gutenberg verweist auf das jüngere Datum der Legende. Der Diebstahl kann unmöglich bereits 1428 geschehen sein. Erst im Jahr 1455 ließ Faust den Erfinder Gutenberg pfänden und setzte sich so in den Besitz dessen Druckerei. Zum Entstehungszeitpunkt der Legende ist der wahre Erfinder Gutenberg offenbar bereits in Vergessenheit geraten.“

„Einspruch! Es ist ja nicht mal ausgemacht, ob man überhaupt von Gutenberg wusste. Dass er der Erfinder war und nicht Faust, hat die Geschichtswissenschaft erst Anfang des 19. Jahrhunderts herausgefunden.“
„Jedenfalls sehe ich schwarz für Ihren Uropa. Zumal man in Haarlem zum Beweis nichts als ein paar alte Zinnkrüge vorweisen kann.“
„Da wissen Sie mehr als ich“, sagte Coster zweifelnd und verschwand.
[Zum Fall Johannes Fust/Faust – Johannes Gutenberg lies gerne hier)

„Wir heiraten am 12. Februar 2021“

Bei einem Gespräch über Palindrome sagte ich kürzlich, dass es auch Palindrome bei Kalenderdaten gebe und dass sie beliebt seien als Hochzeitstermine. Aus dem Stand hatte ich aber kein Palindromdatum nennen können. Sich nach Palindromdaten zu richten, mag man als sprachmagische Spielerei abtun. Derlei Ideen hegt aber nicht nur das dumme Volk, sondern hegte auch der Literaturwissenschaftler Paul Raabe, der damals scheidende Bibliothekar der Herzog August Bibliothek, den die ZEIT am 21. Februar 1992 porträtierte:

    „Und dem Kenner manieristischer Zahlen-Magie mag es ein Trost sein, daß er Herzog Augusts Bibliothek an einem ganz seltenen Tag verläßt, einem 29. Februar, dessen Zahlen sich, zauberkräftig, von vorn wie von hinten lesen lassen: 29-2-92.“

Der 29-2-92 ist in seiner bei der Jahreszahl verkürzten Schreibweise kein echtes Palindrom. Wie die Liste zeigt, gab es im Jahr 1992 nur ein echtes Palindromdatum, den 29-9-1992. Das Datum hatte ich ermittelt mit einem von mir geschriebenen Programm in GW Basic von Microsoft. Programbeschreibung: Eingangs wird man aufgefordert, den zu durchsuchenden Kalenderbereich einzugeben. Auf dem Bildschirm erscheint: „ab welcher Jahreszahl suchen?“ Das Programm durchsuchte dann vom gewählten Jahr aufwärts alle Kalenderdaten nach Palindromen und zeigt die Palindrome auf dem Bildschirm an.

Leider gibt es in Windows keinen Basic-Interpreter mehr, so dass sich das Palindromsuchprogramm nicht auf die 2000-er Jahre anwenden lässt. Aber es gibt Hoffnung. Im Netz werden Basic-Emulatoren angeboten. Nachdem ich einen Emulator installiert habe, werde ich das Listing zuerst abtippen müssen und dabei vielleicht wieder verstehen, wie das vor gut 30 Jahren geschriebene Programm aufgebaut ist. Denn es ist beim Programmieren wie bei allen Kenntnissen. Nicht geübt, geht’s verloren. Sollte das Programm funktionieren, kann ich alle Palindrome ab dem Jahr 2000 bis suchen lassen. Was hat es mit der Überschrift auf sich? Wie ich ohne Programm festgestellt habe, scheint der 12-02-2021 das kommende Palindromdatum zu sein, vorausgesetzt, der Monat wird aufgenullt.