Zwanglos auf der Orgelempore

Der Küster unserer Pfarrgemeinde betreute den Kirchenchor und spielte bei den Messen die Orgel. Diese Orgel musste dringend überholt werden, denn sie hatten defekte Pfeifen, die nur noch hässlich quietschten. Es war eine gewisse Fertigkeit nötig, die Misstöne zu vermeiden. Unserem Küster gelang es meistens, die defekten Pfeifen im Spiel auszulassen, ohne dass es den Gläubigen in den Kirchenschiffen aufgefallen wäre. Auch den Pfarrer schien es nicht zu stören, denn er sprach nicht darüber, dass die Orgel erneuert werden müsste, jedenfalls hörte ich als Messdiener nichts davon, und auch im Dorf war die defekte Orgel kein Thema.

Dieses Dorf bot jungen Menschen in den 1960-er Jahren wenig Gelegenheiten, sich zu erproben und entfalten. Mein älterer Bruder sang im Kirchenchor, und so war es naheliegend, dass ich nach dem Stimmbruch ebenfalls Mitglied des Kirchenchors wurde. Das hatte den Vorteil, dass ich die sonntägliche Messe auf der Orgelempore verbringen durfte. Der Kirchenbesuch war mir inzwischen lästig geworden. Die katholische Sexualfeindlichkeit hatte mich in der Pubertät in Nöte gebracht und zunehmend kritisch auf Religion und Kirche schauen lassen. Die Sonntagsmesse besuchte ich nur noch meiner Mutter zu Liebe.

Durch den Kirchenchor gewann der Kirchenbesuch für mich neuen Reiz. Plötzlich folgte ich dem sonntäglichen Geläut zum Hochamt wieder mit Freude. Ich freute mich darauf, die gewundene Holztreppe vom Foyer zur Orgelempore hochzusteigen. Schon als Kind hatte ich davon geträumt, diese Treppe betreten zu dürfen. Auf der Empore öffnete sich mir ein ungeahnter Freiraum. Hier konnte man gänzlich unbefangen tun, im Kontrast zur strengen Choreografie der alten Liturgie dort unten in den Bänken, in denen die Gläubigen knien, sich zum Singen aber hinstellen mussten. Danach wieder hinunter auf die bereits schmerzenden Knie und wieder hoch, zurück auf die Knie, im irrwitzigen Hin und Her.

Weil ich nie gut ertrug, wenn mir etwas vorgeschrieben wurde, kam mir entgegen, dass den Chormitgliedern auf der Empore fast gar nicht vorgeschrieben war. Wir konnten herumgehen, auf der linken, den Frauen vorbehaltenen Seite nach Dorfschönheiten Ausschau halten und ihnen auf den Scheitel gucken. Wir durften hinter die Orgel gehen und dort freimütig scherzen und herumalbern. Aber das Beste war, unseren Küster beim Orgelspiel zu erleben. Wenn er so richtig in Spielrausch geriet und vergaß, die defekten Pfeifen zu umspielen, wenn also in der schönsten Improvisation plötzlich ein hässliches Quietschen ertönte, dann rief unser Küster ganz ungezwungen: „Scheiße!“ Und niemand von den Gläubigen da unten hat seinen Ohren getraut und wahrgenommen, dass die heilige Messe von derben Flüchen begleitet war.

Im Bild: Ich habe diese Erfahrung bündiger geschildert und kalligrafiert in der modernen Ausgangsschrift des britischen Kalligrafen Alfred Fairbank. Den Titel: „Auf der Orgel“ habe ich in der Troy-Type des britischen Malers, Dichters und Begründer der legendären Kelmscott Press William Morris gezeichnet. Um Blocksatz zu erzielen, musste jede Zeile zweimal geschrieben werden. Da zeigte sich, wo eine Silbentrennung nötig war und wo enger oder weiter geschrieben werden musste. Derlei Arbeiten waren in den 1990-er Jahren mein eigenes Hochamt. Die Kalligrafie im Format 50 × 70 Zentimeter hängt gerahmt bei mir an der Wand. Größer anschauen – bitte klicken!