Im Jahr 2012 war ich Referent bei einem Seminar der Bundesstiftung Umwelt. Ich sollte einer deutsch-türkischen Schüleraustauschgruppe das Bloggen beibringen. Weil ich nach einem Herzinfarkt geradewegs aus der Reha kam, hatte meine fürsorgliche Chefin mir einen jungen Mann zur Unterstützung an die Seite gestellt. Er wurde mir angekündigt als Informatiker, der in den USA studiert hatte und nach seiner Rückkehr nicht wieder Fuß hat fassen können. Er habe bei seinen Eltern gewohnt und im alten Kinderzimmer drei Jahre lang auf einer Matratze gelegen. Die Referententätigkeit sei seine erste Aktivität außerhalb und deshalb gleichsam ein gutes Werk. Zum ersten Mal hörte ich von einem Phänomen, das in Japan Hikikomori heißt.
In einer frühen Phase meiner Jugend hatte ich ähnliche Bedürfnisse gehegt. Es war mir allerdings unmöglich, sie auszuleben, denn meine beiden Geschwister und ich mussten arbeiten gehen, um unsere verwitwete Mutter zu unterstützen. Mein Hikikomori fand sonntags statt. Ich lieh mir in der Bücherei fünf Romane aus, legte mich damit aufs Sofa, drehte meiner Welt den Rücken zu und tauchte in die Leben der diversen Protagonisten ein, war mal ein englischer Junge, der an einem verwunschenen Fluss lebte, mal ein Eskimojunge, der zum ersten Mal auf Robbenjagd ging, mal ein junger Berliner Boxer, dessen Mutter beim Kampf am Ring stand und „Aufwärtshaken! Aufwärtshaken!“ schrie. Geradezu wunderbar war die Geschichte des New Yorker Zeitungsjungen John Workman, der täglich seine geringe Habe ausbreitete, in der festen Überzeugung, den Grundstock zur ersten Million zu sichten. Meine Realitätsflucht ging nicht so weit, an den amerikanischen Traum zu glauben. Spätestens am Montagmorgen wurde mir gezeigt, wo mein Platz war. Eher würde ich Robben per Aufwärtshaken erlegen als dort wegzukommen, und erst recht nicht durch Hikikomori.
Hikikomori ist ein Phänomen gutsituierter Schichten. Schließlich müssen Eltern die Grundversorgung sichern, damit ihr Kind sich separieren kann. Heute unterstützen seinen Eskapismus nicht unbedingt Romane. Das Internet ist ihr Fenster zur Welt. So auch für meinen Zufallskollegen. Nach dem Seminar fuhr er mit mir nach Hannover, um von dort den Flieger nach Madrid zu nehmen, wo er als Delegierter der Piratenpartei an einem Kongress teilnehmen wollte. Ich staunte, dass sich derlei von der Matratze im Kinderzimmer aus organisieren lässt.
Der Berliner Boxer verwirrt mich. Sicher, dass es kein Hamburger Boxer war????
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Sicher bin ich nicht, denn ich erinnere mich nicht mehr an den Titel des Romans, dachte aber, dass Berlin das richtige Pflaster für eine „Aufwärtshaken!“-Mutter ist.
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Gepäckschein 666. Spielt in Hamburg im Hotel Atlantik.
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Danke für den Nachweis.
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Da waren die letzten Monate auch nicht förderlich, da konnte man seine Brut noch nicht mal rausschicken. Zum Glück geht wieder, am Mittwoch war Münster voll von Erstsemestern, die in lauten Gruppen im Weg herumstanden. Herrlich 😊
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Ja, die Corona-Beschränkungen waren die Blaupause für Hikikomori. Schön, wenn es einige wieder vor die Tür schaffen, hoffentlich nicht nur in Münster
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Ein Phänomen, über das ich vor einiger Zeit eine Reportage gesehen habe. Deine Variante mit den Büchern auf dem Sofa gefällt mir weit besser und ist für meinen Geschmack auch gesünder. Meine Schwester die zwei Teenager und zwei junge Erwachsene während der Corona Zeit wieder zu Hause hatte, schlägt wahrscheinlich drei Kreuze, dass ihr das erspart bleibt. Der Fairness halber… Die jungen Erwachsenen ebenfalls 😉
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Auf arte lief kürzlich der Spielfilm „1000 Arten, Regen zu beschreiben“, der exakt dieses Thema hat. Romanleser neigen auch zum Eskapismus. Entsprechend heutiger Bedingungen kann er rasch zum Hikikomori ausarten. Ich möchte nicht wissen, was die Corona-Maßnahmen da angerichtet haben.
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Das, lieber Jules, möchte ich mir lieber auch nicht vorstellen.
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