Hölzerne Freundschaft und Ort der Freunde

Jedes Mal, wenn ich meine Tochter in Aachen besuche, höre ich erstaunliche Dinge. Im letzten Jahr berichtete mein Schwiegersohn (er ist Kameramann und Filmemacher), er habe einen Filmbeitrag über Neutral-Moresnet gemacht, ein wegen seiner Zinkvorkommen begehrtes Tortenstück zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden. Er hatte mit einem uralten Zeitzeugen gesprochen, dessen Mutter als Dienstmädchen nach Neutral-Moresnet gekommen war und ihn dort geboren hatte. Neutral-Moresnet war nämlich der Zufluchtsort für Dienstmädchen, die von ihrem Dienstherrn geschwängert worden waren. Dort konnten sie gebären, ohne der Schande anheim zu fallen. Die Kinder wurden in Neutral-Moresnet zur Adoption freigegeben. Das war unter den gegebenen Umständen sicher besser für das ungewollt schwanger gewordene Dienstmädchen als vom Dienstherrn erschlagen zu werden, wie es noch Ende des 19. Jahrhunderts im Aachener Wald geschehen war.

Sprachwissenschaftlich von Interesse ist Neutral-Moresnet, weil im Jahr 1909 der Chefarzt der dortigen Erzgrube und stellvertretende Bürgermeister, Wilhelm Molly, versuchte, in Neutral-Moresnet den ersten Esperanto-Staat der Welt auszurufen. Er sollte Amikejo (Esperanto „Ort der Freunde“) heißen.

In diesem Jahr erklärten mir Tochter und Schwiegersohn übereinstimmend, man könne jedes Jahr Hochzeitstag feiern. Ich kannte nur Silberne, Goldene und Eiserne Hochzeit, erinnere mich noch an die Goldene Hochzeit (50 Jahre) meiner Großeltern, als das Tambourcorps Amititia (lat. Freundschaft) vor dem Haus meiner Großeltern aufmarschierte und ein Ständchen spielte. Schwach habe ich vor Augen, dass meine Mutter zwischen den Musikern rundging mit einem braunen runden Tablett, worauf eine Kompanie artiger Schnapsgläschen glitzerte, und jedem ein Körnchen eingoss. Das würde man nicht jedes Jahr tun wollen, an den drei oben genannten Jubiläumstagen schon.

Zu der inflationären Ausweitung der Hochzeitstage ist es vermutlich gekommen, weil Ehen in heutiger Zeit zu vielen Anfechtungen ausgesetzt sind und eine kürzere Halbwertszeit haben, so dass dann schon eine Hölzerne Hochzeit (5 Jahre) feierwürdig erscheint. Die in der Liste angedrohte Knoblauchhochzeit (33 1/3 Jahre) wäre doch eigentlich ein Trennungsgrund, aber schon bei der Ledernen (3 Jahre) würden Veganer die Biege machen. Abbildung von hier:

Der Name „Amititia“ des Nettesheim-Butzheimer Tambourcorps und die Ähnlichkeit mit dem gelobten Land „Amikejo“ zeigt übrigens gut, dass sich der polnische Zahnarzt Ludwik Lejzer Zamenhof bei der Entwicklung seiner Plansprache Esperanto unter anderem am Lateinischen orientiert hat. Kürzlich sandte mir mein Jugendfreund Fritz die Amititia-Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des Tambourcorps. Nicht präsent ist die Zeit der 1960-er Jahre. An einem Freitagabend, ich war 12 Jahre alt, lag gemütlich auf dem Sofa und las, scheuchte meine Mutter mich hoch und zwang mich hinüber zur Schreinerei zu gehen, wo man neue Mitglieder im Trommeln einwies. Fritz und ein weiterer Freund waren auch da. Wir trommelten in der winterlich kalten Schreinerwerkstatt auf der Hobelbank. Als wir einigermaßen trommeln konnten, übten wir mit den Erwachsenen freitags an einem Trafohaus am Ortsausgang. Noch heute erstaunt mich die Lehrmethode ohne alle Notenkenntnis und Noten. Alles wurde mündlich und durch Anschauung vermittelt.

Später bekamen wir Uniformjacken, Koppeln und Trommeln. Meine war noch mit Ziegenfell bespannt. Ich weiß nicht, ob ich je eine der begehrte neuen Trommeln mit Plastikbespannung bekam, deren Klang härter und schärfer war als Ziegenfell, denn auch später als Jugendliche hatten wir nur einen geringen Rang im Tambourcorps. Noch später hatte sich meine vom Dorffriseur Toni Pesch so genannte „Caesarfrisur“ zur „Beatlesfrisur“ ausgewachsen. Als ich mal mit meiner Beatlesfrisur bei Pesche Tünn war, erfuhr ich von ihm, ein älteres Mitglied des Tambourcorps habe gesagt, ich würde bald rausfliegen, wenn ich mir die Haare nicht abschneiden ließe. Da wars für mich aus mit der Freundschaft. Ich habe Uniformjacke, Mütze, Koppel und Trommel gepackt und zum Vereinsvorsitzenden getragen. Seine Frau öffnete, und als ich sagte: „Ich trete aus!“, antwortete sie: „Aber warum denn? Das Tambourcorps ist doch so schön!“ So schaffte ich wegen zu langer Haare und weil ich mich nicht unterordnen wollte nicht mal die Hölzerne (5 Jahre). Immerhin hatte ich trommeln gelernt.

Im Netz entdeckt, einen Film des Monschauer Autors und Kabarettisten Hubert vom Venn (das ist nicht mein Schwiegersohn) über Neutral-Moresnet. Bei Sylvia Fabeck, der Frau im Interview, lässt sich schön hören, wie die Leute im deutschsprachigen Ostbelgien sprechen.

Aus dem Netz gefischt – Drum Battle

Wir hatten ja nichts als Jugendliche auf dem Dorf der 1960-er Jahre. Der kulturelle Höhepunkt: Sonntagmorgens öffnete die Borromäus-Bücherei, wo wir bis Mittag in der Abteilung Kinder- und Jugendbücher eine Sitzgruppe in Beschlag nahmen. Entsprechend bestand meine Freizeitgestaltung aus Lesen. Freitagabend, ich lag lesend auf dem Sofa, als meine Mutter keine Ruhe gab und mich drängte, doch zu den Übungsstunden des Tambourcorps zu gehen. Zwei meiner Freunde würden auch hingehen. Ich hatte nicht die geringste Lust, doch weil sie nicht locker ließ, bin ich hin.

Wir übten zunächst in der Schreinerei des Tambourmajors, trommelten dort auf der Hobelbank. Das ging besser als man denken konnte. Die Sticks federten auf dem Hartholz schön zurück. Es muss Winter gewesen sein. Ich erinnere mich, dass ich in der ungeheizten Werkstatt lausig gefroren habe. Meine ersten Sticks mochte ich nicht. Sie waren schwarz lackiert und hatten an den Enden je eine Hülse aus Messing. Generationen vorher hatten schon damit getrommelt. Der Lack war an verschiedenen Stellen abgesplittert und an den Köpfen war der Lack ganz abgetrommelt. Als wir einen ordentlichen Trommelwirbel spielen konnten, war Frühjahr. Irgendwann bekamen wir Trommeln und durften mit den Großen üben. Das Tambourcorps traf sich am Trafohaus, am Ortsein- oder Ausgang von Nettesheim. Meine Begeisterung fürs Trommeln wuchs und hat mich nie mehr verlassen.

Mit 18 trat ich aus Protest aus dem Tambourcorps aus, weil mir zugetragen wurde, witziger Weise vom Dorffriseur, ältere Mitglieder des Tambourcorps hätten gesagt, wenn ich mir nicht bald die Haare abschneiden ließe, würde ich rausfliegen. Das war im Jahr 1968. Inzwischen hatte ich ein Schlagzeug und andere Interessen. Trotzdem hat sich die Zeit des Trommelns im Tambourcorps bei mir eingeprägt. Ich könnte noch heute bestimmte Märsche aus dem Gedächtnis spielen, wenn ich nicht durch den Schlaganfall die Taktsicherheit der Linken Hand eingebüßt hätte. Aber ich übe und versuche sie zurückzuerlangen. Es geht leider nur langsam voran. Kürzlich entdeckte ich bei YouTube ein sogenanntes Drum-Battle zwischen einer weiblichen Trommelgruppe aus der Ukraine, den Crazy Drummers, und einer niederländischen Männergruppe, European X.
Viel Vergnügen!