Da ich nicht gut kochen kann, habe ich mehr Gewürze als ich benutze. Wenn ich in den Schrank schaue, in dem ich Gewürze und anderes Zeug aufbewahre, dann gehört er wie all die anderen Dinge in meiner Wohnung zu meiner Gegenwart. Doch eigentlich ist mein Gewürzschrank ein gut Teil Vergangenheit. Die Dinge weiter hinten, die irgendwann angeschafft, eingeräumt und dann vergessen wurden, von dem Mann, der ich einmal war, diese Gewürzdosen und –tüten werden jedes Mal, wenn ich hineinschaue, wieder gegenwärtig. Ich nehme den Pfeffer heraus, stelle ihn wieder zurück, schließe den Schrank, und schon ist alles gemeinsam wieder Vergangenheit.
So lagert sich Vergangenheitsschicht auf Vergangenheitsschicht. Pfeffer: Jüngere Vergangenheit; Wacholderbeeren: ältere Vergangenheit. Die Gegenwart besteht zu einem großen Teil aus vergegenwärtigten Vergangenheitsschichten unterschiedlicher Vergangenheitstiefe. So viele Dinge ragen aus der Vergangenheit hinauf in die Gegenwart. Daher findet man das Leben morgens genauso vor, wie man es am Abend verlassen hat. Im Kopf des Menschen ist es wie in meinem Gewürzschrank. Das eigene Ich besteht fast ausschließlich aus Vergangenheit. Oft kann man an einem Tag, in einer Woche, im Monat oder sogar in mehreren Jahren nichts hinzufügen, was die Macht der Vergangenheit in Kopf und Leben bricht.
Hat man zum Beispiel irgendwann eine Unterschrift geleistet, bindet sie einen vielleicht für ein halbes Leben. Welch ein mächtiges Instrument der Vergangenheit ist eine solche Unterschrift. In keinem Wort der Welt steckt soviel Kraft wie in der eigenen Unterschrift. Früher war es der Handschlag, der einen auf gleiche Weise band. Handschlag und Unterschrift, beides sind kleine Handlungen mit großen Folgen.
Es gibt also im Leben Handlungen mit schwerwiegenden Folgen und solche, die fast nichts bewirken, ganz unabhängig vom jeweiligen Aufwand. Das ziellose Herumlaufen in der Wohnung, das ich lange Zeit bei mir beobachtete, das ist eine Handlung ohne Folgen, zumindest sind mögliche Folgen nicht spezifizierbar.

aus: Joseph Beuys, Mysterien für alle, Kleinste Aufzeichnungen, Herausgegeben von Steffen Popp, Berlin 2015
Derweil ich diese Worte schreibe, entstehen sie in meiner Gegenwart. Die zeitliche Distanz zur Veröffentlichung und bis zu dem Zeitpunkt, in dem er gelesen wird, bannt jeden in eine Gegenwart, die nun Vergangenheit ist. Es ist ja alles Illusion, vor allem die Gegenwart.