„Es gibt ja verschiedene Formen, einem Mitmenschen zuzuhören“, sagte Jeremias Coster, der dubiose Professor für Pataphysik an der RWTH Aachen.
„Mehr noch des Hörens“, wandte ich ein, „denn Zuhören enthält ja schon den Hinweis auf Zuwendung, also auf konzentriertes Hören, wobei in Hören ohne Präfix noch Nebenbedeutungen mitschwingen. Auf jemanden hören, im Sinne von gehorchen und in der abseitigen Steigerung im Sinne von jemandem hörig sein.“
„Interessante Überlegung, aber ich wollte auf etwas anderes hinaus, nämlich auf die Grade des Zuhörens. Da gibt es das angebliche Zuhören, eigentlich ein Weghören, wenn jemand von Äußerungen genervt ist; das gleichgültige Zuhören der geteilten Aufmerksamkeit, wenn etwa die Frau ihrem Mann etwas erzählt, während er Zeitung liest; das aufmerksame Zuhören und das teilnehmende Zuhören.“
„Was soll das sein, teilnehmendes Zuhören?“
„Wenn nachgefragt wird.“
„Das ist dann aber kein reines Zuhören, sondern ein Interagieren.“
„In deinem Fall ein störendes dazwischen Quatschen. Wenn hingegen jemand die Gabe besitzt, aufmerksam zuzuhören, sagt man landläufig, er sei ein guter Zuhörer. Er ist ganz Ohr. Nun, ich kannte einen Mann, der stets „ganz Ohr“ war, aber auf eine schädliche, aggressive Weise. Dieser Mann hieß Hartmut Flauscher und kam irgendwann als wissenschaftlicher Mitarbeiter an unser Institut. Ich hatte ihn nicht eingestellt, sondern er wurde vom Rektor der RWTH protegiert. Folglich begegnete ich ihm erstmals informell, nämlich auf dem Weg zur Mensa. Als ich an seiner Bürotür vorbei ging, kam er auf den Flur, als ob er mich abgepasst hätte, grüßte, nahm wie selbstverständlich meinen Schritt auf und stellte sich vor. Er war ein hagerer Mann von jener ungesunden Hautfarbe, die an den nahenden Tod denken lässt. Wie wir gemeinsam den langen Gang übers quietschende Balatum schritten, zeigte er sich interessiert am Gerede, das landläufig Flurfunk genannt wird.
Mit Erstaunen, ja Verblüffung hörte ich mich Interna ausplaudern, die ich normaler Weise für mich behalten hätte, vor allem gegenüber einer noch fremden Person wie Flauscher. Er hatte das Gespräch begonnen mit der überraschenden Auskunft, dass er vorhabe, sich sterilisieren zu lassen. Ein Freund habe die Prozedur schon hinter sich und berichtet, dass es verbrannt gerochen, ja, regelrecht gestunken habe, als ihm die Samenleiter verödet worden waren. Vermutlich gelang es Flauscher mit dieser intimen Botschaft, überfallartig meine Zurückhaltung zu überwinden. Jedenfalls war ich noch Stunden nicht gut auf mich zu sprechen, weil ich gegenüber Flauscher so sträflich offenherzig gewesen war. Die Sache mit der Sterilisation war mir höchst verdächtig, hatte ich doch erst kürzlich von einem fragwürdigen Schweizer „Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis“ gehört, dessen männliche Mitglieder sich sterilisieren lassen mussten. Der Verein galt als rechtsgerichtete Psychosekte. Auch Rektor Schwerte solle ihr angehören, wurde kolportiert.
Nach meiner ersten Begegnung mit Flauscher war ich vorsichtig geworden. Trotzdem gelang es ihm, mir weitere Bekenntnisse zu entlocken, selbst solche, die ein böswilliger Geist gegen mich verwenden könnte. Ich konnte nicht mehr alleine zur Mensa gehen. Immerzu schien er mich zu wittern, trat auf den Flur, hakte sich vertraulich unter und begann mich auszuhorchen. Machtlos musste ich erleben, dass ich leer lief wie ein angestochenes Fass. Mit den Tagen schien Flauscher aufzublühen. Seine teigige Gesichtsfarbe verlor sich mit jedem Mensabesuch.
uih, das klingt ja spannend …
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Das freut mich. Fortsetzung heute 0:01.
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Zuhören nach vorangegangenem Berichten einer sehr intimen Erfahrung, ein Zuhören, das den anderen ganz hilflos macht, so dass er alles aus sich herauslaufen lässt … während der Zuhörer sich anfüllt – uff, ja, das ist eine spannende Variante des Themas. Großartig erzählt.
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Mir ist tatsächlich einmal ein Mann begegnet, der genau diese Fähigkeit hatte. Er stand Pate für Flauscher. Dankeschön für dein Lob!
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Und ich kenne eine Frau, bei der ich sehr achtgeben muss, dass ich ihr nicht alles, auch mein Geheimstes, auskrame. Kaum sage ich einen Satz, der sie neugierig macht, zieht sie dran,als sei es der Zipfel eines großen Tuches, das ich in mir verborgen halte. Und zieht und zieht…
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Flauscher, der alte Lauscher, scheint sich von Intimitäten zu ernähren wie die grauen Herren von der eingesparten Zeit. Komisch, welchen Einfluss manchmal Menschen haben, obwohl man sie gar nicht mag!
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Du ahnst es, dass sich Flauscher leicht in Lauscher abwandeln lässt, wie in Folge 2 zu lesen. Tatsächlich kam einmal ein neuer Kollege an unsere Schule, der mir Pate stand für Flauscher.
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Das erinnert mich an den spanischen Film „el Autor“. Dem Schriftsteller will partout nix einfallen und er findet irgendwann heraus, dass das Leben die besten Stories schreibt. Er fängt an, die Mitbewohner in dem Mehrfamilienhaus, in dem er wohnt, auszuhorchen und zu manipulieren.
😁
Bin gespannt, wie’s mit Flauscher weitergeht …
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Diese schöne Idee habe ich auch schon mal verfolgt, als ich Ende der 1990-er Jahre das kleine Dorf Spiel auslesen wollte wie ein Buch. Das Ergebnis findest du unter dem Tag
https://trittenheim.wordpress.com/category/kleine-geschichten/
Flauscher Teill II gibt es um 0:01. Danke für dein Interesse.
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