Beflügelt von der Frühlingssonne, fuhr ich einst mit dem Rad in die Niederlande, von Aachen hinab ins schöne Mergelland, das Hügel und Täler hat, mit pittoresken Dörfern, in denen alles so herausgeputzt ist, dass man denken könnte, hier wäre des lieben Gottes eigenes Vorgärtlein. Hinter dem Weiler Mamelis bog ich von der Maastrichter Laan ins dorpje Nijswiller ab, wo vor der Kirche in Gelb und Weiß die pfingstlichen Fahnen flatterten, dann wählte ich einen Weg, der die Flanke eines Höhenrückens hinaufführt. Zum Schluss hin wird er ziemlich steil. Und wo er am steilsten ist, muss man aus dem Sattel ein paar Tritte hochstampfen, stracks durch einen überwucherten Hohlweg, der biegt oben nach links, und man rollt parallel zum Hang entlang einer blühenden Apfelplantage. Am Rain oben würde mir später ein Mann entgegenkommen, und wir würden uns freundlich grüßen. Man ruft hier „dag!“ oder „hoi!“
Doch halt! So weit sind wir noch nicht. An der Flanke säumt sattes Gras den Weg; groß wie Getreide wogt es im Wind. Unten zwischen den Wiesen schlängelt sich der Senserbach Richtung Geul. Darüber staune ich immer wieder, dass ein leicht zu überspringendes Bächlein über die Jahrtausende ein so weites Tal ausspülen kann. Weiter oben steht doch eine Bank? Oder habe ich sie übersehen, weil sie vom Gras überwuchert ist? Da, hinter einer Biegung taucht sie auf. Sie ist weinrot lackiert. Erst kürzlich muss jemand mit einem Topf Goldbronze hier gewesen sein. Er hat die acht Nietnägel, je vier links und rechts, nachlässig damit angepinselt. Das Holz rund um die Nägel ist ein bisschen übermalt. Doch es macht nichts – dieses Gold auf Weinrot inmitten von Grün sieht einfach prima aus.
Die Sonne wärmte, ich hatte keine Eile und wusste, da kommt gleich noch das steile Stück. Also erst einmal Pause. Auf der Bank saß ich gut und sah gemütlich ins Tal hinunter. Auf den Wiesen rotbunte Kühe. So eine Kuh ist immerzu mit Fressen beschäftigt. Ein Glück, dass es um den Menschen anders bestellt ist. Man könnte nie den Kopf heben und in den Himmel schauen. Zeit für Gedanken wäre auch nicht. Vermutlich hat der Frühmensch diese Zeit nur gehabt, weil er nicht in Herden, sondern in Gruppen lebte. Das Zusammenwirken in der Gruppe hat Zeit in die Welt gebracht. Zeit, die sich einteilen ließ in Nahrungssuche, Jagd, Kälteschutz, Zuwendung und – Muße. Zusammen am Feuer leise raunen, den Gesängen des Ältesten lauschen und mitschwingen. So stellte sich Gemeinschaft her, und eine Gemeinschaft ist noch effektiver als die Gruppe.
Irgendwann, ich weiß nicht warum, griff ich hinter mich ins hohe Gras. Es fühlte sich an, als würde ich die Haare einer Frau durch die Finger ziehen. Ich schloss die Augen und stellte es mir eine Weile vor. Dann sagte ich mir, es ist Mutter Natur, also auch eine Frau. Diese Frau erzählte mir, unten im Tal, ich solle mal hingucken, da sei doch dieses schöne Wasserschloss an der Geul. Wie ich den Blick hinüber wandern ließ, drehte sich tatsächlich die Zeit zurück.
Ich sah einen gut situierten Mann in seiner Bibliothek sitzen. Er hatte, weil die Sonne schien, beide Türflügel zum Rosengarten weit aufmachen lassen; das Licht fiel auf seinen Teppich, bis fast an seine Füße. Er saß an seinem Schreibtisch, der Kalender zeigte den 4. April 1905. Seit gestern hatte er überlegt und überlegt, war draußen gewesen, einen langen Weg durch die Wiesen gegangen und hatte alle Möglichkeiten erwogen, die ihm als gut in den Kopf gekommen waren. Heute Morgen hatte er einige Bücher gewälzt. Und jetzt hatte er sich entschieden. Er warf noch einmal einen Blick auf ein Schachbrett, prüfte die neue Stellung, nahm den Füller und schrieb: „Tb6-b4.“ So, das war’s. Er faltete das Blatt und steckte es in ein Couvert. Morgen würde Grietje den Brief zur Post tragen. Mijnheer Adrian van Zeldenrust spielte nämlich Fernschach.
Der Brief würde eine Weile bis Australien brauchen. Er musste ja das Schiff nehmen. Henry Catelbow, ein nach Australien ausgewanderter Nachfahre der Marktgräfin Ottilie von Katzenelnbogen, wird ihn erst fünf Monate später öffnen. Die Schachpartie dauerte bereits 21 Jahre. Sie waren beide grau darüber geworden, doch nicht, weil sie sich geärgert hätten. Einfach so. Denn sie fanden nichts dabei, die Langsamkeit in ihrem Spiel zu haben. Irgendwann einen Brief zu bekommen, ihn in freudiger Erwartung zu öffnen, zum Schachbrett zu gehen und zu prüfen, was der andere raffinierte Hund sich da wieder für einen Zug ausgedacht hatte.
Zurück in unsere beschleunigte Gegenwart. Es geht um Kommunikation, genauer um den Unterschied zwischen langsamer und schneller Fernkommunikation. Die elektronische Post erlaubt die zeitnahe Kommunikation, was wiederum auch einen gewissen Zwang erzeugt, rasch zu antworten. Daran haben wir uns gewöhnt. Dagegen scheint der Brief aus Papier die Langsamkeit zu erlauben, Zeit zur Besinnung und Zeit, ihn erst einmal ein paar Tage liegen zu lassen. So erging es den Briefen der Teestübchen-Briefaktion. Sie trudelten nach und nach ein, trugen Farbe und Freundlichkeit in meinen Briefkasten, wurden eingehend betrachtet und gelesen – und fanden ihren Weg in eine blaue Mappe, die ich für das Projekt angelegt hatte. Inzwischen habe ich die Briefe und Karten gescannt und möchte sie in den kommenden Tagen vorstellen, um das Seminar Theorie und Praxis der Handschrift gebührend abzuschließen.
Der als Startbild abgebildete Brief wurde gestaltet von der Künstlerin Monika Thorwart, als sie meine Schülerin war. (Zum Vergrößern klicken.) Schon damals war ihr Stil unverkennbar. Zum Vergleich hier Arbeiten von 2017, die mich als Kalenderbilder durchs Jahr 2018 begleiten.