Mitten drin und trotzdem …

Einmal, lange ist’s her, in einer anderen Realität, saß ich am Aachener Münsterplatz in einem Café und beobachtete das Treiben draußen. Da kam ein alter Mann daher und fragte, ob der Platz an meinem Tisch frei sei.
„Klar, bitteschön!“
„Hier hat man ja einiges zu sehen!“, sagte er, stellte ein Tablett mit Kaffee und gedecktem Kirschkuchen ab und zwängte sich in den Stuhl.
„Ja, das ist ein Trubel – der Münsterplatz ist aber auch besonders schön.“
„Darum sitze ich hier gern“, sagte er, „man ist mitten drin, und trotzdem …“

Genau darüber hatte ich die ganze Zeit schon nachgedacht. Der Anlass war eine steinalte Frau gewesen. Sie war klein und dünn, ging krumm gebückt am Stock, denn sie trug einen ordentlichen Buckel unter ihrer Strickjacke. In ihrer kleinen linken Klaue ruhte der steife Bügel eines Damenhandtäschchens aus braunem Leder. Diese Handtasche war garantiert älter als du. Die Frau war rührend, wie sie da vorsichtig einen Fuß und den Stock vor den anderen Fuß setzte. Ich dachte, was sie da wohl in ihrem Handtäschchen hat? Da war Zeit genug, sich das auszumalen:

    – Ein sorgsam gebügeltes Spitzentüchlein. Bevor sie ausging, hatte sie ein paar Tropfen Kölnisch Wasser hineingeträufelt;
    – ein feiner Kamm aus Horn;
    – ein Fläschchen Klosterfrau Melissengeist;
    – das Portemonnaie mit Kleingeld.

Das alles braucht sie nicht, wenn sie nur die paar Meter unterwegs ist. Sie hält ihr Täschchen, doch eigentlich gibt das Täschchen ihr den Halt. Sie wäre ohne die Handtasche nicht angezogen, und wohin mit leeren kleinen Klaue wüsste sie auch nicht.

Irgendwann im Verlaufe seines Lebens hört der Mensch nicht mehr auf das hektische Bimmelimm des Lebens. Vorher hat seine Glocke noch ungefähr mithalten können. Jetzt wird sie langsamer, oder die Zeit läuft schneller, egal, irgendwann wird aus dem eigenen Bimm ein langsames Bamm. Manches im Leben hat eine endgültige Form angenommen, die Frisur, die Kleidung, der Musikgeschmack, der Tagesablauf … Nach und nach erlahmt die Neugier auf die Welt. Die Lebensbahn schwingt nicht mehr. Weit hinten, wo der gerade Weg sich perspektivisch verengt, ist auch das schwarze Stoppschild zu ahnen. Und rechts und links bleiben immer mehr von der eigenen Art zurück.

Als der berühmte englische Lexikograph Dr. Samuel Johnson von dem jungen James Boswell überschwänglich für sein Wörterbuch der englischen Sprache gelobt wurde, winkte Dr. Johnson ab. Von den Personen, denen er früher mit seiner Leistung hätte imponieren wollen, sei keiner mehr da. Damit der stattliche Dr. Samuel Johnson jetzt das Frauchen nicht verdrängt, sage ich mal, dass sein Beispiel eigentlich unnötiges Beiwerk ist. Ich habe den selbstgefälligen Kerl nur versehentlich rausgekramt.

Man ist mitten drin – und trotzdem …, darum geht es. Manchmal ist es gut, daran zu denken, wie stetig man sich auf das eigene Bamm zu bewegt. Es ist eine gute Methode sich wieder vernünftig auf das eigene Leben zu konzentrieren. Bevor du nur noch Bamm machst und bevor du das Stoppschild schon ahnen kannst, mach was Gutes aus deinem Leben, das Beste, was drin ist. Dann hast du auf dem letzten Stück deines Weges wahrscheinlich mehr bei dir als nur einen Stock und ein fast leeres Handtäschchen.

Plausch mit Frau Nettesheim – über den Jüngling der Schwarzen Kunst

Trithemius
Als ich junger Lehrer war, gab es eine Kollegin am Tisch im Lehrerzimmer, die beteuerte, keine Kinder haben zu wollen. Als sie dann doch schwanger wurde und ein Kind zur Welt brachte, hatte sie plötzlich das Muttersein erfunden und erklärte den anderen Müttern haarklein, wie das geht.

Frau Nettesheim
Warum erzählen Sie von dieser albernen Person?

Trithemius
Als Aufhänger für eine andere alberne Person: Gestern sah ich im TV zufällig Thomas Gottschalk.

Frau Nettesheim
Überraschend schwanger?

Trithemius
No. Der hat das Altsein erfunden, tingelt jetzt rum als Senilitätshausierer. Ich hatte zwar schon länger gedacht, wenn er in den Medien auftauchte, ‚ist der grau geworden – im Gesicht‘, aber jetzt ließ er sich von einer Frau Maischberger zum Altsein interviewen, weil er nämlich ein Buch darüber geschrieben hat. Gottschalk erzählte soviel törichtes und wirres Zeug, dass ich mich gleich fünfzehn Jahre jünger fühlte.

Frau Nettesheim
Das Leben geht leichter mit einem passenden Gegenbild vor Augen.

Trithemius
Ja, dazu ist er gut. Aber noch was, Frau Nettesheim, als ich zu Bett ging, beschäftigte mich die Frage, wie ich das textliche Kleinklein des Bloggens vereinbaren kann mit der Arbeit an meinem größeren Projekt, weil die Zeit langsam drängt. Einmal muss es geschrieben sein, bevor ich so blöd bin wie Gottschalk, und zum anderen, damit es mir nicht geht wie Dr. Samuel Johnson. Als er sein Dictionary of the English Language vollendet hatte, wurde er gefragt, ob er nicht stolz sei auf sein Werk. Er sagte, ach, die meisten, denen er damit habe imponieren wollen, seien längst schon gestorben.

Frau Nettesheim
Glücklicherweise ist ihr Freundeskreis noch recht jung.

Trithemius
Ja, und so eine alterslose Schönheit wie sie erst, Frau Nettesheim. Ihnen möchte ich schon gern imponieren. Jedenfalls fange ich morgen mit neuen Episoden zum Roman Jüngling der Schwarzen Kunst an. Das ist doch eine prima Weise zu schreiben, denn so sind die Kommentierenden, ob sie wollen oder nicht, an der weiteren Entstehung des Romans beteiligt.

Frau Nettesheim
Interaktives Schreiben? Dann man tau.