Nachtwanderung (2) – Nordwärts zwischen Pappelreihen

Da grummelt der Coster nur, er wär ja eigentlich längst tot und so und hätte das hier überhaupt nicht nötig als Geist. Der Weg bessert sich, wenn dir das ein Trost ist. Guckt mal, selbst in der Dunkelheit kann man noch erkennen, dass der Bahndamm ursprünglich mit zwei parallelen Reihen Pappeln bepflanzt war. Inzwischen sind die Pappeln mächtig gewachsen und umringt von anderen Pflanzen, der freie Raum wurde von Streunern erobert, die sich selbst eingeladen haben. Birke, Holunder, Brombeere und wie sie alle heißen bilden mit alten und jungen Pappeln die Lebensgemeinschaft vom Strategischen Bahndamm.

Ob die alten Pappeln sich je so richtig wohl gefühlt haben? Man hat sie ja einfach hier ausgesetzt, ohne sie zu fragen, ob sie einen Bahndamm bekrönen wollen, wo der Wind noch heftiger geht als über den Äckern. In jedem Fall sind ihre Nachkommen dem Leben auf dem Bahndamm schon besser angepasst, und am wohlsten fühlen sich die Abkömmlinge der Abkömmlinge des rasch wachsenden Kleinzeugs. Der Bahndamm sollte ja einmal eine Kommunikationslinie für den Austausch von Kriegsgütern werden. Jetzt ist er eine Kommunikationslinie für die Weitergabe von genetischen Informationen.

Hättest mir ruhig glauben können, dass unser Weg über den Strategischen Bahndamm bald besser wird. Das ist natürlich aus menschlicher Sicht geurteilt oder aus Sicht deiner Füße, die ja für holprigen Pfad und Brombeerranken nicht gemacht sind. Was wohl die Brombeere daran findet, aller Welt den Weg mit Dornen zu verlegen. Das ist doch keine Art. So mühsam der Weg am Anfang war, so leicht kommen wir jetzt voran. Ich will dich auch nicht mehr mit philosophischen Erwägungen quälen, die ja auch irgendwie Dornenranken und Fallgruben sind. Man findet kaum heraus aus Fragen höherer Ordnung, egal wie man sich müht. Irgendwann ist es praktischer, sich mit irgendeiner Interpretation der Welt zufrieden zu geben, denn man will ja vorankommen und sich nicht dauernd in Grundfragen des Daseins verheddern. Dort vorne lichtet sich das Dickicht ein wenig. Da führt eine Brücke über den Gillbach. Du hörst ihn plätschern. Der Gillbach fließt immer kräftig dahin. Er entwässert das Tal, aber das meiste Wasser bekommt er von RWE, was die als Grundwasser aus dem Tagebau Niederaußem abpumpen. Von hier aus ist unser Pfad zwischen den Pappeln deutlich zu ertasten. Jetzt kommen wir rascher voran.

Drüben ragt der Kirchturm von Nettesheim in den hochbewölkten Nachthimmel. Wir sehen ihn gleich noch etwas besser, wenn das Gehöft mit seinen mächtigen Kastanien unseren Ausblick nicht mehr verstellt. Es ist verständlich, dass die Bauern sich einst um einen Kirchturm geschart haben. Sie hatten wenig Zeit, sich den Weltenbau selbst zu erklären und ihre Werte allein zu bestimmen. Da ist der Anschluss an eine Religion ganz praktisch. Aber man darf sie nicht fanatisch als die einzig Richtige ansehen.

Folge 3 [21:25 Uhr]

26 Kommentare zu “Nachtwanderung (2) – Nordwärts zwischen Pappelreihen

  1. …könnte sein, dass es Coster ist, welcher neben mir geht, könnte sein, dass es Manfred ist. Du gehst voraus, Du kennst den Weg. Lass uns ruhig über das Dasein philosophieren. Das Dasein ist der holprige Weg. Ich zog die Wanderstiefel an, das sind Zusteigschuhe. Die sind den glitschigen Modder vom Teutoburger Wald gewöhnt. Dasein, das sind die Pappeln. Ihre kleinen runden Blätter haben sich gelblich verfärbt. Doch noch immer erzeugt der Wind in ihnen jenes Drehen, das ihnen dieses Geräusch entlockt wie ein hohes Flirren. Für Brombeeren kommen wir zu spät und vom Laufen werden die Beine immer wärmer, vor allem nun, da wir rascher voran kommen. Nein, aus Fragen höherer Ordnung gibt es tatsächlich kein Entkommen, nicht für den ruhelosen Satelliten des Verstandes, der alles bestrebt ist, begreifen zu wollen. Doch wandern hat etwas Meditatives und die Nacht riecht nach Herbst im Wald. Mehr Dasein geht kaum als jetzt gerade im Moment und noch während mir die höhere Ordnung zunehmend beginnt wieder wurscht zu werden im hochbewölkten Angesicht von Nettesheims Kirchturm, sammele ich Kastanien als Glücksbringer. Wie viele Kastanien soll ich denn mitnehmen? Jeder Mitwanderer bekommt eine Kastanie für die Jackentasche. Fühlt sich gut an, wenn man beim Gehen die Hand darum schließt…wie die Erde. Rund und weich.
    Bis gleich…

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  2. Ich habe früher einen negativen Bahndamm geliebt es war ein Tal wie am Amazonas und es gab Urwälder am Hang, in denen wir uns versteckten, wenn sich der Schienenbus mit den Bleichgesichtern näherte. Dabei hat man sich alles wohlig zerkratzt. Ich glaube ich komm mit, scheint interresant zu werden.

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  3. Interessant. Im Westfalenland gab es anfangs keine Dörfer im eigentlichen Sinne. Sondern es siedelten sich immer Höfe auf Sichtweite an, so drei, vier Höfe. Dann kam wieder Ackerland (oder auch Brache) und dann mal wieder Höfe, dann wieder Ackerland. Und dazu diejenigen Luxusgebäude, worin die Ritter wohnten und das Land besaßen, welches die Höfe zu bewirtschaften hatten. Man mag meinen, dass die Höfe vor Boden an den Füßen richtig landwirtschaften konnten, aber die Gegend war morastig und nicht viel taugte wirklich für Ackerwirtschaft aufgrund des technologischen Entwicklungsstands. Besonders die Gegend, woher ich stamme war unwirtlich, aber die Ritter und Adligen hatten ihre Tentakeln überall, um den letzten Taler vom Bauern zu erwirtschaften. Klar, da waren die Klerikalen, die sich weltlich Landgüter teilten. Sie waren (sind) wie die ersten Menschen auf dem Mond: sie rammten deren Fahne (Kirche) in den Boden und das Umland war denen. Die Kirchen hatten nicht nur rein religiösen Charakter, nein, sie waren wie Festungen gebaut, dick, schwer, mit einem Ausguck (Kirchturm), mit Speicher (wo die Güter bei Belagerungen hingebracht wurden). Der romanische Stil hatte Festungscharakter und erst mit dem Barock verloren die Kirchen ihre Rolle als Notunterkunft. Sie waren aber immer noch das Banngebiet für staatliche Plünderer, denn Kirchenboden war heilig. Du konntest zwar den Nachbarn davon erschlagen, aber den heiligen Boden zu entweihen, da drohte das Klerikat als Statthalter des erzürnten Gottes dem Marodierenden mit ewiger Verdammnis. Mord und Plünderung waren weniger schlimm, als Kirchengrund zu verletzen. Die „Kapellen“ und späteren Kirchen als Orientierungspunkt in der Landschaft waren auch Anlaufpunkt für Tagelöhner, Nicht-Grundbesitzer, entlaufenden Soldaten, arbeitssuchenden Handwerkern. Und so kristallisierten sich in Westfalen die Dörfer aus der Ansiedlung der Höfe heraus und insbesondere die Franzosen und Preussen haben dann Westfalen strukturiert, während Schweden und Spanier dort dann fleissig diese wehrloseren Strukturen eines Dorfes plündern konnten. Skurril, aber Siedlungsgeschichte.
    Die Musik passt zur Geschichte

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