Wegen Schmerzen in der Schulter konnte ich eine Weile den linken Arm nicht gut heben. Das erforderte im Alltag unkonventionelle Bewegungen. Wenn mich die linke Schläfe juckte, dann langte ich mit dem rechten Arm über meinen Kopf, um mich zu kratzen. Jedesmal, wenn ich mich so erwischte, musste ich an eine Erprobungsstufen- konferenz denken, die ich als junger Klassenlehrer erlebt habe. Verhandelt wurde der Fall eines undisziplinierten Jungen meiner Klasse, wir nennen ihn Bert. Sein Physiklehrer, ein geistig erstarrter Unterrichtsbeamter, stellte Berts Eignung fürs Gymnasium in Frage.
Neben der schlechten Physiknote gab es für den Physiklehrer ein weiteres Indiz, und er sprach mit einer gewissen Verachtung: „Der kratzt sich soo am Kopf!“, langte mit der Rechten über seinen Kopf und kratzte sich an der linken Schläfe. Ich hatte bis dato nicht gewusst, dass es am Gymnasium gewisse Kratzkonventionen gibt, deren Nichtbeachtung einen jungen Menschen nah an den Schulverweis bringen. Glücklicherweise war das Notenbild des Jungen nicht so schlecht, dass er wegen seines ungebührlichen Kratzens an die Hauptschule verwiesen werden musste, wo vermutlich all die Figuren sitzen, die sich kratzen wie und wo sie wollen.
Gut zwanzig Jahre später, auf der Geburtstagsfeier meines ältesten Sohnes, lernte ich einen Ingenieur kennen. Der erzählte, dass er sich in der Firma meines Exschülers beworben habe. Bert hatte inzwischen ein Ingenieurdiplom in Elektrotechnik und zusammen mit seinen Brüdern ein weltweit operierendes Computerunternehmen aufgebaut mit gut fünfhundert Mitarbeitern. Nicht überliefert wurde, wie Bert sich inzwischen zu kratzen beliebt.