Nachtwanderung (5) – Ich seh den Sternenhimmel

Hier warten ja zum Glück keine Blechbläser. Man muss auch vergessen können. Wenn man zum Beispiel schöpferisch arbeiten will, darf man sich nicht dauernd mit alten Erinnerungen und Erfahrungen belasten. Dann kann man keine neuen gedanklichen Wege gehen. Eine Romantisierung der Vergangenheit liegt mir sowieso fern. Als Kind fand ich im Liboriusblatt eine Bastelanleitung für eine Sternenhimmel- Beobachtungsstation. Ich hab sie eifrig nachgebaut, doch irgendwie fehlte in der Anleitung das Wichtigste. Wie kriege ich den Sternenhimmel in meine Beobachtungsstation gespiegelt? Ich habe das ganze Liboriusblatt abgesucht, ob sie vielleicht die Seiten vertauscht hätten und die Anleitung noch irgendwo weiter ging. Leider blieb meine Beobachtungsstation unvollendet. Und darüber war ich noch lange Zeit enttäuscht. Wie einfach hingegen kann ein heutiges Kind sich die wunderbarsten Weltraumbilder im Internet angucken.

Du hast Recht. Wenn wir jetzt in den Sternenhimmel schauen, kann uns das Internet gestohlen bleiben. Von unten auf dem Bahndamm aus gesehen ist der Sternenhimmel kein astronomischer Untersuchungsgegenstand, sondern eine unermesslich hohe Halle, in der ferne Lichter funkeln. So einsam und mausklein unterm Himmelszelt packt einen die Ehrfurcht vor den Dimensionen. Man muss nur lange genug hoch schauen.

Am 12. April 1961 wurde der sowjetische Kosmonaut Juri Alexejewitsch Gagarin als erster Mensch ins Weltall geschossen. Er hat dort oben auch nach dem lieben Gott Ausschau gehalten und später gesagt, er hätt ihn nicht gesehen. Seither hoffen ja manche, dass dann wenigstens Außerirdische die Erde umkreisen mögen, ein waches Auge auf alles haben und gegebenenfalls herunter kommen, um die Fehler ausmerzen, die der Mensch begangen hat.

Wir sind jetzt auf der Höhe von Frixheim. In Frixheim hat man keinen Kirchturm, darum können wir das kleine Dorf nicht sehen. Hier ist der Bahndamm breit genug, dass ein Ufo gut landen könnte.

Ein Brausen in der Luft, sphärisches Sirren und irrwitziges Lichterspiel. Wir halten uns die Ohren und stehen starr vor Staunen. Da holt man uns auch schon über eine Rampe herein, wir „passieren mehrere Walzen und tauchen in Säure. Dann kommen wir mit einigen Leichen in nähere Berührung.“ Nachdem man unsere geistige Struktur untersucht hat, kriegen wir den großen Raddada zu sehen. Der schickt uns wieder in die Welt zurück mit der Weisung: „Malen Sie Flamingos!“

Du wunderst dich? Ja, wissen wir denn, welche Wertvorstellungen Außerirdische haben? Dem Maler Sigmar Polke ist es jedenfalls so ergangen. Zuerst haben ihm höhere Wesen befohlen, bei einem Bild die obere Ecke rechts schwarz zu malen, dann haben sie ihm gesagt: Malen Sie Flamingos! Vielleicht finden die fürsorglichen Außerirdischen es am besten, wenn die Menschen den ganzen Tag Flamingos malen. Dann würden der Welt die anderen Untaten erspart bleiben.

Demnächst: Flamingo-Tag im Teestübchen
Zeichne, male, fotografiere, sticke Flamingos, finde Fotos im Internet (Vorsicht: Urheberrecht, darum obere rechte Ecke schwarz malen, dann ist das Bild ein Kunstwerk).

Und jetzt: Vom Strategischen Bahndamm zum Bett ist es nur die Ecke rum. Ich bin unfassbar müde. Morgen will ich die Kommentare in Ruhe lesen, antworten und noch einiges verbessern an unserem Internet-Gesamtkunstwerk. Schön, dass du mitgekommen bist.
Gute Nacht.

Nachtwanderung (4) – Speichermedien

Man sieht es im Dunkeln nicht, aber der Bahndamm verbreitert sich. Nein, nicht eben erst, als würde er ein- und ausatmen. Man hat hier wohl einen Güterbahnhof geplant. Wer weiß, wer dafür alles geschuftet hat. Anfang des 20. Jahrhundert ging ja das meiste noch mit Muskelkraft. In der Nazizeit auch. Da wurde die Landstraße vorm Haus meiner Großeltern gebaut. Es hieß, das machen die Arbeitslosen. Ein Bruder meiner Mutter fand Gefallen daran, mit Schaufel und Spitzhacke zu arbeiten. Einmal wurde er gefragt, was er mal werden wolle. Und er dachte wohl an die Arbeiter und sagt: „Arbeitslos!“ Da hat mein Großvater ihm eine gescheuert. Es hat ihm wohl nicht geschadet, denn er wurde später Metzger.

Da nach Westen zu, wo grad ein freier Blick ist, war mal ein Strohstapel. Bei uns sagt man Berm. Wir haben darin eine Höhle gefunden mit Bettstatt, Kleidung und Kochtöpfen. Meine Mutter sagte, „da wohnt ein Bermkrüffer..“

Kölsch: Bärrem, Haufen oder ein Stapel (von Strohballen);
Krüffer, Kriecher; Bärremkrüffer, (übertragen) ein Landstreicher, der in einem Strohballenstapel wohnt.

Davon gab es einige in meiner Kindheit, lauter verirrte Männer, die von Krieg und Gefangenschaft traumatisiert waren und nicht mehr zurückfanden in die Zivilgesellschaft. Brrr, so unbehaust zu sein. Mir tut es beinahe Leid, dich über den wilden Strategischen Bahndamm zu schleppen. Du kommst freiwillig mit? Es schrecken dich nicht die brausenden Pappeln und erst gar nicht, dass wir in der Finsternis kaum fünf Meter vorausschauen? Gut, du hast eine Taschenlampe. Hör mal, derweil du bei jedem Käuzchenruf in die Büsche leuchtest, hab ich mir schon das Schienbein an einem heruntergefallenen Ast gebarrt. Würde es dir was ausmachen, den Lichtkegel vor unsere Füße zu halten? Es ist nicht gut, herum zu leuchten. Du scheuchst nächtliches Getier auf mit deiner Funzel. Wer weiß, was da alles über den Bahndamm kreucht und fleucht. Der ist schließlich ein Biotop, eine eigenartige Welt mit Gesetzen, die uns nicht zugänglich sind.

An dieser Stelle des Bahndamms sind wir Nettesheim am nächsten. Jetzt müsstest du eigentlich die Kirchturmuhr sehen können, – wenn du hochhüpfst, kannst du vielleicht über das Strauchwerk gucken. Wie spät es ist? Viel sehe ich auch nicht. Der kleine Zeiger steht irgendwo unten und der große ein Stückchen vor zehn.

Einmal kam ich am Aachener Dom vorbei, wo an die hundert Weihnachtsmarktbesucher den russischen Blechbläsern lauschten. Fünf ärmlich gekleidete Typen in Jeans, Anoraks und mit Mützen auf dem Kopf spielten empfindsame Barockmusik und gaben ihr bestes, bis auf den Chef der Gruppe, der immer wieder sein Instrument sinken ließ, vortrat und sich dem CD-Verkauf widmete. Das menschliche Gehirn ist ein zuverlässiges Speichermedium, findest du nicht? Man hat nicht immer alles im Arbeitsspeicher, doch wenn zum Beispiel ein paar musikalische Russen in der Dämmerung auf dem Domplatz die blechgeblasene Seufzermelodik des Barocks ertönen lassen, dann rauscht es mir ungebremst ins Gemüt und wühlte versunkene Regionen auf. Ich hätte heulen können, als die Bachtrompete meine Erinnerungen nacherzählte und es war mir, als breitete sie nicht nur mein eigenes altes Leid vor mir aus, sondern auch das Elend des Komponisten und das der Russen dazu.

Fotos und Gif-Animation: JvdL

Entschuldige das Wort Arbeitsspeicher. Jedenfalls speichert das menschliche Gehirn die Informationen ein ganzes Menschenleben. Die CD der Russen bewahrt ihre Töne vermutlich weniger lang. Hast du einmal darüber nachgedacht, dass die Haltbarkeit von Informationsträgern immer mehr abnimmt, je komplexer die Technik ist? Guck, die ältesten Bildinformationen findet man in vorzeitlichen Höhlen, die älteste Literatur des Menschen ist in den Scherben von Tontafeln erhalten. Steinritzungen halten auch lange, doch sie sind der Verwitterung ausgesetzt. Die keltische Ogomschrift zum Beispiel ist auf die Kante von Steinen geritzt, und just an ihren Kanten verwittern die Steine am schnellsten. Pergament ist noch verletzlicher. Es kann abgeschabt und überschrieben oder verbrannt werden. Bücher bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts sind haltbarer als die späteren. Denn nach der Erfindung des Holzschliffpapiers wurde die Papierherstellung einfacher, das Papier zerfällt jedoch nach etwa 100 Jahren wegen der Säure, die in ihm arbeitet. Die elektrischen oder elektronischen Speichermeiden des 20. Jahrhunderts sind besonders anfällig. Neue Geräte können die alten Informationsspeicher nicht mehr abspielen, so dass viele Informationen verloren gehen. Und wie unsicher sind erst die digitalen Informationsspeicher des 21. Jahrhunderts. Spätestens wenn der Strom ausfällt, ist alles weg.

Eigentlich ist der menschliche Kopf noch immer das beste Speichermedium, wenn er nur leichter zugänglich wäre. Angenommen, auf dem Strategischen Bahndamm tut sich plötzlich eine Lichtung auf, und in einer leichten Senke stünden fünf Russen in Anoraks und blasen unter ihren Mützen fleißig Barockmusik. Dann würde mich das derart aufwühlen, dann könnte ich dir den ganzen Roman meiner Kindheit und Jugend erzählen. Tue ich aber nicht.

Folge 5 und Schluss [22:30 Uhr]

Nachtwanderung (3) – Aus Unwissenheit kam Quatsch

Was du drüben siehst, so dicht von den schwarzen Kastanien umstanden, ist der Nettesheimer Lommertzhof. Die Familien der Gutshöfe im Rheinland sind alle miteinander verwandt. Sie bilden ein heimliches Netzwerk. Übrigens soll der Humanist und Universalist Agrippa angeblich in Nettesheim geboren sein. Weiß ich – oder ich habs mir ausgedacht. Aufgewachsen ist er vermutlich in Köln, denn sein Vater war Stadtpatrizier. Agrippa von Nettesheim war für kurze Zeit der Schüler des historischen Trithemius, wusstest du das? Beiden wurde nachgesagt, dass sie sich dunklen Mächten verschrieben hatten. Es ist ein Wunder, dass Agrippa nicht auf dem Scheiterhaufen endete. Wer zu seiner Zeit Wissenschaft betrieb, konnte sich rasch die Feindschaft der Kirche zuziehen. Agrippa kannte sich in vielen Wissenschaften aus, auch in den okkulten, die er jedoch in einem Buch als eitlen Unsinn entlarvte. Trotzdem hieß es, er sei stets von einem schwarzen Hund begleitet gewesen, der nach seinem Tod verschwand.

Der Glaube an magische Kräfte ist in allen Menschen, meinst du nicht? Weshalb ja auch alle Völker eine Religion haben. Als Kind spürt man die Magie der Welt. Später regt sich der Verstand und beginnt zu fragen, kritisch zu bewerten und manches abzutun. Das mittelalterliche Schwanken zwischen nüchterner Betrachtung und magischer Weltsicht haben wir zum Glück hinter uns. Doch bahnt man sich zum Beispiel im Finstern den Weg über einen alten Bahndamm und da raschelt etwas im Gebüsch, dann gerät man leicht ins Zittern, denn der kritische Verstand ist nur ein dünner Mantel.

So friedlich wie das Dorf da liegt, morgen vor 80 Jahren hätte man nicht da sein wollen. Vor allem hätte ich nicht sehen wollen, wer von den Leuten, die ich kannte, in der Progromnacht im Wahnwitz die jüdische Synagoge angezündet hat. Wir könnten sie von hier aus brennen sehen. Als ich Kind war, stand die Ruine noch. Unheimlich mit ihren schwarz verbrannten Fensterhöhlen. Es wurde nie darüber gesprochen, wer in dieser schrecklichen Nacht beteiligt gewesen ist. Auch über die ermordeten jüdischen Familien wurde nicht gesprochen. Die Dorfgemeinschaft hat sich starr gemacht gegen die Verbrechen aus ihrer Mitte. So gut hat man dicht gehalten, dass wir gar nichts wussten, auch nicht, als wir unsere Dorfzeitung „Volkspost“ gemacht haben. Man kann erst jetzt darüber sprechen, weil die Akteure verröchelt sind.

Kürzlich, pass auf, dass du dir nicht den Fuß vertrittst, hier ist ne Senke, also kürzlich hat mich mein Jugendfreund Fritz besucht, mit dem ich die Volkspost gemacht habe. Er hat mitgebracht, was sein Vater getreulich gesammelt und aufbewahrt hat, auch meine Abspaltung von der Volkspost, „Dampfdruck.“ Ich blätterte in unseren alten Heften und sagte zu Fritz: „O, Gott, ich habe ja damals nur Quatsch geschrieben.“ Und er als guter Freund: „Du warst der einzige von uns, der das konnte.“ „Aber mehr auch nicht“, habe ich gesagt, „da war mehr Wollen als Können.“ Ich war der einzige von fünf Freunden, der nicht zum Gymnasium ging, sondern eine handwerkliche Lehre machte. Wenn wir zusammen unterwegs waren und trafen unseren alten Lehrer, hat er sich immer danach erkundigt, wie es bei denen in der Schule läuft. Mich hat der nie was gefragt. Das fand ich verletzend. Als ich dann 10 Jahre später Lehrer war, lud er mich zum Essen ein, von wegen „Herr Kollege“ und so. Ich habe dankend abgelehnt und gedacht: „Blos mich jett, jetzt brauche ich das auch nicht mehr!“

Folge 4

Nachtwanderung (2) – Nordwärts zwischen Pappelreihen

Da grummelt der Coster nur, er wär ja eigentlich längst tot und so und hätte das hier überhaupt nicht nötig als Geist. Der Weg bessert sich, wenn dir das ein Trost ist. Guckt mal, selbst in der Dunkelheit kann man noch erkennen, dass der Bahndamm ursprünglich mit zwei parallelen Reihen Pappeln bepflanzt war. Inzwischen sind die Pappeln mächtig gewachsen und umringt von anderen Pflanzen, der freie Raum wurde von Streunern erobert, die sich selbst eingeladen haben. Birke, Holunder, Brombeere und wie sie alle heißen bilden mit alten und jungen Pappeln die Lebensgemeinschaft vom Strategischen Bahndamm.

Ob die alten Pappeln sich je so richtig wohl gefühlt haben? Man hat sie ja einfach hier ausgesetzt, ohne sie zu fragen, ob sie einen Bahndamm bekrönen wollen, wo der Wind noch heftiger geht als über den Äckern. In jedem Fall sind ihre Nachkommen dem Leben auf dem Bahndamm schon besser angepasst, und am wohlsten fühlen sich die Abkömmlinge der Abkömmlinge des rasch wachsenden Kleinzeugs. Der Bahndamm sollte ja einmal eine Kommunikationslinie für den Austausch von Kriegsgütern werden. Jetzt ist er eine Kommunikationslinie für die Weitergabe von genetischen Informationen.

Hättest mir ruhig glauben können, dass unser Weg über den Strategischen Bahndamm bald besser wird. Das ist natürlich aus menschlicher Sicht geurteilt oder aus Sicht deiner Füße, die ja für holprigen Pfad und Brombeerranken nicht gemacht sind. Was wohl die Brombeere daran findet, aller Welt den Weg mit Dornen zu verlegen. Das ist doch keine Art. So mühsam der Weg am Anfang war, so leicht kommen wir jetzt voran. Ich will dich auch nicht mehr mit philosophischen Erwägungen quälen, die ja auch irgendwie Dornenranken und Fallgruben sind. Man findet kaum heraus aus Fragen höherer Ordnung, egal wie man sich müht. Irgendwann ist es praktischer, sich mit irgendeiner Interpretation der Welt zufrieden zu geben, denn man will ja vorankommen und sich nicht dauernd in Grundfragen des Daseins verheddern. Dort vorne lichtet sich das Dickicht ein wenig. Da führt eine Brücke über den Gillbach. Du hörst ihn plätschern. Der Gillbach fließt immer kräftig dahin. Er entwässert das Tal, aber das meiste Wasser bekommt er von RWE, was die als Grundwasser aus dem Tagebau Niederaußem abpumpen. Von hier aus ist unser Pfad zwischen den Pappeln deutlich zu ertasten. Jetzt kommen wir rascher voran.

Drüben ragt der Kirchturm von Nettesheim in den hochbewölkten Nachthimmel. Wir sehen ihn gleich noch etwas besser, wenn das Gehöft mit seinen mächtigen Kastanien unseren Ausblick nicht mehr verstellt. Es ist verständlich, dass die Bauern sich einst um einen Kirchturm geschart haben. Sie hatten wenig Zeit, sich den Weltenbau selbst zu erklären und ihre Werte allein zu bestimmen. Da ist der Anschluss an eine Religion ganz praktisch. Aber man darf sie nicht fanatisch als die einzig Richtige ansehen.

Folge 3 [21:25 Uhr]

Digitale Nachtwanderung (1) – Auf zum Strategischen Bahndamm

Unglaublich, wie viel Laub auf den Straßen liegt. Ich habe gelesen, dass die Erde sich schneller dreht, wenn das ganze Laub von den Bäumen heruntergesegelt ist und am Boden pappt. Dann liegt es näher an der Erdachse, und die Rotation beschleunigt sich um ein paar Nanosekunden, hat man an der Bonner Universität errechnet. Glaubst du das? Wenn das so ist, müsste sich die Erde viel schneller gedreht haben, bevor Flugzeuge erfunden wurden. Derzeit sind geschätzt täglich 10 Millionen Menschen in der Luft, ganz zu schweigen von den Flugzeugen. Wenn der Mensch abhebt, dreht die Erde sich langsamer. Also dauert eine Sekunde heute länger als noch vor 100 Jahren. Die Zeiten ändern sich, also die Zeit ändert sich. Wir glauben nur, dass sie immer gleich abläuft, weil wir keinen Vergleich haben.

Wir stehen übrigens am kleinen Bahnhof Eckum. Hier bist du garantiert noch nicht gewesen. Ich schon. Unweit von hier bin ich aufgewachsen. Der Bahnhof Eckum liegt an der Bahnlinie Köln-Roermond. Die Leute hier sagen „Rörmond.“ Dass die holländische Stadt eigentlich „Rurmond“ heißt, weil die Rur dort in die Maas mündet, dass also niederländisch oe wie u gesprochen wird, interessiert den Fahrgast nicht, denn er reist nur bis Grevenbroich, und steigt er in Gegenrichtung ein, will er sowieso nach Köln. Während er auf dem zugigen Bahnhof steht und der Zug aus Köln noch nicht kommen will, wandert sein Blick nordwärts, wo ein Bahndamm im rechten Winkel von der Bahnlinie wegstrebt und sich in der Ferne verliert. Das ist der Strategische Bahndamm.

Er ist hier mächtig hoch und über und über mit Gehölz bewachsen. Oben ragen Pappeln und Birken heraus. Gleise haben auf dem Strategischen Bahndamm nie gelegen. Die Bahnlinie, mit deren Bau man 1904 begann, ist unfertig geblieben. Der Bahndamm reicht von tief in der Eifel bis Neuss und führt nah am westlichen Ortsrand von Nettesheim/Butzheim vorbei. Als Kind habe ich dort gespielt. Im November und Anfang Dezember hatte der Bahndamm etwas Magisches, ragt grau gegen den stürmischen Westhimmel und trotzt den ewigen Böen, die über die gepflügten Felder herankommen und den Regen zerstäuben. Und hatten wir uns durch die Brombeerranken einen Weg hinauf gebahnt, dann pfiff der Wind durch die kahlen Finger der Sträucher und fuhr uns in die Glieder. Regen, du kennst es noch? Wenn es nass vom Himmel tropft.

Du wibbelst so unruhig. Wir wollen noch ein Weilchen warten, bis alle da sind. Die Taschenlampe lass besser aus, damit man nicht bemerkt, dass wir auf den Bahndamm klettern. Muss ja keiner wissen, wo wir lang wandern. Und wenn welche fragen, ob man uns gesehen hätte – die Leute hier auf den Dörfern quatschen gern. Tut mir leid, der Strategische Bahndamm ist bei Eckum ziemlich hoch, hier sollte ja die Bahnstrecke Köln – Roermond überbrückt werden. Die Brücke fehlt aber. Wir müssen seitlich raufklettern. Da ist der Strategische Bahndamm unwegsam. Guckt mal rum, wer alles mitkommt, denn es wäre blöd, wenn ihr eine helfende Hand braucht oder euch in die Hacken tretet und kennt euch nicht mal. Mir gefällt übrigens gar nicht, dass der Coster schon wieder dabei ist. Das gibt nur Ärger. Man munkelt, der hat sich in Maastricht unbeliebt gemacht und Maastricht liegt ja in der Nachbarschaft von Roermond. „Stimmts, Coster?!“

[Folge 2 gegen 20:50 Uhr]

Digitale Nachtwanderung Prolog

Prolog – womit die Verbindung zu den ersten beiden Lesenächten im Teppichhaus Trithemius hergestellt wird. In der Eifel in einer Höhle haben sie bengalisches Feuer gemacht. Dann erschallten die hellen weiblichen Stimmen im zauberischen Ruf: „Tikeliii – Tekeliii!“ und die Männer ergänzten: „Hattattu – hattattu!“, wodurch die Wanderer in eine Zeit nach dem Internet geworfen wurden.

er von Trittenheim trat an meine Hütt und sagt, dass er meine Dienst benötigt. Ich soll ihn auf einer Reis begleiten, so wichtisch, dass der Grund mein Horizont übersteigt. Ich frage: „Verdammisch, Herr Trittenheim! Was habe ich über meim Horizont zu suchen?“ Er ließ nicht locker und sagt, über meim Horizont da wär alls Gold und so. Da konnt ich nicht anders und musst dem Trittenheim sein Willen lassen. Er lacht und war froh, zu froh. Als er ging, köppte er aus Jeckerei einen der Hausgötter, die ich vor mein Tür aufgestellt hatte, damit kein Schaden in die Hütte kommt. Son Jartenzwerch aus Ton musst dran glauben. Wo krisch ich jetz nen Neuen her? Der Trittenheim hat auch den seltsamen Jeremias Coster überredet, an die Wand gequatscht, wenn du mich frags, und einer namens Nebenmann war auch dabei, der hatte aufm Buckel ein riesich handgeschrieben Buch, so eins, wo das Einbandleder in Hosenträger ausläuft. Das hieß „Mémoires sur l´air inflammable tiré de differentes substances.“ Frag mich nicht. Nur die zwei Sportler sin nich mitgekommen und lieber bei den Frauens geblieben, um zu scharmieren.

Nach einer echt langen Wanderung erreichten wir die Residenz des Bischofs von Maastricht, der das dicke Buch von Nebenmanns Buckel haben wollte. Wie der Trittenheim mit dem Bischof verhandelt, mussten Coster, Nebenmann und ich in der Bibliothek rumsitzen. Ein junger Priester hat uns bewacht und sah auf unsere Foten, wenn wir ein Buch berührten, als wären es seine Augäpfel. Coster war es nur um die Bilder zu tun. Er spinkst in ein Buch, darin Leut echt beim Fickeren zu sehen. Auf den meisten Bildern sah man der Nackten Einzelteile. Coster sagt, dass man die Einzelteil ‚Bildausschnitt’ nennt. Da war ich froh, dass man nur die Bilder und nicht den Nackten die Teil abgeschnitten hat. Mir brummt bald der Kopp von all den komischen Büch. Ich blätterte in eins, wo in den Buchstaben gespeichert war, wovon schon die Alten labern: Wie die Leut im fernen Neuiork den heiligen John Lennon tot gemacht haben und wie ihre Stadt zur Straf in die Wolken versetzt wurde, weshalb man ihre Häuser „Wolkenkratzer“ nannt. Auch las ich vom Teufelsbündler Zuse, der das schreckliche Ungeheuer gemacht hat, das wir Teutschen verhüllend „Rechner“ benamsen und dessen wahrer Nam nicht mehr genannt werden darf. Da stand, wie der schreckliche Amazonas zu uns rüber kam, die Land überschwemmt und unbewohnbar gemacht hat und dass ein gefährliches Fatzbuch musst verboten werden, weil es die Leut verhext hat, bis alle bekloppt waren und nur noch Götzenbilder von sich und ihrm Fraß gemacht haben. Nebenmann hat ein Buch gefunden aus sein alte Heimatstadt Aken mit ulkige Sachen: Zwei Marktweiber waren am zanken. Da hebt die eine nen Perdsköttel auf und wirft ihn der anderen mitten ins Gesicht. Ruft ihr ne dritte zu: „Halt ihn im Mund und geh zum Gericht!“ Wie wir am Lachen waren, musst der Coster husten wie verrückt, der Halunke!
Die Sonn stand schon bei Mittag, als wir wieder zum Bischof sollten. Der Trittenheim grinst, denn er war mit dem Bischof handelseinig. Wir mussten dem zum Abschied den Ring aus Widerständen küssen, von denen jeder mindestens 200 Ohm hatte. Mindestens, sag ich dir!

Zeichnung: JvdL

Als die Türflügel seines Empfangszimmers krachend hinter uns ins Schloss fiel, zeigten wir zur Vorsicht die Ableitgest gegen den Bischof, denn wir konnten drauf wetten, dass er uns verfluchen würde, diese hinterhältige Unk. [Foto oben: JvdL. Klick drop voor informatie]

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