Friedhelm Nagelroths seltsame Überlegungen

Was sind das nur für seltsame Erscheinungen?, fragte sich Friedhelm Nagelroth. Seit Monaten tauchten plötzlich und unvermittelt kleine Schatten in seiner Wohnung auf, immer nah am Boden, gleich einem Flämmchen, etwa so groß wie eine Visitenkarte, aber nur halb so breit und an den Enden spitz zulaufend. So würde er sie zeichnen, doch die genaue Form kannte er nicht. Ihr Erscheinen war zu flüchtig. Bevor er einen Schatten betrachten konnte, verschwand er spurlos. Nagelroth hatte zunächst an huschende Mäuse gedacht, doch da die Schatten an freien Stellen seiner Dielen mal auftauchten und verschwanden, wo es also keinen Sichtschutz gab, verwarf er die Erklärung.

Auch sollten Mäuse wenigstens leise Geräusche machen. Doch die Schatten waren rein visuelle Phänomene. Er konnte nicht einmal sagen, ob es verschiedene Schatten oder ein einziger wäre, der seine Wohnung aufgesucht hatte und manchmal sichtbar wurde. Ein schattiges Flämmchen war ein Widerspruch in sich, doch er hatte einst eine Pestsage gelesen, in der ein solches Flämmchen auftauchte. Es wurde gesehen, wie es Mensch und Tier durch Berührung den Tod brachte. Eines Tages beobachtete ein Bewohner des geplagten Dorfes, wie das Flämmchen in einem kleinen Loch in der Friedhofsmauer verschwand. Dort konnte es gebannt werden, indem das Loch mit einem geweihten Holzpflock verstopft wurde.

Nagelroth war kein frommer Mann. An Teufel- oder Hexenwerk zu glauben, lag ihm fern. Aber er war durchaus bereit, an Phänomene zu denken, wie sie in der Phantastik oder Science Fiction auftauchen. Auch populäre Ideen der Quantenphysik waren ihm nicht fremd. Möglicherweise, spekulierte er, entstammt das Flämmchen einer höheren Dimension. Er hatte in ferner Vergangenheit die „Erinnerungen eines alten Quadrats“ gelesen. Die Erzählung handelte von zweidimensionalen Flächenwesen und der Spekulation, wie ein solches Flächenwesen eine Kugel wahrnehmen könnte.

Die Kugel taucht durch die Fläche, ist zunächst nur ein Punkt, vergrößert sich zu einem Kreis, der sich verkleinert und wieder in einem Punkt verschwindet. Niemals könnte das Flächenwesen die Natur der Kugel erfassen. Es würde immer nur Kreise und Punkte sehen. In einer ähnlichen Situation wäre er, dachte Nagelroth, wenn das Flämmchen der vierten Dimension entstammte. Denn eines wäre doch klar. Wenn die dritte Dimension die zweite und die erste in sich enthalte, müsste die dritte Dimension auch in der vierten enthalten sein. Und wie er, die beiden unteren Dimensionen beeinflussen konnte, könnte ein Wesen der vierten Dimension, ihn in der dritten beeinflussen.

Doch dann quälte ihn die Frage, ob er tatsächlich über die beiden unteren Dimensionen verfügen könnte. Die erste Dimension sei schließlich nur ein mathematisches Modell, was genau genommen auch für die zweite Dimension zuträfe. Als Lebewesen der dritten Dimension könne er leider nicht sagen, ob auch seine Welt nur ein mathematisches Modell sei. Dann wären freilich auch die Flämmchen in seiner Wohnung rein mathematische Erscheinungen und darum ausgesprochen seltsam, womit er wieder beim Ausgangspunkt seiner Überlegungen angekommen war.

22 Kommentare zu “Friedhelm Nagelroths seltsame Überlegungen

          • Kollege Achim Spengler paraphrasierte unlängst die Weltsicht des englischen Philosophen George Berkeley, nach „der alle Objekte der sinnlichen Wahrnehmung ihr Sein nur durch ebendiese Wahrnehmung erst beziehen“ und führte an, wie der Lexikograf Dr. Samuel Johnson (1709-1784) die These glaubte widerlegt zu haben. Er „stieß im noblen Vollzug seiner freien Entscheidung mit seinem Fuß gegen einen Stein und rief dabei aus: ,Somit habe ich dies widerlegt‘!!“ (Zitat Spengler)

            Dr. Johnson trat also gegen einen Stein und glaubte, Berkeley widerlegt zu haben. Leider beging Johnson einen Denkfehler. Er ignorierte, dass auch der Tastsinn Teil der menschlichen Wahrnehmung ist. Somit gehört auch der schmerzliche Zusammenstoß des Fußes mit einem Stein zur Konstruktion der Wirklichkeit durch den wahrnehmenden Menschen.

            So könnte dein Kontakt mit der Fußwegabsperrstange schmerzvoll ausfallen, wäre aber kein Beweis.

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      • Ich habs vor Jahren mal gelesen, und die Erklärung auf Wikipedia ist übrigens falsch: »Nur ein Blick von oben auf Flatland kann die verschiedenen geometrischen Figuren unterscheiden. Aus der Perspektive eines Bewohners von Flatland sehen alle Figuren aus wie eine gerade Linie.« – Eben nicht: weil vielmehr alle Seiten der Figuren, auch die dahinter liegenden auf ihrer Rückseite, gleichzeitig gesehen werden da sie einander ja nicht verdecken können weil alle nur die gleiche Höhe Null haben. Die Betracher in Flatland können die verschiedenen Figuren sehr wohl unterscheiden, und deswegen sieht für sie auch die Kugel beim Durchdringen ihrer Flachwelt wie ein größer und kleiner werdender Kreis aus.

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        • Wenn, wie Sie schreiben, alle Figuren in ihrer Form erkennbar sind, weil ihre Linien einander nicht überdecken können, stellt sich die Frage, wie sie aus Sicht eines Flächenwesens aussehen. A Square nimmt sie bei seinem Rundflug im Traum von oben wahr, erkennt ihre Gestalt also aus der 3. Dimension. Aber wie unterscheiden sich die geometrischen Figuren in der Flachwelt selbst, da doch die gesellschaftliche Stellung von ihrer Form abhängt? Würden sie, wie in Wikipedia behauptet, nur gerade Linien unterschiedlicher Länge sehen, könnten beispielsweise Fünfecke kaum von Quadraten unterschieden werden. Abbott behilft sich mit der Idee des Rundflugs über die Flachwelt, weil ihm der logische Bruch aufgegangen ist. Müsste es innerhalb der Flachwelt etwas wie die Farb-Luft-Perspektive geben? Oder würde es reichen, wenn die Formen unterschiedliche Farben hätten, die in der Flachweltwissenschaft geometrischen Formen zugeordnet werden?

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          • In der Flachwelt lässt sich erkennen, ob und wo die Linien etwa Knicke, Ecken, Spitzen haben oder bogenförmig sind. So wie wir in der dritten Dimension auch erkennen, ob es sich um eine Pyramide oder einen Kegel handelt, auch wenn wir von beiden nur den gleichen dreieckigen Umriss sehen. Oder ob es sich in um einen Würfel oder einen stehenden Zylinder mit gleicher Höhe und Durchmesser wie die Würfelkante handelt, obwohl beide den gleichen quadratischen Umriss haben. Ebenso ob man auf eine Kugel oder die Querschnittfläche eines Zylinders mit dem gleichen Durchmesser draufsieht. Schon durch den unterschiedlichen Schattenfall* auf ihren Oberflächen erkennt man die Verschiedenartigkeit der Objekte ja, so muss man sich das vermutlich auch mit den zweidimensionalen Linien in der Flachwelt vorstellen.

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            • Auch die Knicke ließen sich nur am Schattenfall sehen, doch ist nicht die Idee der Lichtquelle schon eine der 3. Dimension? Bei eIner ebenso flachen Lichtquelle wäre der Schattenfall nur eine optische Verlängerung der Linie, vorausgesetzt, ihre Höhe wäre nicht null, denn dann würde sie gar keinen Schatten werfen.

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  1. Ach ja, die nächtlichen Schatten am helligten Tage! Wo kommen sie nur her?
    Übrigens lässt sich meiner bescheidenen Ansicht nach unsere Erfahrungswelt nicht in weniger als vier Dimensionen beschreiben: ohne die Zeitdimension (Bewegung etwa des Auges, des Fußes oder des Fahrrads oder auch der Synapsen im Hirn) lässt sich gar nichts wahrnehmen. Jede Wahrnehmung rekonstruiert gemäß den vorhandenen Instrumenten. Daraus zu schließen, die Wirklichkeit „entstehe“ erst durch die Wahrnehmung, ist ein Kurzschluss, der durch die Subjekt-Objekt-Spaltung und die Vereinzelung des denkenden Subjekts erzeugt wird (ich gegen die ganze Welt). Die Wirklichkeit ist weder gespalten noch bewegungslos, sie wird ständig erzeugt, und zwar von allem, was ihr angehört (also AUCH von mir), sie ist der Lebensprozess selbst, in den ich eingebunden bin und der viel umfangreicher ist als sich mein armes Hirn errechnen kann. Ich bin bestenfalls eine Synapse im Gesamtgehirn der Welt.

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    • Was du über die 4. (Zeit)dimension schreibst, erscheint mir plausibel, liebe Gerda. Danke für den HInweis. Die von dir angeführte Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung durch die quasi kollektive dynamische Wirklichkeitserschaffung transferiert den Prozess, ohne ihn zu widerlegen. Da uns der Außenblick auf unsere „Realität“ fehlt, lässt sich das auch gar nicht leisten. „Synapse im Gesamtgehirn der Welt“ gefällt mir gut.

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      • Dem Satz, dass Wirklichkeit erschaffen wird, wollte ich gar nicht widersprechen, lieber Jules, ganz im Gegenteil. Es gibt sie nur, indem sie sich erschafft. Ständig, ohne Unterbrechung, im Tanz der Elektronen ebenso wie im Werden und Sterben der Sterne oder in meinem Versuch, etwas zu verstehen und hier in Worte zu fassen.

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