Seit 30 Jahren mache sie das schon, sagt die Kellnerin, nachdem sie unser Mittagessen am Tisch serviert hat. Heute habe sie Rückenschmerzen. Das überrascht mich, denn ihr Schritt wirkt stets beschwingt, ob sie zwei Teller trägt oder ein schweres Tablett mit einem Stapel sauberer Tassen. Schon eine Weile habe ich beobachtet, wie schier unermüdlich das Personal schuftet, und das für zwei Schichten der Kurgäste dreimal am Tag. Keine macht einen Leergang, immer eilen alle, in die Küche, wieder heraus, quer durch den Saal. „Sie laufen schier acht Kilometer am Tag“, schätze ich. „Mehr“, sagt sie. „Eine Praktikantin hatte an ihrem Smartphone einen Schrittzähler, und da sind mehr als zehn Kilometer zusammen gekommen.“
Kacka!
Am Pfingstmontag zieht ein übler Geruch durch Foyer und Lesesaal. Die Zimtzicke kommt vorbei und ruft: „Jetzt riecht es auch noch nach Fäkalien! Was soll denn das?!“ Bald schon parkt ein Wagen der Kurverwaltung draußen, und zwei Arbeiter spülen einen Abflusskanal. Wenig später warte ich im Untergeschoss auf die Krankengymnastik (KG): Einige Physiotherapeuten und Sportlehrer arbeiten auch am Pfingstmontag. Ein Mann in Arbeitskleidung kommt die Treppe herab und verschwindet in einem „Betriebsraum.“ Das erinnert mich an H. G. Wells „Die Zeitmaschine.“ Sein Zeitreisender gerät in ferner Zukunft in eine Welt mit zwei menschlichen Rassen. Die kindlichen Eloy leben wohlversorgt in einer paradiesischen Welt, sind aber geistig degeneriert. Sie werden versorgt von den unterirdisch schuftenden Morlocks. In der Nacht kommen die Morlocks an die Oberfläche und holen sich eine(n) der Eloy, was die anderen Eloy nur gleichgültig registrieren. Wir Kurgäste sind wie die Eloy, das allzeit dienstbare Personal, das sind die Morlocks. Nur fressen die keinen der Kurgäste. Aber weiß man’s?
Kindliches
Tatsächlich attestiert mir meine aparte Begleiterin einen neuerdings kindlichen Witz. Das kam so: Sie hatte gesagt, mit meiner Kappe sehe ich aus wie Che Guevara. Da wir etwas abseits der zentralen Kureinrichtung untergebracht sind, haben wir uns Fahrräder gemietet und sprinten damit allmorgendlich um die Wette einen kleinen Anstieg hinauf. Als Siegprämie habe ich mir ausbedungen, sie müsse mich den ganzen Tag „El Commandante“ nennen.
Es geht auch ohne
Da ich den ganzen Tag auf den eigenen Körper konzentriert bin, höre ich auf zu denken. Bin nur noch Muskel und Magen.
Die letzte Stufe
„Kalt und grausam“ sei die Auflösung des Akronyms KG, sagt die Physiotherapeutin. Sie hat bei mir eine Gangunsicherheit beim Treppenabsteigen bemerkt, wohl ein Restsymptom des Schlaganfalls, übt mit mir sogar den Treppenabstieg, allerdings aus Sicherheitsgründen von der letzten Stufe. Die habe ich kürzlich übersehen. Das musste ja schiefgehen.
Collagieren geht noch
Ja, das mit den zehn Kilometern am Tag kommt hin, ich habe ca. 36 Jahre lang in der Gastronomie im Service gearbeitet. 😉 Wenn meine Kollegitäten und ich lange Schichten hatten, zwei- bis dreimal die Woche zwischen vierzehn und sechzehn Stunden pro Tag, ist die Strecke sogar noch um etliches länger gewesen. Immer „bepackt“, nie leer, denn dass man niemals einen „Schneidergang“ (Leergang) machen dürfe, bekommt man schon in den ersten Tagen eingebleut. 😉
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Ich wusste schon, dass du einschlägige Erfahrungen hast. Die Wendung „niemals einen „Schneidergang“ (Leergang) “ machen, habe ich von dir gelernt.
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immernoch interniert? aber du hast eine begleiterin, bringt die post vorbei, kannst du in deinem rehagulag post empfangen? du siehst ich bin offenbar von post besessen, vor allem vom post verschicken! liebe grüße aus nue cdü:)
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Ich bin zur Zeit in kurzzzeitpflege. gerne bekomme ich Post. Ich schicke dir die Adresse. Lieben Gruß Jules
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„Es geht auch ohne“ – eine tiefe und zutiefst erschütternde Erkenntnis. Wer nur noch an seinen Körper denkt, wird zum Tier. Aber Tier und Tier ist ja nicht dasselbe.
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Der Körperkult unserer Tage hat ja auch etwas zutiefst Geistfernes.
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Genau das wollte ich damit sagen. Und praktiziert wird sie oft wie eine Ersatzreligion Man könnte es schon Selbstanbetung nennen.
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