An diesem stürmischen Abend, mein Kabelanbieter meldete eine Störung von TV, Telefon und Internet, fand ich mich ganz auf mich zurückgeworfen. Eine Weile las ich in J.J. Voskuils „Büro“, war aber bald genervt von zu wenig Licht und legte den Wälzer weg. Wie den Abend verbringen? Sollte ich einen Abendbummel machen? Ein Blick aus dem Fenster ließ mich zurückschrecken. Es regnete offenbar. Also nicht bummeln, nicht lesen, einfach nur dasitzen? Warum nicht? Doch indem ich ganz tatenlos blieb, klebte die Zeit in der Uhr fest. Nach einer Weile Stillsitzen begann es zu denken. Ein Aufmerksamkeitsfunke unternahm einen Bummel, scheinbar ziellos, und trat hie und da Erinnerungsfragmente los.
Um ihrer habhaft zu werden, stellte ich mir die Bibliothek meines Lebens vor. Sie hat rechter Hand einen Gang entlang einer Fensterfront, von dem man nach links Regalreihen betreten kann, die im rechten Winkel vom Gang abgehen. Im Gang stehen einige Lesepulte, worauf Bücher abgelegt, aufgeschlagen und gelesen werden können. Habe ich genug gelesen, bin ich gehalten, das Buch aufgeschlagen liegen zu lassen. Ein kundiger Bibliothekar wird es an den richtigen Regalort zurückstellen. Er trägt weiße Handschuh, um jede Beschädigung zu vermeiden, nicht weil die Bücher so kostbar wären. Er weiß es nicht, denn er schaut niemals hinein. Weil er nicht weiß, welche Bücher bedeutsam sind und welche nicht, wundere ich mich, dass er ganze Regalreihen vernachlässigt hat. Dort stehen Bücher, deren Schrift nur noch vage zu erkennen ist. Sie müssten dringend abgeschrieben werden, bevor ihr Inhalt gänzlich verblasst. Ein Gang zu Regalen dieser Bücher ist tatsächlich von Spinnweben versperrt, und es müsste Staub gewischt werden. Gerade wegen der Spinnweben betrete ich just diese Regalreihe.
Die Titel auf den Buchrücken in diesem Regal sind unlesbar. Bei einem ahne ich, was dort steht. Es ist wie bei einem schwach erinnerten Traumfragment. Gerade will mans erhaschen, rennt es zur nächsten Mauerecke und steht feixend da. Ich konzentriere mich, und plötzlich ist der Aufdruck wie von Zauberhand erneut geschwärzt und mit Blattgoldpuder eingestäubt: „Christine Hansen.“ Ich ziehe das Buch aus dem Regal, trage es hinüber in den Gang, lege es auf ein Stehpult und schlage es auf.
Was für ein schönes Bild! Gerade so konnte ich mir die Bibliothek meines Lebens auch gut vorstellen. Wenn ich so darüber nachdenke, gibt es in einigen Seitengängen noch Geheimtüren, die in finstere Keller und in einen Hochsicherheitstrakt führen.
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Dein Kommentar ließ mich überlegen, ob es einen Tag der offenen Tür für diese Kellerarchive und Giftschränke geben dürfte, die es vermutlich jedes Lebensbuch hat. Danke für dein Lob meiner Bibliotheksmetapher.
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Lieber Jules, es rührt mich gerade sehr, dass und wie du mich in die Bibliothek deines Lebens aufgenommen hast! 🤗
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Liebe Anna,
dankeschön, dass ich deine hübsche Zeit-Uhr-Metapher klauen und einbauen durfte.
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Ja, manchmal will ich hier auch nur ein bisschen sitzen…
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Immer gern, Herr Ösi!
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