Die Besucherin

Kategorie KopfkinoDer See war in Aufruhr. Der Wind trieb unaufhörlich wie lebendig zuckende Wellen vor sich her, bis sie gegen das befestigte Nordufer klatschten. Ich stellte mir vor, dass die fetten Maschseekarpfen sich dicht an den Grund des flachen Gewässers drücken müssten, um nicht von der Strömung mitgerissen und an die Kaimauer geschmettert zu werden.
„Sei mal nicht so dramatisch, Trithemius“, sagte Coster. „Natürlich haben die Karpfen weit draußen eine ruhige Bucht, wo sie sich tief in den Schlamm buddeln können. Im Schlick fühlen sie sich geborgen, weshalb man Maschseekarpfen vor Schlachtung und Verzehr mindestens eine Woche in der Badewanne halten sollte, damit sie den Schlammgeschmack loswerden.“
„Was Sie wieder zu wissen glauben, Coster!“
Eigentlich war es kein Wetter, um noch draußen zu sitzen, obwohl die Terrasse des Museumscafés durch eine brusthohe gläserne Einfassung gegen Wind geschützt war. Mich fröstelte trotzdem, denn es hatte leicht zu regnen begonnen.
„Wir wollen etwas anderes reden“, sagte Coster und sah unentwegt an mir vorbei zum Kurt-Schwitters-Platz hin. Du erinnerst dich gewiss noch an meine Metapher von der aufstrebenden Stadt, Trithemius.“
„Vage. Es ist ein soziologisches Modell, oder?“
„Genau. In dieser Stadt steigen alle wichtigen Straßen an und streben einem Plateau in den Wolken zu. Dieses Plateau wächst immer höher hinaus, und möglicherweise, wir wissen es nicht, ragt es schon weit über die Wolken. Die Vermutung liegt nah, denn die Wolkendecke hängt so tief wie hier über uns. Darum ist sie vom Licht der Unterstadt gelblich getrübt, so dass man denken könnte, ein ständig niedergehender Nieselregen ist giftige Brühe. In den oberen Schichten der Stadt wird die Luft angenehmer sein. Zu dieser Jahreszeit soll es dort manchmal schneien.“
„Moment, Coster, da hat’s einen Widerspruch! Wenn das Plateau über den Wolken ist, wie kann es da schneien?“
„Das Plateau ragt wie auf einer Nadelspitze noch weit über die oberen Schichten der Stadt hinaus. Ich bin allerdings auch noch nie in den oberen Regionen der Stadt gewesen, denn es ist ein ziemlich weiter und beschwerlicher Aufstieg. Und nach oben hin werden Wege und Straßen immer steiler. So kenne ich auch niemanden, der schon einmal ganz oben war. Wer es bis dahin schafft, vermeidet es offenbar, wieder herunterzukommen, denn diese Stadt hat keine öffentlich zugänglichen Transportmittel. Manche munkeln aber, es gäbe ein System geheimer Fahrstühle durch alle Ebenen der Stadt. Doch die meisten ihrer Bewohner können sich nur mit Muskelkraft bewegen, zu Fuß oder mit dem Fahrrad.

Costers Modell der Stadt - Grafik: JvdL

Costers Modell der Stadt – Grafik: JvdL

Weit hinab gefahren in die Unterstadt bin ich noch nicht. Bei allen Versuchen hat mich irgendwann der Mut verlassen, nicht etwa, weil die Häuser immer hässlicher werden und schwere Verfallserscheinungen haben, auch nicht der elenden Gestalten wegen, die über die löchrige Straße schleichen, sondern weil mir irgendwann klar wurde, dass ich den ganzen Anstieg wieder zurückfahren müsste. Es galt also umzukehren, solange noch Kraft dazu war.“
„Dann ist es vermutlich üblich, sich überwiegend in den Regionen der Stadt´zu bewegen, in denen man zu Hause ist.“
„Du hast es erfasst, Trithemius. Darum trifft man die Bewohner anderer Regionen auch fast nie. Wer weiter unten lebt, findet den Aufstieg zu mühsam, wer oben ist, will nicht runter, weil der Wiederaufstieg ihn abschreckt.“
„Interessant. Aber warum erzählen Sie mir das hier im Regen?“
„Na, weil ich hoffe ein Wesen aus der Oberstadt wiederzusehen, das mir eben begegnet ist.“
„Wo, unten am Maschsee?“
„Nein, hinter uns im Sprengelmuseum.“
„Wie das?“
„Ich stand im neugestalteten Untergeschoss, in der Abteilung, die jetzt Kosmos Schwitters heißt. Plötzlich strebte eine Dreiergruppe vorbei, ohne von den Arbeiten dort noch Notiz zu nehmen, eine ältere Dame, eine junge Frau, gefolgt von einem jungen Mann mit üppigem, aber sorgfältig in Form gebrachtem Bart, der eine vermutlich sündteure Kamera mit Objektiv vorm Bauch trug. Die junge Frau jedenfalls war von einer überirdischen Schönheit, wie sie eigentlich nie anzutreffen ist in diesen Regionen der Stadt. Schönheit ist das falsche Wort, denn Leute wie du, Trithemius, denken da gleich an hohle Nüsse wie Germany’s Next Topmodel, ein Playboy Playmate oder eine prämierte Schönheitskönigin mit Schärpe.“
„Offenbar fehlen Ihnen aber auch die Worte, Coster, wenn Sie die Frau nur durch ihre platten Gegenbilder beschreiben können.“
„Ja, die Wörter und die Kategorien fehlen mir. „Edel“ trifft es auch nicht, weil es die anrüchigen Komposita Edelprostituierte und Edelboutique gibt. Und Paarung wirkt bekanntlich auf die Partner. Also wenn durch eine Laune der Natur alle körperlichen Eigenarten ideal zusammentreffen, gemildert durch eine winzige Asymmetrie, wenn Ebenmaß der Erscheinung mit Anmut daherkommt, einer Anmut der Bewegung, die auf Bildung, hohen Geist und Herz schließen lässt, dann war es annähernd die Frau, die ich gesehen habe, beziehungsweise nicht gesehen habe, denn irgendwas überstrahlte ihre Erscheinung, so dass ich mich an keine Einzelheiten erinnern kann.“
„Sie wurden also geblitzdings, äh, geblendet, Coster.“
„Ja, aber weißt du, was das Schlimmste ist? Unten vor dem Museum parkt eine schwarzer Mercedes der S-Klasse mit Diplomatenkennzeichen, worin ein Fahrer sitzt. Und ich wette deinen Bart, er wartet auf die drei. Drum warten wir auch“
Was aber hat das mit Ihrem Modell der aufstrebenden Stadt zu tun?“
„Einer der geheimen Aufzüge befindet sich in der Kunst, wie sie in teuren Galerien gehandelt wird oder in Museen hängt.“
„Aha, und mit diesem Aufzug ist Ihre Edeltusse von irgendwo weit oben herabgekommen, und hat Ihnen im Vorbeigehen mal eben den Kopf verdreht. Schon wollen Sie meinen guten Bart verwetten. Verräter!“

3 Kommentare zu “Die Besucherin

  1. Eine selten schöne Beschreibung der Schönheit, die häufig gar nicht beschrieben wird, oder so, dass sie am Ende doch platt und gewöhnlich erscheint.
    Besonders gut gefällt mir auch die Metapher der aufstrebenden Stadt. Darüber kann man an einem grauen Regentag wie heute schön nachdenken und die Kategorie „Kopfkino“ passt vielfach.
    Und am Rande merke ich mir, Maschseekarpfen – sollte ich einmal einen lebend bekommen – vor dem Verzehr ein ausgiebiges Bad in der Wanne zu gönnen.

    Ein schönes Wochenende, lieber Jules

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    • Dankeschön, liebe Mitzi. Das macht mich froh, nachdem beim Schreiben meine Erinnerung komplett versagt hat, dabei lag die Begegnung erst einen Tag zurück. Die Metapher der aufstrebenden Stadt habe ich mir für 4. Interaktive Lesenacht – IN ARTE VOLUPTAS (November 2008) ausgedacht. Seither kreisen meine Gedanken manchmal um das Modell, vor allem wenn mal wieder vom immensen Reichtum einiger Menschen weltweit die Rede ist, deren Leben sich in soziologisch kaum erfassten Regionen abspielt. Daher die Nadel, die vom geschichteten Modell so gänzlich abgehoben ist. Ob das mit den Maschseekarpfen stimmt, weiß ich nicht. Im Jahr 2009 konnte man ihn noch zu Weihnachten und Silvester kaufen.

      Dir ebenfalls ein schönes Wochenende, liebe Mitzi

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