Kleine Geschichten – Das ist die moderne Zeit

Kleine Geschichten

Bei einer Trainingsfahrt mit dem Rennrad gelangte ich an ein Dorf am Niederrhein, das wie eine Insel in den Feldern liegt, beschattet von mächtigen Kastanien. Ich war müde und hatte noch viele Kilometer gegen den Wind vorm Bauch. Deshalb hielt ich kurz an und lehnte mein Rad an ein Kapellchen, das außerhalb des Dorfes dem Westwind trotzte. Die Kapelle war durch ein schmiedeeisernes Gitter verschlossen. An den Wänden hingen marmorne Votivtafeln. Sie waren den gefallenen Söhnen einer Familie gewidmet. Ich sann über die Schicksale nach und dachte: Man müsste so ein Dorf einmal auslesen wie ein Buch.

Einige Monate später fuhr ich mit dem Auto hin. Da sah ich, dass der äußere Eindruck getäuscht hatte. Im Dorf gab es nicht Kneipenwirt, Pfarrer noch Bürgermeister, und wo diese drei Säulenheiligen fehlen, stirbt das Dorfleben langsam dahin. Ja, es gibt in der alten Volksschule ein Gemeindezentrum, dessen Öffnungszeiten vermutlich per Mundpropaganda ausgegeben werden; man weiß es nicht als Auswärtiger. Und der Mütterverein fährt einmal im Jahr nach Kevelaer, wie im Aushangkasten zu lesen. Am Dorfplatz hält der Metzger noch aus, und da die Mittagspause vorbei ist, geht langsam die Jalousie des breiten Schaufensters hoch. Bimmelimmelim, der Laden ist auf! Das Kirchlein St. Joris ist verschlossen.
Ich frage eine alte Frau, die mich schon eine Weile beäugt:
„Wer hat den Schlüssel?“
„Den verwahrt die Küsterin.“
„Ob man den von ihr bekommen kann?“
„Ja, aber nur, wenn sie dabei ist. Es wird ja soviel gestohlen heutzutage. Wat machen Sie denn hier?“
„Eigentlich wollte ich den Heiligen Joris mitgehen lassen, aber wenn die Küsterin mich nicht allein in die Kirche lässt …“
„Ach, dann ist dat sicher Ihr Auto, das da hinten parkt.“

Leugnen ist zwecklos. Ich gucke brav und frage artig, und weil ich so offenkundig am Dorfleben interessiert bin, beginnt sie zu erzählen. Sie sei die zweitälteste Frau im Dorf, sagt sie, und ich bin überrascht, weil sie noch so rüstig wirkt.
„Nur die Frau Pohl, die da drüben am Ortseingang in der ehemaligen Wirtschaft wohnt, ist älter. Die alte Generation stirbt weg“, sagt sie und deutet auf die umliegenden Gräber. „Jetzt wohnen Leute im Dorf, die haben neu gebaut, man kennt die gar nicht. Im Krieg sind ja viele Häuser zerstört worden.“
„Wie war das im Krieg?“

Sie hat den dicken Pudel ihrer Tochter bei sich. Der Hund will nicht verstehen, dass hier etwas den gewohnten Tagesablauf stört. Er zerrt an der Leine, Wind kommt auf, Laub fegt über den Friedhofsweg, und das Licht im Westen wird kalt. Sie zieht ihre Strickjacke zusammen und erzählt drei Geschichten:

Luxus unter Feindbeschuss
Als die Front von Westen her heranrückte, da waren in allen Häusern Soldaten einquartiert. Sie lagen zum Schlafen überall auf dem Boden herum. Sogar unterm Küchentisch lagen welche. Aber der Feldwebel, der musste ein Bett haben. Und abends bekam er einen heißen Stein ins Bett, der in Zeitungspapier eingewickelt war.

Drei Pferde und zwei Ochsen
Dann wurde das Dorf evakuiert. Einige Dorfbewohner mussten ins Sauerland. Man lud den Hausrat auf einen großen Fuderwagen. Der wurde von drei Pferden gezogen. Als man ins Sauerland kam, schafften es die Pferde nicht, den überladenen Wagen den Berg hoch zu ziehen. Da wurden zwei Ochsen vor die Pferde gespannt, und dann ging es.

Das ist die moderne Zeit
Bei der Rückkehr mussten sie den Rhein auf einer Behelfsbrücke überqueren. Die hatten die Amerikaner gebaut. Bevor man die Leute aber weiter fahren ließ, wurden sie zuerst entlaust:
„Von NEGERN!“


Bild oben: Pfarrhaus in Kirchheim mit Friedhof – Foto: Gudrun Petersen
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