Kleine Geschichten (5) – Vier Töpfe auf dem Kohlenherd

Kleine Geschichten

„(…) aber dabei dürfen wir nicht vergessen, daß immer noch die Begegnung von Mensch zu Mensch die beste Quelle ist und bleiben wird. Die einst so hoch geschätzte Erfahrung des Alters steht heute bei uns nicht mehr so hoch im Kurs, aber sie hat noch ihren Wert. Vor allem müssen wir uns hüten, daß uns Lauheit oder Gleichgültigkeit den Mund verschließen. Unsere Kinder, Enkel und Urenkel,unsere Zukunft warten darauf, daß wir für sie zur Quelle des beseelten Wortes werden und es bleiben.“ (Pfarrer Stockem, Festschrift zum Bundesfest 26. bis 28. 6. 1971)

Vor dem Krieg war im Haus die Gaststätte gewesen. Der Gastwirt hatte nebenher noch einen Lebensmittelladen und die Poststelle betrieben. Die Gaststätte hatte im Dorf das Café geheißen. „Wir gehen ins Café“, war die übliche Rede, was feiner klang als „wir gehen in die Wirtschaft“ und ein bisschen an die Niederlande erinnert, wo die Kneipen auch Café heißen. Der Wirt war im Krieg gefallen, und jetzt lebte die älteste Frau des Dorfes im Haus.

Das alte Backsteinhaus trug noch die Spuren des Kriegs, war übersät mit Einschussspuren. Da waren scharfkantige Brüche zu sehen, wo die Backsteine getroffen worden waren, die aber mit den Jahren fast die gleiche mattbraune Alterspatina angenommen hatten wie die unversehrten Steine. Seitlich schloss sich ein gemauerter Torbogen an, worin das hölzerne grüne Tor fehlte, wie man sie überall in den Dörfern am Niederrhein sehen kann. Ich fragte mich, ob hier wieder das Freilichtmuseum Kommern auf Raubzug gewesen war. Das Haus war mir schon bei meinem ersten Besuch des Dorfes aufgefallen, denn an der Hausfront hing seitlich der Haustür ein hölzernes Ortsschild. Das Brett war offenbar in der Mitte gespalten, und es war mal der geschnitzte Schriftzug Kirchheim zu lesen gewesen, doch weil die obere Hälfte fehlte, konnte ich das nur noch ahnen.
Ich klingelte an der Haustür und wartete.
Nebenan trat eine Nachbarin vors Haus und zupfte die verwelkten Blüten aus den Geranien.
„Macht die nicht auf?“, fragte sie. „Die ist aber da. Sie müssen hinten rum gehen und an der Küchentür klopfen!“
„Danke!“, sagte ich und ging durch den Torbogen hinten rum.
Als ich an die Küchentür klopfen wollte, fuhr ein Auto auf den Hof. Ich wartete. Ein vierschrötiger Mann im Blaumann stieg aus und musterte mich erstaunt.
„Wat maachen Sie dann he?“
Ich bin der Mann, der im Dorf Geschichten aufschreibt, und wollte Frau Pohl besuchen.“
„Ach ja? Isch bin dä Sohn! Dann kommen Sie ens möt!“

Die Küche war voller Dampf. Frau Pohl hatte vier Töpfe auf dem Kohlenherd.
Ich stellte mich vor, aber hatte Mühe, mich zu erklären. Sie sprach nur Platt, und ich war froh über die vermittelnden Worte des Sohnes. Sie wirkte eingeschüchtert. Mit einem Fremden zu sprechen, war ihr offenbar unangenehm.
„Das war wohl hier mal der Gasthof von Kirchheim?“, fragte ich.
„Ja, bös dä von de Amerikaner bombardiert worden is. Im Kirchturm, da soß jo de Fliejerabwehr, un he jing eine Blindjänger rein!“, sagte Frau Pohl.
„Ach“, sagte ich, „dann haben die auch das Ortsschild draußen zerschossen?“
„Nee, dat halve Brett hen ich no’m Kriech verstocht, – glöv ich.“
„Verstocht?“
„Das hat meine Mutter im Herd verbrannt!“ übersetzte der Sohn. „Es gab ja nach dem Zusammenbruch kein Brennholz mehr. Aber genau weiß sie es nicht mehr.“
„Kommen Sie darum?“, fragte Frau Pohl ängstlich. „Nein, keine Sorge, Frau Pohl“, ich hatte mich nur gefragt, warum die obere Hälfte fehlt.“
Wir setzten uns an ihren Küchentisch, derweil es auf dem Herd anheimelnd bruzzelte. Dann machte ich einen Fehler, legte nämlich ein Diktaphon auf den Tisch, und das war und blieb auf dem Wachstuch ein störender Fremdkörper, obwohl ich gefragt hatte, ob ich das benutzen dürfte. Ab jetzt sprach sie nur noch Hochdeutsch und blieb ziemlich einsilbig. Als ich sie nochmals auf das Holzschild ansprach, konnte sie sich nicht mehr erinnern, was damit geschehen war. Es war sowieso Zeit zu gehen. Auf dem Land muss Punkt zwölf beim Mittagsgeläut gekocht sein. Ich stand auf und sagte: „Vielen Dank, Frau Pohl, dass ich Sie stören durfte. Ich will Sie nicht weiter vom Kochen abhalten. Was haben Sie denn da alles drin?“
Frau Pohl hob stolz der Reihe nach die Deckel ab und deutete hinein:
„Rindersupp mit Markbällchen, he de Äerpel, dä Blomenkohl, un he in de Kasseroll hen ich dä Schweinebraten! Alles nach alter Art und Weise.“
„Jo!“, sagte der Sohn. „Kochen kann ming Mamm! Die hat ja auch für den Pastor Stockem gekocht und den Haushalt jemacht.! Wor dat net esu, Mama?“
„Ja“, nickte sie, „dä aale Pastur, dat wor ene fffeine Mann, ein Herr, ene richtije Pastur!“

Als ich am offenen Küchenfenster vorbeiging, hörte ich den Sohn fragen: „Wor dat in Ordnung, Mamm, dat isch dä rinjelosse hann?“
„Jojo, dä wor anjenehm!“, sagte Frau Pohl.

Nachtrag
Einige Tage später traf ich Frau Pohl vor dem Haus an, wie sie mit den Händen in der Erde wühlt. Sie hat Blumen gepflanzt. Ich hielt das Auto an und begrüßte sie. Sie war sehr erfreut. Wir erzählen ein bisschen und irgendwann sagt sie: „Ich find dat jot. Äver hürt ens, verdeent Ühr domit  och jeld?“ Ich sage, „hierbei nicht, aber ich bin Lehrer, und der Staat bezahlt mich gut.“ Da sagt sie: „Dat is jot!“


Bild oben: Pfarrhaus in Kirchheim mit Friedhof – Foto: Gudrun Petersen
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