Von der Westwindwohligkeit

aquarellEine Windboe fegte mir ins Gesicht, als ich heute vom Mittagstisch zurückfuhr und den Platz Am Küchengarten überquerte. Die Boe wirbelte einen Blätterhaufen auf und trieb das Laub in Spiralen vor sich her. Aus meinem Kopf schüttelte der Wind eine Erinnerung von Novembertagen. Sie drudelte durch mein Denken wie ein Stein im Gebirg, den ein achtloser Wanderer losgetreten hat.

Wo ich aufwuchs, da ist es beinah eben. Man könnte auch sagen, die Gegend ist flach. Nur topfeben ist sie nicht. Gegen Osten hin wogen die Felder durch das Tal eines alten Rheinarms, und auch ein Bach von Südwesten her formt sanfte Hänge. Sonst ist die Gegend flach, und deshalb kann man weit schauen. Bei klarem Wetter erscheinen am östlichen Horizont ganz blass einige Höhenzüge, das Bergische Land. Da ist Ausland, denn es liegt auf der rechten Rheinseite.

Zweitausend Schritt südlich von meinem Heimatort führt die Bahnlinie Köln-Roermond vorbei. Die Leute sagen, wenn überhaupt, „Röhrmond“. Dass die Schreibweise oe im Niederländischen wie u gesprochen wird, wissen die Leute hier nicht; dass die ferne holländische Stadt folglich „Rurmond“ heißt, weil das aus der Eifel kommende Flüsschen Rur dort in die Maas mündet, stört den Fahrgast nicht, denn er reist in diese Richtung nur bis Grevenbroich, und steigt er in Gegenrichtung ein, will er sowieso nach Köln. Grevenbroich sprechen die Leute übrigens richtig mit langem o, denn das i in -broich ist ein sogenanntes Dehnungs-i und kennzeichnet den langen Vokal.

Während der Fahrgast nach Grevenbroich auf dem zugigen Bahnsteig steht und der Zug von irgendwo da hinten noch nicht kommen will, wandert sein Blick nordwärts, wo ein Bahndamm im rechten Winkel von der Bahnlinie wegstrebt und sich in der Ferne verliert. Er ist mächtig hoch und über und über mit Gehölz bewachsen. Oben ragen Pappeln und Birken heraus. Gleise haben auf dem Strategischen Bahndamm nie gelegen. Die Bahnlinie, mit deren Bau man 1904 begann, ist unfertig geblieben.

Der Strategische Bahndamm führt nah am westlichen Ortsrand meines Heimatdorfs vorbei. Als Kind habe ich dort gespielt. Im November und Anfang Dezember hatte der Bahndamm etwas Magisches, ragte grau gegen den stürmischen Westhimmel und trotzte den ewigen Böen, die über die gepflügten Felder herankamen und den Regen zerstäubten. Und hatten wir uns durch die Brombeerranken einen Weg hinaufgebahnt, dann pfiff der Wind durch die kahlen Finger der Sträucher und fuhr uns in die Glieder. Wir suchten uns eine Mulde nah bei Baum und Strauch und legten den Grundriss einer Hütte fest. Der Eingang zeigt nach Osten.

Wenn ihr dann ausschwärmt und du allein über den wilden Bahndamm streifst, um Reisig für die Hütte zu suchen …, – dann ist in diesen Momenten keine Zeit. Da bist nur du und die unwirtliche Natur, der du einen Flecken Heimeligkeit abtrotzen willst. Besonders gegen Westen muss die Hüttenwand den Böen widerstehen. Hier werden dicke Äste eingepflockt und starke Zweige verwunden. So haben es schon die Alten gemacht, denn im Winden der Zweige erkennen wir das Wort Wand. Wie die Hütte ihre Form gewinnt, wächst die Vorfreude auf ihre Behaglichkeit. Das spornt den Eifer an, und du rupfst trockenes Gras, als gälte es, einen schweren Ackergaul mit Heu zu versorgen. Wenn du die Löcher in der Wand stopfst wie hungrige Mäuler, mag der Wind pfeifen wie er will. Und bringt er Regen heran, um so besser. Das gibt einen hübschen Kontrast zwischen draußen und drinnen, wenn die Hütte erst fertig ist.

Ihr wart nur zu Dritt. Es hat lange gedauert, bis ihr die Hütte abgedichtet hattet. Inzwischen ist viel Zeit von West nach Ost geflogen. Hell war der Himmel den ganzen Tag über nicht, doch jetzt wird ihm allmählich das bisschen Licht ausgeblasen. Ist das nicht ein wunderbarer Augenblick, im Dämmer in den behaglichen Schutz einer Hütte zu kriechen, die man mit eigenen Händen errichtet hat?