Die Botschaft der Glasmurmel – über alphabetisches und nachalphabetisches Denken

In der mündlichen Kultur ist Sprache immer unmittelbar mit dem Sprecher verbunden. Sie ist konkret und betrifft die Dinge der räumlich nahen Umgebung. Die Schrift bringt eine Entfernung vom Sprecher mit sich. Schon beim Aufschreiben entfernt sie sich vom Schreiber selbst. Denn was er zuvor gedacht oder gesagt hat, wird jetzt in ein Zeichensystem übertragen, der Zeit enthoben, steht ihm dann in Sätzen vor Augen und wirkt auf sein Denken zurück. Während ich das hier schreibe, halte ich immer wieder inne, lese, was da steht und beurteile es hinsichtlich der Klarheit und Verständlichkeit. Das wiederum ordnet meinen Gedankenfluss und regt neue folgerichtige Gedanken an. Das bedeutet, dass ich alle meine Gedanken versuche logisch zu ordnen. Aber die Logik ist nur ein Teil meines Denkens. Alles was ich tue als Mensch, ist immer auch von Gefühlen begleitet. Das Schreiben fordert strenges alphabetisches Denken, ein Denken immer der Reihe nach unter Ausschaltung der Gefühle, es sei denn, sie werden im Text strategisch eingesetzt, wenn ich beispielsweise etwas schreibe, um bei Lesern Gefühle zu erwecken.

Es ist Nachmittag. Ich liege faul auf dem Sofa und schaue gegen die hohe Decke. Dort scheint eine farblose Glasmurmel zu lagern, der Schwerkraft zum Trotz. Ich habe keine Sorge, dass sie sich plötzlich der Physik besinnen und mir auf die Nase fallen könnte, denn ich weiß, – diese gläserne Murmel ist eigentlich eine kleine runde Mulde. Das Licht des Fensters wirft einen Schatten in die Mulde.

glaskugelEs kostet keine Mühe, das Wissen um die Mulde zu verdrängen und eine Glasmurmel zu sehen. Ich will das magische Bild, nicht die vermeintliche Einsicht in die wahre Gestalt der Dinge. Diese Einsicht ist ein bisschen auf den Hund gekommen. Zu oft hat sie sich als trügerisch erwiesen, wenn die Wissenschaft ihre Lehrmeinung korrigieren musste oder wenn medial vermittelte Informationen sich als Lug erwiesen haben. Was ist besser, eine Glasmurmel an der Decke zu sehen oder zu wissen, dass es nur eine Deckenmulde ist, die den Anschein erweckt, eine Glasmurmel zu sein?

Der Medienphilosoph Vilém Flusser nahm vor dem Aufkommen des Internets schon an, der Mensch müsse das alphabetische, lineare Denken aufgeben. Es ist das Denken der Buchkultur. Das digitale Zeitalter verlange ein anderes Denken. Will man diese theoretische Forderung begreifen und in Probehandeln umsetzen, führt jeder Schritt ins Unwägbare. Was bedeutet es nichtalphabetisch zu denken? Es hieße zu akzeptieren, dass an meiner Zimmerdecke eine Glasmurmel lagert.

Man wird sogleich verstehen, dass nachalphabetisches Denken dem magischen Denken ähnelt, in dem die Dinge ein Eigenleben führen und nach nicht einsichtigen Gesetzen auf unser Leben einwirken. Aber von diesem Denken, das sich duckt vor geheimen Mächten, vor diesem ängstlichen und ahnungsvollen Raunen, sind wir durch die Aufklärung befreit worden.

Nachalphabetisches Denken entspricht nicht dem magischen Denken des voralphabetischen Menschen. Der voralphabetische Mensch der oralen Kultur denkt zyklisch und manchmal konfus. Er hat das lineare Denken noch nicht entdeckt. Logik, Aufklärung und Wissenschaft liegen noch jenseits seines Horizonts. Der alphabetisierte Mensch jedoch kennt beides und kann zwischen zwei Möglichkeiten der Wirklichkeitserfassung wählen. Ein neues Denken, wie Vilém Flusser es fordert, das ergibt sich, wenn man die bildhaft magische und die alphabetisch abstrakte Wirklichkeitserfassung kundig vereint.

Was bedeutet es, wenn sich an meiner Zimmerdecke eine Mulde befindet, die gleichzeitig eine Glasmurmel ist? Es zeigt sich hier, dass der nachalphabetische Mensch fähig ist, beides zu sehen und beides zu denken. Neben der forschenden und kategorisierenden Aneignung der Welt bietet sich eine Symbiose an: die laterale, pataphysische Wirklichkeitsauffassung, die sowohl körperlich-magisch wie auch geistig-logisch ist.

Es scheint, dass es selbstgemachte Härten im menschlichen Dasein gibt, die aus der einseitigen Betrachtung der Dinge folgen. Ist der Mensch allein dem magischen Denken verhaftet, geht er geduckt unter der Bedrohung durch das Unwägbare. Vertraut er nur dem logischen Denken, verliert er die Bodenhaftung und es mangelt ihm an Gefühl, Empathie und Inspiration. Wie sich nachalphabetisches Denken gestaltet, wie es sich positiv auswirken wird und zu einer tatsächlichen neuen Qualität des Denkens und Handelns werden kann, zeichnet sich noch nicht recht ab. Wir bewegen uns in den nur unscharf berechenbaren Randzonen. Aber vermutlich ist es künstlerisch, spielerisch, lässt Unlogisches zu.

Schon mehrmals habe ich folgende irritierende Erfahrung gehabt: Wenn ich auf einem Touchscreen eine Textstelle mit dem Finger markiert und kopiert habe, dann war mir, als wäre es in meiner Fingerkuppe gespeichert und ich könnte den Text von da an beliebiger Stelle auf dem Screen wieder einfügen. Es ist wie mit der Glasmurmel, die eigentlich nur eine Mulde ist. Ich weiß, dass der Text nicht in meiner Fingerkuppe gespeichert ist, aber die Vorstellung, beflügelt meine Phantasie. In diesem Sinne bedeutet Vilém Flussers nachalphabetisches Denken, sich bewusst zu befreien von strenger Logik, um sich beflügeln zu lassen.

33 Kommentare zu “Die Botschaft der Glasmurmel – über alphabetisches und nachalphabetisches Denken

  1. Eine ganze Menge Gedanken und Emotionen stürmen nach dem Lesen auf mich ein, ich muss, wie du schon schreibst, mein Denken ordnen und kann das nur, in dem ich schreibe. Nachalphabetisch klingt für mich wie postindustriell – suggeriert das nicht, dass wir etwas überwunden hätten? Dabei stecken wir doch mitten drin, zugewuchert von Text und Bildern und haben gerade mühsam gelernt, nicht nur zu schreiben, sondern auch zu verstehen, zu interpretieren. Nein, so weit sind wir noch nicht einmal, für viele ist der Umgang mit Schrift nach wie vor unhandlich, unbequem und sie lassen sich lieber in Bilderwelten saugen, die uns Fernsehen, Kino und Internet reichlich anbieten. Müssen wir nicht das eine beherrschen, um das andere genießen zu können? Und beschreibt die Befreiung von der strengen Logik nicht etwas, das wir unter dem Begriff der Kreativität schon immer kennen? Ich ahne vielleicht, wohin dein Denken geht, aber noch kann ich dir nicht wirklich folgen.

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    • Du hast Recht, gerade wir bloggenden Menschen kommunizieren alphabetisch. Das genaue Gegenteil sind die Menschen, die sich in die von dir genannten Bildwelten saugen lassen. Denn sie bilden dabei keine Begriffe. Im Bild muss rasches Vergessen liegen, sonst würden sich die wechselnden Bilder überlagern. Gerade das schnelle Hollywood-Kino lässt dem Betrachter keine Zeit für eigene Überlegungen. Die massiven Bildeindrücke unterstützt durch einen Rundum-Ton lassen den Konsumenten faul zurücksinken. Er braucht keine eigenen Bilder zu phantasieren. Inhaltlich sind die Bildwelten oft im magischen Denken angesiedelt, darauf angelegt, heftige Gefühlswallungen zu erzeugen, über schablonenhafte Figuren klare Feindbilder zu vermitteln usw. Wer diesen Bildwelten verfallen ist, trägt gewiss nicht zur kulturellen Entwicklung bei und ist in diesem Sinne als produktives Mitglied der Gesellschaft verloren.
      Wenn es etwas zu überwinden gilt, dann eben die Härte unserer Gesellschaften. Es gilt, dem politischen Denken und dem der herrschenden Eliten mehr Mitgefühl, der Wissenschaft mehr Verantwortungsgefühl beizubringen. Sie alle berufen sich auf streng logische Überlegungen.
      Dass die Befreiung von strenger Logik uns schon durch kreatives Denken bekannt ist, bestreite ich nicht. Der Unterschied zu dem, was ich meine, besteht vielleicht darin,Kreativität in den Alltag zu übernehmen und sie nicht als müßiges Spiel zu betrachten. Insgesamt sehe ich vermutlich nicht klarer als du. Klar ist, dass sich durch die Internetkultur etwas verändert, unklar sind mir noch die konkreten Auswirkungen. Wie du letztens in einem Kommentar gesagt hast, die Dinge sind erst in der Rückschau klar. Aber wir stecken mittendrin.

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      • Noch nachzutragen: Flusser sagt ein Verschwinden der Autoritäten voraus und eine „revolutionäre Gesellschaft“, bei der Dialoge überwiegen, welche ständig Informationen erzeugen. (Die Flut von Texten, von denen du oben schreibst). Dadurch werden die wie selbstverständlich gültigen Vereinbarungen in Frage gestellt. Die geistige Vorherrschaft der Auitoritäten aus der Buchkultur werden ersetzt durch eine vernetzte Struktur, Das, was andere als Schwarminelligenz bezeichnen. Sie organisiert sich selbst wie ein „kosmisches Hirn“.
        Den Autoritätsverlust der Medien erleben wir derzeit, bedingt durch die Demokratisierung der technischen Schrift, aber was das „kosmische Hirn“ Flussers betrifft, bin ich nicht überzeugt. Darum habe ich im Text oben nicht darauf abgehoben.

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  2. Das habe ich in einem Interview gefunden: (http://www.heise.de/tp/artikel/2/2030/1.html) im Grunde betrifft es auch das Bloggen!

    Sie sprachen davon, daß man in bestimmten Vernetzungen lebt, daß man selbst jemand ist, der aus vielen Vernetzungen besteht und irgendwie doch einer ist. Wäre es denn für eine Ethik unserer Zeit eine Maxime zu sagen: Knüpft Vernetzungen! Macht möglichst viele Vernetzungen!?

    Vilem Flusser: Ich glaube, die Ethik ist implizit in allem, was ich gesagt habe. Wenn ich nur für jemanden anderen da bin, und jeder andere nur für mich da ist, dann ist darin eine Ethik der Verantwortung, des Daseins für den Anderen, impliziert. Das ist der Tod des Humanismus.

    Der Humanismus ist eine Ethik, die sich auf eine Klasse, beispielsweise auf die Klasse Mensch, bezieht. Das ist der berühmte Satz: „Ich liebe die Menschheit, aber was mir auf die Nerven geht, sind die Leute.“ Diese Idee der allgemeinen Verantwortung stirbt. An deren Stelle tritt eine persönliche, intersubjektive Verantwortung. Die Ethik erhält dann das Kriterium der Nähe. Je näher mir jemand örtlich, zeitlich, aber auch thematisch steht, desto mehr Verantwortung trage ich für ihn und desto mehr Verantwortung trägt er für mich.

    Diese Verantwortung ist etwas Gegenseitiges. Das ist etwas sehr Altes. Man nennt das Nächstenliebe. Durch die Hintertür kommt ein neuer Begriff der Nächstenliebe, weil ein neuer Begriff der Nähe entstanden ist. Die Vorsilbe Tele-, die wir in der Telematik und in
    vielen anderen Techniken finden, bedeutet das Näherbringen des Entfernten. Ethisch heißt das, daß mich das Ferne nichts angeht. Ich muß es näherbringen, damit es mich angeht.

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    • Zweifellos, da hast du Recht. Ich wollte im Text nicht das Hohelied des Bloggens singen, weil das zuviel auf einmal gewesen wäre, aber unsere Form der Vernetzung ist etwas bisher nicht da gewesenes mit Mitteln derSprache und nah am Mündlichen.Daraus entsteht etwas Neues, was ich schon oft versucht habe zu beschreiben. In einem gut verknüpften Netzwerk fließt soziale Energie. Besonders in den Anfängen des Bloggens, als alles noch frisch und lebendig war habe ich das stark gespürt. Aber jetzt findet wieder einer fruchtbare Interaktion statt, in Kommentaren, aber auch indem du Links und passende Textzitate heraussuchst, was mich beflügelt, mich dem Thema wieder intensiver zu widmen. In deinem Blog geht es ja ähnlich zu. Leider habe ich heute noch nicht bei dir lesen können. Der Text oben hat mich sehr lange beschäftigt. Er war doppelt so lang, und ich musste ihn stark kürzen und von Nebenaspekten befreien, die allesamt wieder zu eigenen Texten führen. Aber demnächst gibt es vorerst wieder leichtere Kost.

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  3. „Was bedeutet es nichtalphabetisch zu denken? Es hieße zu akzeptieren, dass an meiner Zimmerdecke eine Glasmurmel lagert.“

    Hieße es das tatsächlich? Das verstehe ich nicht.
    Aus negativen Prämissen folgt erst einmal gar nichts konkretes.
    Wir wissen doch zunächst nichts anderes, als dass wir nicht mehr logisch denken, wenn wir nicht mehr „alphabetisch“ denken, oder?
    Ich kann dem Gedankengang, bzw. der Logik leider nicht richtig folgen.
    Erklärst Du ihn mir bitte?

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    • Mir ist, wenn ich Tikerscherks Fragen ergänzen darf, auch die beschriebene Differenz von gesprochener und Schriftsprache unklar. Inwiefern wird erst durch Schrift die Rede in ein Zeichensystem transformiert, wo doch die Rede selbst schon ein solches System ist. Und zwar eines, das nicht unmittelbar mit dem Sprecher verbunden ist, da die Sprache selbst die Mittlerin zwischen Sprecher, Hörer und Gesprochenem ist. Sie muss natürlich auch selbst schon vermittelt, also gelernt worden sein.
      Unmittelbarkeit ist buchstäblich nicht vermittelbar, also per definitionem nicht sagbar. In der Sprache wird der Sprecher somit erst hervorgebracht und zugleich von sich entfernt, da er sich eben in einem von allen gesprochenen Medium vermitteln muss.
      Insofern würde ich Tikerscherks Frage unterstreichen und ergänzen: Warum folgt aus einem nichtalphabetischen Sprechen und Denken etwas, das sich durch alphabetisches Denken in alphabetischen Denkschemata – Magie ist ja ein solches Schema – überhaupt konkret und angemessen beschreiben lässt und nicht einfach irgendetwas vollkommen Undefinierbares?

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      • Ich bin mir nicht sicher zu verstehen, was genau du mit Rede meinst. Auf einer unmittelbaren Ebene des Denkens gibt es nur Wahrnehmungen, bildhafte Vorstellungen und Gefühle. Alles wird gesteuert von Impulsen der außerbewussten neuronalen Prozesse. Indem der Mensch sich etwas bewusst macht, übersetzt er es in Sprache. Sie ist eigentlich ein akustisches Zeichensystem. Ich vermute, das meinst du, wenn du die Unmittelbarkeit verneinst. Das Ausgesprochene ist die Rede. Sie entsteht im Augenblick, wird nicht etwa im Kopf schon vorformuliert. Heinrich von Kleist hat das in seinem hellsichtigen Essay „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ beschrieben. Dem Gedanken geht nach Kleist eine dunkle Vorstellung voraus, die sich in der Rede erst entwickelt. Das entspricht deiner Aussage, dass „in der Sprache der Sprecher erst hervorgebracht“ werde. Die Rede ist immer an den zeitlichen Vorgang verknüpft, verfliegt mit dem Augenblick.

        Beim Aufschreiben werden die Überlegungen in ein bildhaftes Zeichensystem übertragen. Die Buchstaben bilden den Sprechlaut ab. Die zuvor kursierenden Gedanken werden nach typographischen Regeln zu Zeilen ausgerichtet, also in eine logische Abfolge gebracht. Dort stehen sie dauerhaft. Zum ersten Mal werden sie objektivierbar, können unabhängig vom flüchtigen Entstehungsprozess beurteilt werden. Der erste Beurteiler ist der Schreiber selbst. Er sieht, wohin ihn seine Gedanken führen. Was du gestern in den Kommentarkasten geschrieben hast, kannst du heute noch lesen und einer Überprüfung unterziehen. In 100 Jahren kann das auch noch jemand tun. Anders als das Wort, die Rede, sind deine Gedanken jetzt festgeschrieben. Den Schreibprozess hat der Linguist Joachim Fritzsche so beschrieben:

        “ a) Schreiben objektiviert. Während der Sprecher, mit dem, was er sagt, eine Einheit bildet, veräußert der Schreibende seine Vorstellungen und tritt ihnen gegenüber. Er kann sich selbst beurteilen wie einen Fremden. Das Subjekt wird Text.
        b) Schreiben isoliert. Der Schreibende ist auf sich selbst angewiesen; keiner springt ihm bei, wenn ihm ein Wort fehlt; aber es fällt ihm auch keiner ins Wort.
        c) Schreiben provoziert. Der Schreibende muss alles, was er zum Ausdruck bringen will, verbalisieren, d.h. ihm eine verstehbare Form geben. In der geschriebenen Sprache muss alles bis zu Ende gesagt werden.
        d) Schreiben fixiert. Der Schreibende legt sich beim Schreiben fest, er verpflichtet sich. Seine Äußerungen werden interpretierbar, kritisierbar, diskutierbar.“

        Zu deiner letzten Frage: Ich glaube nicht, dass ich konkret beschrieben habe, was aus dem nachalphabetischen Denken folgt, sondern ich habe allenfalls Ahnungen und Wünsche formuliert, weil mir das von dir aufgezeigte Dilemma bewusst ist.

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        • Bezüglich des Begriffs der Rede fühle ich mich gut verstanden. Allerdings bin ich anderer Auffassung, was die Objektivierung durch Sprache angeht. Einen graduellen Unterscheid kann ich in dieser Beziehung zwischen Rede und Schrift erkennen, skeptisch bin ich, ob im genannten Punkt eine prinzipielle Differenz durch die Flüchtigkeit bzw. die dauerhafte Feststellbarkeit entsteht,
          Das Subjekt wird in meiner Auffassung allein durch das Sprechen schon Text. Nicht nur, aber auch und vorwiegend. Es wird sogar erst dadurch Subjekt, nicht nur grammatisches, sondern auch faktisches. Die erste Person Singular, die sich im „Ich“ ausspricht, ist nichts anderes als ein Subjektivierungsprozess, dem Sprache in ihrer Regelhaftigkeit bereits vorausgehen, der sich der Sprecher ‚unterwerfen muss‘, um überhaupt verstanden zu werden. Dadurch wird er gleichzeitig Objekt in der Eigenschaft des Sprechers, dem zugehört wird, quasi ein gesprochener Sprecher. Er kann nur in der Sprache sprechen, die gesprochen wird, die ihm das Sagbare ermöglicht.
          Dass in der Schrift dieser Prozess auf Dauer gestellt ist und Kommunikation so eine ungleich größere Anschlussfähigkeit erlangt, die aufgrund der Trennung von „Lebenszeit und Weltzeit“ (Blumenberg) auch erst scheinbar entzeitlichte und jeder konkreten Situation enthobene ‚wahre Sätze‘ der Wissenschaft erlaubt, das bestreite ich keineswegs. In der Schrift wird der Sprecher zum Teil des Archivs. Aber schon im Sprechen wird er nach meinem Dafürhalten ein Subjekt-Objekt der Sprache, des Textes.
          Ein kleiner Literaturhinweis dazu für den passenden Augenblick der Muße: http://www.martinendres.net/Endres__eigentlich_enteignet.pdf

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        • Zufällig habe ich zum letzten Satz ein Zitat gefunden, als ich es las, fiel mir diese Antwort von Dir ein, die ich schon ein paar Tage vorher gelesen hatte: „…denn es gibt Ereignisse, die erst gekommen sein müssen, damit wir weiter denken können.“ Eduard von Keyserling („Wellen“, als Motto einem anderen Buch vorangestellt). Gefällt mir gut, denn oft taucht die Frage auf, wenn man spekulativ in die Zukunft schaut, wie sich die Gesellschaft zum Besseren entwickeln könnte: „Und dann?“ Tja, weiß ich auch nicht, muß man dann sehen.

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          • Danke für das passende Zitat! Wir leben doch immer auf eine ungewisse Zukunft hin, und Prognosen haben sich schon oft als falsch erwiesen. Ich bin glücklich, an dieser kulturellen Umbruchphase teilzuhaben. Und du als Wahlkölner weißt sogar etwas im voraus, nämlich: Et kütt wie et kütt. 😉

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    • @ tikerscherk
      Deine Frage ist durchaus berechtigt. Das alphabetische Denken mit Mitteln der Logik zu kritisieren und aufzuzeigen, was dann werden könnte, ist eigentlich paradox, ebenso wie Platons Kritik an der Schrift mit Mitteln der Schrift. Platon bedient sich einer Hilfskonstruktion, einem fiktiven, literarisch gestalteten Gespräch von Sokrates mit seinem Freund Phaidros. Schrift wird also scheinbar mündlich kritisiert. In diesem Sinne ist auch eine Hilfskonstruktion, was ich im Text formuliert habe, nämlich ein paralleles zweigleisiges Denken zu akzeptieren, um zu schauen, was daraus folgt. Wo wir noch nicht wissen können, müssen wir annehmen, aber dürfen nicht vergessen, dass wir mit Annahmen operieren. Was noch nicht entscheidbar ist, wird nicht entschieden, sondern steht weiterhin zur Diskussion.

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  4. Ich habe erst vor einiger Zeit erkannt, wie wichtig soziale Netzwerke sind und dass da starke Energieflüsse herrschen. Weil eben der Mensch ein Energiefeld ist und ein Beziehungswesen. Beobachte das momentan sehr gespannt: Dynamik, Reaktion Gefühle, Bilder…die nur aus der rein schriftlichen Verständigung entstehen.
    Zum magischen und alphabetischen Denken …ist für mich situationsabhängig und ja, solche magischen Momente, wie mit der Fingerkuppe auf dem Touchscreen erlebe ich auch als inspirierend…ist genauso, wie manche Fliesenmuster bei einem bestimmten Blick in 3-D erscheinen oder Schattenformen angsteinflößend sein können…

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    • Es ist doch in der Tat erstaunlich, wie sich die menschliche Kommunikation durch das Internet verändert hat. Dass wir beinah zeitnah schriftliche Gedanken austauschen können, erinnert an die mündliche Gesprächskultur, ist aber etwas ganz Neues. Wir sitzen räumlich entfernt, manchmal jeder zu Hause, wissen kaum etwas voneinander, aber werden uns im Blog auf eine spezielle Weise vertraut. Es ist ungemein anregend, etwas zu schreiben und darauf diese Reaktion zu bekommen, wie ich sie hier unter meinem Text finde. Diese Aufmerksamkeit erlebe ich als soziale Energie. Sie entsteht im Netz durch das Hin und Her der Gedanken.
      Konkretisieren möchte ich noch, dass ich „magische Ideen“ als intellektuelles Spiel gutheiße, nicht als „angsteinflößende Schattenformen“. Ich weiß freilich, dass du es anders meinst, betone es nur, falls Kinder mitlesen 😉

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  5. Pingback: Einiges über Buchstabenmagie

  6. „Wie toll ist denn das!“, möchte ich ganz unqualifiziert ausrufen, und tat es auch beim Lesen immer mal wieder. Nun hockt ein Satz in meiner Fingerspitze und ich kopiere ihn hier rein: „Ein neues Denken, wie Vilém Flusser es fordert, das ergibt sich, wenn man die bildhaft magische und die alphabetisch abstrakte Wirklichkeitserfassung kundig vereint.“ Es ist ja genau das, was ich täglich versuche, wenn ich Bilder schaffe und Texte, immer dieser Balanceakt, den (noch) kaum jemand mitvollziehen kann: der eine greift sich an den Kopf und sagt: nun spinnt sie, der andere will eine Denkhilfe und so helfe ich ihm aus mit dem Wörtchen „Ironie“ oder „Spiel“ oder „nicht ganz ernst gemeint“, einige wenige verstehen diese Grenzgängerei und finden sie lustig wie ein gelungenes Stückchen auf dem Hochseil. Und nun lese ich hier bei dir, dass ich mich in bester Gesellschaft befinde.
    Natürlich wusste ich es schon vorher, konnte es aber nicht benennen. Die lateinamerikanischen Schriftsteller etwa mit ihrem „Magischen Realismus“ oder die sog. „surrealen“ Maler, Paul Klee. Die Mystiker. … Das Digitale hat nun, bevor das Thema überhaupt verstanden wurde, eine weitere Herausforderung hinzugefügt. Und während die meisten immer noch buchstabieren, sind manche schon bei Meta angekommen – da verschwimmt der Horizont und mich befällt eine Geistesschwäche.

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    • Mich freut dein Lob und dass du den Text mit Gewinn gelesen hast. Ich musste ihn erneut lesen, und es war wie eine Botschaft, die ich mir in einem hellsichtigen Momet selbst geschrieben habe.Dass manche schon beim Meta angekommen seien, gefällt mir. Es ist prima, dass es immer Vorreiter*Innen gibt. 😉

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