Über die Verfügbarkeit des Vergangenen

Erneut sandte mein Jugendfreund Fritz [Name geändert] eine Botschaft aus der Heimat, einen Kalender des Nettesheimer Apothekers mit Schwarzweißfotos aus Nettesheim. Das Blatt vom Juni hat es mir angetan. Auf dem Foto steht der Friseur meiner Jugend im weißen Friseurkittel unter dem Schild „Damen Salon“ (inverse Schreibschrift auf dunklem Grund) und schaut zum rechten Bildrand, wo ein Mann mit Hut und Anzug zu sehen ist, aber nur angeschnitten im Dreiviertelprofil von hinten. Der Mann steht mit gerecktem Kinn und hält den Rücken durchgedrückt. Vermutlich ist er ein Kunde, der sich der ernsten Sache eines Friseurbesuchs nicht nur bewusst ist, sondern sich dafür auch angemessen gekleidet hat.

Der junge Toni Pesch mit 50-er-Jahre-Haartolle dagegen steht entspannt, hat die Hände oberhalb der Hüften in Handwaschgeste ineinander gelegt. Seine Miene ist seinem Gegenüber  offen zugewandt und erwartungsvoll. Oben am linken Bildrand ist ein weiteres „Salon-Schild zu sehen, aber angeschnitten. Man ahnt, dass das die Tür zum Herren-Salon ist. Zwischen den beiden hell gestrichenen Türen, die durch jeweils zwei senkrechte Fensterelemente mit Milchglasscheiben durchbrochen sind, hängt ein langer rahmenloser Spiegel, worin sich Toni Peschs Rücken und Hinterkopf spiegeln. Auf der Höhe seiner Schulterblätter befindet sich ein kleiner Spiegel-Aufkleber, das Brustbild eines lachenden Mannes, der eine Flasche hoch hält. Der Aufkleber ist nach unten begrenzt durch ein geschwungenes Spruchband. Rechts hinter Toni Pesch hängt an der Wand eine gerahmte Urkunde, vermutlich ein Meisterbrief. Unter dem Meisterbrief ist noch ein gerippter Heizkörper zu sehen mit einem Absperrventil über dem senkrechten Zuleitungsrohr. Das Foto wirkt nicht gestellt, aber wurde offenbar vom einem professionellen Fotografen arrangiert und fotografiert. Die für den Kalender hinzugefügte Bildunterschrift lautet: „Toni Pesch – unser Butzheimer Friseur in den Anfängen der 1950er Jahre“

Im Mitmachprojekt: „Die Läden meiner Kindheit“ habe ich mich an Toni Peschs Friseurladen erinnert (klick Grafik). So jung und schlank wie auf dem Foto hatte ich ihn beim Schreiben nicht vor mir. Das Foto erweitert also auf befremdliche Weise meine Erinnerung in eine Vergangenheit, die gar nicht mein eigenes Erinnern ist.

Ein chinesisches Sprichwort lautet: „Die Erinnerung malt mit goldenem Pinsel“ Wie ist es, wenn goldene Erinnerungsbilder durch Bilddokumente übermalt werden, wie es dem heutigen Menschen widerfährt, der durch Fotografien und Videos jede Lebensphase dokumentiert sieht, entweder von wohlmeinenden Eltern oder durch Selfies? Dabei interessiert nicht die Frage, was besser oder schlechter ist, die Bilderarmut der Vergangenheit oder die Bilderflut in Zeiten von Digitalfotografie und Smartphone. Zu fragen wäre nach den Konsequenzen, wie sich menschliche Erinnerung anders organisiert, wenn medientechnische Hilfsmittel sie im überwältigenden Maß stützen.

Platon lässt Sokrates im Phaidros an der Schrift kritisieren: „Denn sie wird Vergessenheit in den Seelen derer schaffen, die sie lernen, durch Vernachlässigung des Gedächtnisses, – aus Vertrauen auf die Schrift werden sie von außen durch fremde Gebilde, nicht von innen aus Eigenem sich erinnern lassen.“