Costers Verschwinden

Was nun Professor Costers Lehrverpflichtung anbelangt, sagte Maus, die Seminare, die im Vorlesungsverzeichnis auftauchten, so habe man Coster nie in den dort angegebenen Räumen der Hochschule angetroffen. Wenn die Seminare überhaupt stattfanden und nicht völlig ausfielen, so hätte Coster sie in seine Privatwohnung verlegt, im Obergeschoss des Kerstenschen Pavillons gelegen, ich wisse schon, da auf der Mittelterrasse des Aachener Lousbergs. Wie oft sei er den Hügel hochgeschnauft, was für ihn, Maus, schon die größte Leistung gewesen wäre. Denn damals sei er doch schwer adipös gewesen. „Stemmen Sie mal 120 Kilogramm den Lousberg hoch und auch noch die elend lange Treppe zum Kerstenschen Pavillon. Dann vergeht Ihnen das Interesse an Pataphysik. Mit letzter Kraft presste ich die Schelle und schnaufte meinen Namen in die Haussprechanlage, und wie zum Hohn tönte Coster gutgelaunt zurück: „Kommen Sie herauf, Sie fette Maus!“ Maus verdreht die Augen: „Wortspiele mit Namen gehen ja gar nicht.“
„Genau genommen wars kein Wortspiel, sondern nur eine Anspielung darauf, dass Ihr Nachname auch eine Klassenbezeichnung für eine Sorte Kleinnager ist“, sagte ich.
„Nennen Sie es, wie Sie wollen.“, fuhr Maus fort. „Ich erinnere mich noch gut an meinen letzten Besuch, und es war vermutlich das letzte Seminar überhaupt, das Coster veranstaltete, bevor er verschwand. Außer mir waren noch anwesend die vollbusige Schönheit Erika Dembic, der windige Vogel Wido Schlehenbusch, der etwas begriffsstutzige Roland Mayer und ein Kerl namens Henry Jussen, der mit der Dembic gekommen war. Eventuell hatte er sich an ihren Rockzipfel gehängt, ohne zu wissen, was ihn erwartete.“
„Halt vor der vollbusigen Schönheit!“, unterbrach ich ihn. „Was heißt ‚verschwand?‘
Meines Wissens hat Coster sich erschossen.“
„Hörensagen.“
„Ich gebe Ihnen gleich Hörensagen. Immerhin war ich auf seiner Trauerfeier und habe Wochen später auf Hollands höchstem Berg seine Asche mit eigenen Händen verstreut.“
„Es kann jedermanns Asche gewesen sein. Wenn Sie keinen besseren Beweis haben als Hörensagen von seinem Tod, dann vertrauen Sie doch lieber meinem Hörensagen von seinem Verschwinden. Soll ich weiter berichten?“
„Machen Sie schon.“
„Coster hatte eine Flasche Printenlikör auf dem Tisch, ein widerliches Gesöff. Er prostete mir zu, als ich schweißgebadet eintrat. Im Lauf des Abends diskutierten wir die Wahrscheinlichkeit einer dem Menschen nachfolgenden intelligenten Art und wie sich unser Kulturgut für sie archivieren ließe.“
„Wir wissen ja nicht einmal, ob eine nichtmenschliche intelligente Art sich dafür interessieren würde. Vor allem dürfte sie nicht zu klein sein. Wenn es mikrobiotische Wesen wären, was mir am wahrscheinlichsten erscheint, dann könnten sie unsere Bücher höchstens verzehren, aber sonst nichts damit anfangen. Intelligente Mikroben könnten nur digitalisiertes Archivgut nutzen.“
„Vorausgesetzt, sie entwickeln Informatik: So ähnlich hat Coster auch argumentiert. Und jetzt kommts: Fünf Tage nach seinem angeblichen Freitod habe ich Coster bei Matratzen Concord gesehen.“
„Das ist absurd, Maus!“
„Wirklich! Es war in der Filiale oben am Krugenofen, und ich dachte noch, sieh an, der berühmte Professor Dr. Dr. Ing. Jeremias Coster hält sich auf bei Matratzen Concord.“
„Als Kunde? Ich habe noch nie einen Kunden bei Matratzen Concord gesehen.“
„Ich auch nicht. Nein, Coster saß an einem Tisch und telefonierte mit einem Schnurtelefon.“
„Warum hätte Coster das tun sollen?“
„Forschung.“
„Hören Sie Maus, ich weiß nicht, was sie geraucht haben, aber das ist der komplette Unsinn. Coster ist mir seit seinem amtlich verbrieften Tod schon mehrfach im Halbschlaf erschienen.“
„In Ihrem Halbschlaf oder befand sich Coster im Halbschlaf?“
„In meinem natürlich.“
„Glauben Sie, dass Ihre Wachträume ein verlässliches Beweismedium sind?“
„Mindestens so verlässlich wie Ihre absurden Berichte. Und wohin sollte Coster verschwunden sein, nachdem Sie ihn telefonierend bei Matratzen Concord gesehen haben?“
“Was weiß denn ich. Vielleicht wurde er von einer Matratze verschluckt oder er tauchte ein in die Parallelwelt seiner Erinnerungen.“

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