Von der Kontextabhängigkeit des Denkens

Kürzlich hat mich ein Aachener Freund besucht. Eines Abends saßen wir in meinem Viertel vor einem Restaurant. Plötzlich kam ein beschwingtes Paar die Straße herunter. Neben dem großgewachsenen Mann erkannte ich vage meine Ärztin. Eigentlich erkannte ich sie nicht, nur eine Ähnlichkeit. Sie wirkte auf mich wie ihre jüngere Schwester. An einer Fußgängerampel blieben beide stehen. Sie hatte mich auch entdeckt und schaute herüber. Ich war zu verblüfft, ihr zuzuwinken, was ich gerne getan hätte, zweifelte aber zu lange an ihrer Identität, denn ich hatte sie noch nie außerhalb ihrer Praxis gesehen. Wochen später kam mir auf meinem Nachhauseweg eine Frau in senfgelber Uniformjacke entgegen. Erst als wir aneinander vorbeigingen, erkannte ich sie, wusste aber erst nach unserem Gruß, wer sie war, nämlich die Arthelferin in der Praxis von besagter Ärztin. Hier kam die senfgelbe Uniformjacke erschwerend hinzu, denn ich musste zuerst realisieren, dass in Hannover-Linden Schützenfest war, was ich bislang ignoriert hatte. Senfgelb ist zudem nicht unbedingt die Farbe der Schützen. Die Jacken sind gemeinhin grün, unterscheiden sich allenfalls in der Schattierung.

Die Beispiele zeigen, was vermutlich jede/jeder schon erlebt hat, wie schwer Menschen zu erkennen sind, wenn sie außerhalb gewohnter Kontexte auftreten. Bei uns eng vertrauten Menschen fällt das nicht auf, weil wir sie in vielen Kontexten kennen.

Schon der britische Kognitions- und Kreativitätsforscher Edward de Bono hat modellhaft gezeigt, wie sich menschliches Denken in Mustern organisiert. Diese Muster sind nicht räumlicher Art, sondern miteinander vernetzte Informationen. Sie ergeben ein Gesamtbild, so dass der Aufmerksamkeitsfluss des Denkens nur eine Information berühren muss, um das Gesamtbild zu aktivieren.

Vor einer Weile habe ich einen Berufstouristen geschildert, der mir mit seinen Reiseberichten auf den Nerv ging. Nach allen Ferien lungerte der Kollege herum auf der Suche nach Opfern, denen er seine verbale Diashow vorführen konnte. Oft dachte ich, wie kommt es wohl, dass du nach all den Reisen noch den gleichen dummen Kopf hast? Natürlich ist mein Urteil dem Kontext geschuldet, der Wahrnehmung des Mannes als jemand, der nie zu Hause ist, sondern geistig in der letzten Reise verharrt oder schon die nächste Reise vorwegnimmt. An mir selbst merke ich, dass ich nach jeder Reise gedanklich wirr im Kopf bin.

Als ich kürzlich ein Geschenk einpacken wollte, habe ich mit Papier, Klebeband, Stiften, Lineal, Schere, Cutter und Klebestick ein unglaubliches Chaos angerichtet, ohne erfolgreich gewesen zu sein. Statt die erforderliche Geduld aufzubringen, bin ich am Ende noch zu einem Kaufhaus gerannt und habe eine Geschenktüte gekauft. Als ich dann zu Hause alles notdürftig beschriftet und eingetütet hatte und endlich aufbrechen konnte, sah ich fassungslos auf das Durcheinander, das ich angerichtet hatte. Eigentlich kann man meine Wohnung nur noch sprengen, dachte ich. Oder ich schiebe alles unters Sofa wie die sprichwörtlichen Hempels. Wie unter deren Sofa sieht es aus in meinem Kopf, wenn ich von einer Reise zurückkehre. Meine Aufmerksamkeitsfluss hoppelt kurzatmig von einer Ideeninsel zur nächsten, aber nichts will sich fügen. Es braucht Wochen, bis sich alle Eindrücke sortiert haben und ich wieder in gewohnten Kontexten denken und wahrnehmen kann. Sie haben sich dann naturgemäß erweitert, und wenn es landläufig heißt, dass Reisen bildet, dann geht es um die Erweiterung von Wahrnehmungs- und Denkmustern. Eine Überfülle an Erlebnissen erfordert große Muße zur inneren Sammlung und Verortung der neuen Informationen.

Wahrnehmen in Kontexten findet seine Entsprechung im Denken in Kontexten. An anderer Stelle habe ich schon darauf hingewiesen, dass der Mensch nicht nur mit seinem Kopf denkt, sondern mit seinem ganzen Körper. Die Idee zu erweitern, hieße, dass der Mensch mit seinem gesamten Umfeld denkt. Deshalb mag ich das gewohnte Umfeld kaum verlassen. Es bereitet mir nämlich Verdruss, wenn es in meinem Kopf so unaufgeräumt aussieht. Daher konnte ich das hier leider nicht kürzer sagen.