Als junger Vater ermahnte ich einen Hundebesitzer, der seinen Hund über einen Spielplatz jagen ließ, derweil meine Kinder dort spielten. Es ergab sich ein Wortwechsel, in dessen Verlauf der uneinsichtige Hundebesitzer rief: „Sie Weihnachtsmann!“
Man wird verstehen, dass ich nach dieser unerfreulichen Weihnachtsmann-Primärerfahrung dem Weihnachtsmann skeptisch begegne, zumal ich den US-amerikanischen Kulturimperialismus ohnehin ablehne. Dass der Weihnachtsmann gänzlich ein Produkt von Coca Cola wäre, ist eine urbane Sage. Der in unserer Kultur beheimatete Nikolaus hat quasi eine Metamorphose zum Weihnachtsmann durchgemacht. Auch Knecht Ruprecht ist mit eingeflossen. War der Nikolaus noch ein Bischof, wurde er zusammen mit Knecht Ruprecht zum dicken, ungeschlachten Weihnachtsmann, dessen Wortschatz aus „Hohoho!“ besteht. Das rotweiße Design seines Aufzugs stammt tatsächlich von Coca Cola. Außerhalb von Schimpf und Schmähung habe ich nichts mit dem Weihnachtsmann zu tun. In meiner Familie wäre keiner auf die Idee gekommen, Heiligabend auf den Weihnachtsmann zu warten. Es hieß immer „Wir warten auf das Christkind“ genau wie eine populäre Kindersendung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.
Als Kind wartete ich im Wohnzimmer unserer Vermieterin Cäcilia Küttelwäsch aufs Christkind. Das ganze Jahr über war uns dieser Raum verschlossen. Nur Weihnachten durften wir ihn betreten, weil unsere Wohnküche am Heiligabend zum Weihnachtszimmer wurde. Dort wurde der Weihnachtsbaum geschmückt, das Krippchen unterm Baum aufgestellt, wurden die Geschenke ausgelegt, standen die Weihnachtsteller mit köstlich duftenden Leckereien, und damit kein Kind durch den dunklen Flur zur Tür schlich, um durchs Schlüsselloch zu lauern, warnte meine Mutter vor dem Helferlein des Christkinds, dem Flöckchen. Das Flöckchen hatte eine silberne Zange, womit es neugierig am Schlüsselloch lauernde Kinder in die Nase kniff. Also saßen wir brav bei Cäcilia Küttelwäsch, bis ein Glöckchen bimmelte und uns zur Bescherung rief.
Cäcilia Küttelwäsch war eine stämmige boshafte Jungfer, immer bereit zu zanken. Aus Zank zog sie ihre Lebensenergie, und weil sie so oft und inbrünstig zankte, schien sie nicht zu altern. Die schwarzen Haare trug sie straff zurückgekämmt und zu einem Dutt gebändigt. Bis zu meinem 10. Lebensjahr wohnten wir bei ihr zur Miete. Verwandt waren wir nicht, aber wir Kinder mussten Tante Cilla zu ihr sagen. Ich erinnere mich an Winterabende, an denen meine Mutter meine Schwester und mich durchs kalte, kaum beleuchtete Treppenhaus nach oben ins Schlafzimmer trug. Dann riefen wir auf der Mutter Geheiß: „Gute Nacht, Tante Cilla!“ Durch die geschlossene Tür ihres Wohnzimmers tönte es zurück: „Gute Nacht, Kinder!“
Cilla hatte das Gehöft geerbt, aber betrieb keine Landwirtschaft, sondern bewirtschaftete nur einen Gemüsegarten für ihren täglichen Bedarf. Vermutlich lebte sie darüber hinaus von der Miete der zwei Parteien, die bei ihr wohnten. Weil sie nach dem Tod meines Vaters Gefallen daran fand, mit meiner Mutter zu zanken, so lange und hartnäckig, bis meine Mutter weinte, habe ich meine Mutter einmal getröstet mit dem Versprechen: „Wenn ich groß bin, schreibe ich ein Buch: Die Hexe der Bruchstraße.“
Bei dieser Hexe saßen meine kleine Schwester und ich am Nachmittag des Heiligabends, derweil die Dämmerung alles Licht verschluckte. In weiser Voraussicht hatte Tante Cilla gar nicht erst Licht gemacht. Sie saß gewohnheitsmäßig im Dunkeln, um Strom zu sparen: Ich erinnere mich an unbequeme dunkelbraune Stühle mit einem hellen Geflecht als Sitzfläche und an harte Stuhlkanten, die mir das Blut in den Beinchen stauten. Unbequem und kalt war es bei Tante Cilla. Und wie die Dunkelheit sich im Zimmer verbreitete, hub sie an zu singen. Ich weiß nicht genau, was das Wort guttural bedeutet, aber der Gefühlswert von „guttural“ trifft ziemlich gut, wie Tante Cilla sang, mit einem unheilvollen Timbre in der Stimme. Die Lieder stammten aus Vorzeiten, und wenn Tante Cilla sang, stiegen die vergangenen Jahrhunderte vor mir auf, vielmehr war mir, ich würde hinabgezogen in heidnische Vorzeiten, in verschneite Einöden und hingeduckte Bauernhäuser, in denen finstere Menschen bei bitterer Kälte zusammenhocken und hartes Brot kauen.
Welch eine Erleichterung, wenn das Glöckchen rief, welch ein Kontrast, wenn wir in die warme Stube stürmten. Ruhiges Kerzenlicht am Weihnachtsbaum, funkensprühende Wunderkerzen, die ganze Wohnstube war erfüllt von festlichem Glanz. Und in der Krippe lag still das Christkindchen. Es war ja nur aus Gips, aber wir wussten, es war eben noch durchs Zimmer geschwebt.
Fröhliche Weihnachten allerseits!
Auch ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten … und vielen Dank für die vielen schönen Worte verteilt über die Adventszeit.
Mögen sie weiterhin so zahlreich und schön aus ihrer Feder fließen.
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Vielen Dank für den lieben Kommentar und Wunsch. Das metaphorische „aus der Feder fließen“ macht mich glatt etwas wehmütig. In den 1990-er Jahren hätte ich nicht glauben mögen, dass ich derart vom Schreiben mit der Hand abkommen würde. Freilich wird der Verlust kompensiert durch die Möglichkeit der Fernkommunikation wie etwa hier von einem fremden Rechner, der in Hamburg steht, mit einer extraterristischen Existenz. Lieben Weihnachtsgruß!
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Deine „Tante“ Cilla, lieber Jules, und meine „Tante“ Urban von nebenan müssen Zwillinge gewesen sein.
In ihrer Gegenwart hatte ich automatisch ein schlechtes Gewissen.
Schon allein, weil wir nicht katholisch waren.
Schöne Weihnachten wünsche ich Dir…
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Wie langweilig, ja glanzlos das Fest ohne diese Tante Cilla wohl gewesen wäre! Es braucht wohl den Kontrast, das Dunkel, um die Kerzen und sogar einen Gips-Heiland zum Leuchten zu bringen.
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Du hast Recht, nur immer schön wäre langweilig. Der Mensch braucht den Kontrast, um das Schöne und Gute würdigen zu können.
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Frohe Weihnachten, lieber Jules.
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Ja, frohe Weihnachten gehabt zu haben, lieber Herr Ösi. Es ist auch immer schön, das Weihnachts-Gedöns überstanden zu haben.
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Ein feines Türchen für den hl. Abend. Aber auch mit Verspätung gelesen, verliert es seinen Glanz nicht. Danke für den herrlichen Kalender, lieber Jules.
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