Straße meiner Kindheit (2) – Ein Interview

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Folge 1

Teestübchen-Chefredakteur Julius Trittenheim interviewt einen Jungen:

Traust du dich heute an Rolf vorbei?

Ich will es versuchen. Sie müssen bedenken, Herr Trittenheim, dass ich noch klein war, als ich begann, die Welt meiner Straße zu erkunden. Ich sah rätselhafte und beunruhigende Dinge, die ein Erwachsener nicht gesehen hätte, wie das, was auf dem Hof der Schmiede geschah. Das Tor war offen, und ich stand in gebührendem Abstand von Rolf und schaute in den Hof. Da waren ein Pferd und zwei Männer. Der eine Mann schlug dem anderen mit einem Hammer aufs Knie. Das hatte schon eine offene Stelle. Man sah den Knochen. Und wie die Reiter, die gezielt in ihr Verderben gesprungen waren, schockierte mich die unfassbare Gleichgültigkeit, mit der der eine Mann sein Knie hinhielt und der andere drauf hämmerte.

Ich vermute, dass du inzwischen weißt, was wirklich auf dem Hof der Schmiede geschah?

Ja, die beiden beschlugen das Pferd. Was ich für das Knie des einen Mannes gehalten hatte, war ein Pferdehuf. Er hatte ihn sich zwischen die Oberschenkel geklemmt, damit der andere das Eisen unter den Huf nageln konnte.

Gut, gehen wir weiter. Welche Häuser standen noch auf der rechten Straßenseite?

Hinter der Schmiede stand ein einzelnes Haus, an dem die Läden geschlossen waren, weil keiner drin lebte. Alles am Haus war krumm und schief. Es war aus Lehm und sah aus, als würde es bald zusammenfallen und  wieder zu Erde werden. Es wurde nie gesprochen über dieses Haus. Die Erwachsenen taten, als wäre es nicht da. Also gingen auch wir Kinder einfach vorbei.

Könnte es sein, dass dort einst Juden gewohnt hatten?

Weiß nicht. Es schien schon sehr lange unbewohnt zu sein. Möglicherweise waren die Bewohner vor über 100 Jahren nach Amerika ausgewandert – wie viele aus dem Dorf.

Woher weißt du das?

Es wurde mal eine Dorf-Chronik zur 1000-Jahrfeier herausgegeben. Darin habe ich es gelesen.

Was kam nach der Ruine?

Das nächste Haus lag weit zurück und hatte an der Straße nur ein Tor zwischen zwei gemauerten Pfeilern. Links und rechts war ein Maschendrahtzaun. Hinter dem Zaun war eine große Hauswiese mit kleinen Apfelbäumen. Das freistehende Haus gehörte den Krolls. Es wohnte noch eine Familie dort mit zwei Kindern, Peter und Kätchen. Von Kätchen bekam ich später den ersten Kuss meines Lebens. Unterm Dach in einem Zimmer hauste Kinomann Meuter. Der trug immer eine Baskenmütze. Kein Mensch hat mich mehr gegruselt als Kinomann Meuter. Wir bekamen ihn selten zu Gesicht, denn wenn er sich nicht in seinem Kino aufhielt, dann saß er in seiner Bude, zwischen defekten Vorführgeräten, Kabelrollen, Röhren, Filmdosen und ungezählten Ersatzteilen, schraubte und lötete und war sich selbst genug. In seinem Zimmer war nicht viel Platz für Dinge, mit denen sich ein normaler Mensch umgibt. Ich glaube, dass er außer einem Haufen Kleidungsstücken an einem Haken und einem Bett nur seinen Kinokram besaß. Das sah ich aber erst, nachdem mein Vater gestorben war. Und erst dann gruselte mich Kinomann Meuter.

Wir machen Schluss für heute. Meuters Geschichte kann man nachlesen in „Meuters Fluch“, einer von vier Gruselgeschichten in „Das Verzeichnis“, einem E-Book von Jules van der Ley.


Fortsetzung

15 Kommentare zu “Straße meiner Kindheit (2) – Ein Interview

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  2. Ich hatte wirklich den Eindruck, ich sei auf der Bruchstrasse…..und war mehr als enttäuscht, dass es so abrupt endete und ich wieder zurück in meiner Welt landete. Ich freue mich sehr auf die Fortsetzung, lieber Jules!

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  5. Es ist immer schwer einzuschätzen, wie viel den Leserinnen und Lesern zugemutet werden kann. Hier ist es aber keine Zumutung, sondern ein Vergnügen, mit dir diese Straße zu besuchen. Die kindliche Sichtweise, ergänzt mit dem Wissen zur Ortsgeschichte, macht den Besuch sehr reizvoll.

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    • Danke fürs Lob. Die kindliche Sichtweise schränkt das Bild ein bisschen ein. Wissen zur Ortsgeschichte bietet eigentlich nur die genannte Chronik. So ein Blick von oben ist den Dörflern meistens fremd. Ich habe mich mal beim Radsport im Dürener Land verfahren, hatte aber eine Karte bei mir. Da wankte ein Mütterchen zum Friedhof und ich sprach sie an, holte die Karte hervor und fragte, ob ein bestimmter Weg asphaltiert sei. Sie erkannte den Weg zuerst gar nicht, sagte dann aber: „Hören Sie mal, der war früher asphaltiert, aber ob der das immer noch ist, weiß ich nicht.“ Ich war sicher, sie hatte ihr Dorf noch nie auf einer Karte gesehen und hatte sich jahrelang nur in einem engen Bereich bewegt.

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