Straße meiner Kindheit (7) – Tauwetter – Ein Interview

Blick in die erste Bruchstraße

Blick in die erste Bruchstraße

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Was geschah, als du aus dem Schwarzwald zurück warst?

Ich glaube, in diesem Jahr hatte es in ganz Deutschland sieben Wochen Dauerfrost gegeben. Und genau in dieser Zeit bin ich im Schwarzwald gewesen. Ich war noch nicht ganz wieder zu Hause, setzte plötzlich Tauwetter ein. Es war wunderbar. Das Schmelzwasser von Unmengen Schnee konnte nicht im noch gefrorenen Boden versickern, sondern sammelte sich überall auf den Feldern zu großen Wasserflächen. Gräben, in denen ich noch nie Wasser gesehen hatte, verwandelten sich über Nacht zu reißenden Bächen. Die Landschaft ist ja gegen Osten nicht völlig flach, sondern hat ziemliche Wellen. Als Kind habe ich mir nie Gedanken gemacht, warum. Aber alles hat der Rhein geformt.

Ja, das feste Bett, das wir heute kennen, ist die Folge von Eindeichungen und Flussbegradigungen. Einst hat sich der Rhein in der Kölner Bucht breit gemacht und zu verschiedenen Armen verzweigt, die je nach Wasserstand überflutet waren und wieder trocken fielen.

Ich weiß! Es wurde erzählt, zwischen der ersten und zweiten Bruchstraße habe mal ein Dorf gelegen, das aber versunken ist. Genaues wusste niemand. Aber es gab Spuren. Die Bauern pflügten manchmal Keramikscherben nach oben.

Vielleicht aus vorgeschichtlicher Zeit.

Und hinter der zweiten Bruchstraße gibt es Kiesgruben. Den Kies hat doch auch der Rhein abgelagert?

Ja, und wenn du bedenkst, dass alle Steine aus den Alpen stammen. Der Rhein hat sie immer weiter befördert, dabei zerkleinert und die Kanten abgeschliffen, bis das entstanden ist, was wir heute Kies nennen. An der Flussmündung ist nur noch feiner Sand übrig.

Was ergibt sieben mal sieben, Herr Trittenheim?

Äh, etwa 49?

Nein, sieben mal sieben gibt feinen Sand!

Hihi, reingefallen. Willst du weiter vom Schmelzwasser erzählen?

Ich glaube, ich war mit Georg, Rosies kleinem Bruder, unterwegs. Er war eineinhalb Jahre jünger als ich, und wir hatten uns angefreundet. Wir liefen über die Felder, um alles anzusehen. An den Hängen hinter der ersten Bruchstraße strömte das Wasser in breiter Front herab, unentwegt. Es war nicht auszumachen, wo so viel Wasser herkam. Jedenfalls sammelte sich alles in alten Entwässerungsgräben. Die verbreiterten sich an manchen Stellen zu kleinen Flüssen. Wir mussten lange nach flachen Stellen suchen, um sie überqueren zu können. Selbst die flacheren Stellen waren so tief, dass mir das Wasser in die Gummistiefeln schwappte. Der linke hatte zum Glück vorne ein kleines Loch, das ich spreizen konnte, wenn ich die Zehen bewegte. Damit konnte ich das Wasser aus meinem Stiefel abpumpen. Sah lustig aus, wenn da immer kleine Fontänen rausgespritzt sind. Mitten in einem Strom stand ein Schifferkarren. Wissen Sie, was das ist, Herr Trittenheim?

Ja, die Wanderschäfer hatten Schifferkarren. Schäfer heißt im Landkölschen „Schiffer“, manchmal auch „Schiefer „oder „Schieffer“ geschrieben.“

Ach so. Wir sind zum Schifferkarren hingewatet und haben uns hineingesetzt. Es war einer auf zwei Rädern. Der stand nach vorne gekippt auf die Deichsel gestützt. Ringsum strömte Schmelzwasser vorbei. Wir kamen uns vor wie auf einem Schiff mitten im Rhein. Wir wussten ja damals nicht, was das Wort eigentlich bedeutet. Als ich aus dem Schwarzwald nach Hause gefahren bin, habe ich gedacht, dass es in meiner Heimat langweilig wäre, aber das Gegenteil war der Fall.

Da hattest du Glück, das sich deine Heimat mit dir verändert hatte und sich von einer neuen Seite zeigte.

Eigentlich war es sowieso ungerecht. Ich bin meistens glücklich gewesen als Kind in der Bruchstraße. Aber das große Tauwasser hat mir geholfen, mich wieder einzugewöhnen.

Was ist eigentlich aus Klaus Remy geworden?

Editorische Notiz: Hier eine vorläufige Zäsur. Damit ich wieder die gewohnte Teestübchen-Vielfalt bieten kann, werden Fortsetzungen dieses größer angelegten Erzählprojektes demnächst in loser Folgen im „Teppichhaus Trithemius“ erscheinen, hier aber angekündigt und verlinkt werden. Später, falls ich nicht die Lust verliere, wird vielleicht alles zu einem E-Book zusammengefasst. Da wäre Gelegenheit, vieles zu entfalten, was im Teestübchen nur angerissen ist, weil der Blograhmen sonst gesprengt würde. Vorerst lieben Dank für dein/euer anhaltendes Interesse!
Jules