Straße meiner Kindheit (3) – Ein Interview

hohlweg
Folge 1Folge 2

Teestübchen-Chefredakteur Julius Trittenheim interviewt einen Jungen:
Was war denn so gruselig am Kinomann?

Als mein Vater gestorben war, nahm meine Mutter allerlei Arbeiten an. Sie putzte die Kirche und die Schule, sie kochte für Leute, die ein Fest zu feiern hatten, und plötzlich auch für Kinomann Meuter. Er wurde für die Zeit der Wintermonate bei uns Kostgänger, kam täglich zu Mittag, wenn das Essen auf dem Tisch stand, grüßte ergeben, nahm seine Baskenmütze vom Kopf und setzte sich verlegen lächelnd zu uns. Schon diesen fremden Mann am Tisch zu haben, fand ich beunruhigend. Da hätte ich lieber meinen Vater gesehen, doch der war ja einfach gestorben.

Zu meinem Unglück war Kinomann Meuter anders als die Leute aus dem Dorf. Seine ganze Erscheinung war befremdlich, seine gedrungene Gestalt, der zerschlissene schwarze Anzug, die Baskenmütze auf dem runden Kopf, sein untertäniges Lächeln. Niemand wusste, woher er eigentlich kam. Er nahm nicht am dörflichen Leben teil und war nie in der Kirche gesehen worden. Beim Mittagsgebet, wenn wir die Hände falteten, dann legte er seine ineinander und schaute stumm zur Decke. Vielleicht gehörte er irgendeiner Sekte an, doch davon begriff ich als fünfjähriges Kind noch nichts. Ich wusste nur, dass er nicht in den Himmel kommen würde, weil er nicht richtig beten konnte. Stattdessen erzählte er beim Essen, dass er einen unheimlichen Nebel gesehen hatte und geisterhafte Erscheinungen von Toten. Die waren aus dem Nebel auf ihn zu gekommen und hatten zu ihm gesprochen.

Was sagte deine Mutter dazu?

Meine Mutter hörte sich seine Berichte höflich an, und wenn er weg war und wir sie fragten, was Meuters Erzählungen zu bedeuten hätten, dann sagte sie wegwerfend: „Dolle Käu.“
[Käu (rhld.) = das zu Kauende, „Dolle Käu“ bedeutet „sinnloses Gerede“]

Dieser dolle Käu hat mich sehr geängstigt und in meine Träume verfolgt. Oft lag ich wach und wagte kaum zu atmen, weil ich nicht wusste, wer oder was in der Finsternis auf mich herabschaute. Ich hatte Angst, allein in einem dunklen Zimmer zu sein, und später, als ich eine Taschenlampe besaß, da beleuchtete ich von meinem Bett aus unentwegt die Türklinke, bis ich darüber einschlief.

Heute verstehe ich, dass Meuter uns nicht ängstigen wollte, als er von den Toten berichtete. Unser Vater war gerade erst sechs Wochen tot, als Kinomann Meuter bei uns Kostgänger wurde. Vermutlich wollte er uns trösten und sagen, dass die Toten nicht wirklich von uns gegangen sind, sondern uns weiterhin beobachten. Er verstand nur nichts von kindlichen Seelen, und niemand hatte ihm je gesagt, dass seine Erzählungen in die Spätvorstellung gehörten.

Nachdem der Kinomann bei euch Kostgänger geworden war, bist du in seiner Behausung gewesen? Hat er dich eingeladen?

Nein. Wir Kinder hatten ein Spiel, das musen hieß
[von rhld. Mus, mit langem Vokal,= Maus]

Mäuschen spielen!

Ja, aber dreister. Wir waren wie die Mäuse und huschten überall rein, worauf wir neugierig waren. Damals schloss ja niemand seine Tür ab. Ich spielte manchmal mit Peter, der auch im Haus der Krolls wohnte, wo Meuter sein Zimmer hatte. Wir musten bei ihm, als er mal weggegangen war, wagten aber nicht, irgendwas anzufassen, weil die Dinge in Meuters Zimmer so fremdartig waren.

Richten wir unseren Blick wieder auf die rechte Straßenseite. Was war hinter dem Haus der Krolls?

Ab dort steigt die Bruchstraße an bis zu einer Kreuzung mit einem Feldweg. Dazwischen standen rechts noch drei Häuser. Sie waren alle nach dem zweiten Weltkrieg gebaut worden. Aber als ich klein war, durfte ich eigentlich nicht weiter laufen als bis zum Haus der Krolls. Meistens spielt ich sowieso mit Rosie von gegenüber auf dem Hof der Melzers. Melzers Rosie war so alt wie ich, und wir waren seit klein auf eng befreundet. Mit Rosie habe ich auch im Zimmer von Karl gemust, dem bärenstarken Knecht der Melzers. Karls Zimmer lag im Torbau über der Melkküche. Es war nur roh verputzt, ein kaltes, ungeheiztes Loch. Da herrschte ein unfassbares Durcheinander. Aber Rosie wusste, dass er in einer Schublade Veilchenpastillen aufbewahrte. Wir fanden sie unter einem Haufen Kleidung. Rosie öffnete das runde Blechdöschen, und wir klauten uns jeder eine Veilchenpastille. Mir schmeckte die nicht mal. Ich fand auch nicht gut, bei Karl zu musen, aber Rosie tat ganz selbstverständlich. Sein Zimmer gehörte ja zum Hof ihrer Eltern, und der ganze Hof war unser Spielplatz.  Bis etwas Blödes passierte.

Fortsetzung

23 Kommentare zu “Straße meiner Kindheit (3) – Ein Interview

  1. Pingback: Straße meiner Kindheit (2) – Interview mit einem Kind

  2. genial, wie Du einerseits den Interviewer die kurzen sachlichen Fragen stellen lässt……und der Junge poetisch seine Erinnerungen schildert. Ich könnte ewig weiterlesen.

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    • Dankeschön für das dicke Lob! Anfangs war ich wegen der Form nicht sicher, aber wollte es mal ausprobieren. Um so schöner, wenns gelingt. Da du so aufmerksam liest, macht es Freude, an der Erzählung zu schreiben. Es ist motivierend, so unterstützt zu werden.

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      • die Form macht es im Grunde so spannend, es werden die Fragen gestellt, die man selbst gern stellen würde…schön, das freut mich und mir macht es Spass, es zu lesen!

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  3. Am besten, lieber Jules, gefällt mir der letzte Satz. Wird fortgesetzt. Das ist gut. Nicht, dass mir die anderen Sätze weniger gefallen hätten. Ganz im Gegenteil. Die letzten Tage rannte ich von A nach B und hatte kaum Zeit durchzuatmen. Schnell selbst etwas geschrieben, was ich schon lange wollte, vieles überflogen und und und. Für wenig war genügend Zeit. Für die Straße der Kindheit habe ich sie mir genommen. Sehr gerne sogar. Es ist eine Erzählung der besonderen Art. Ein Interview spannend zu gestalten ist wahrscheinlich nicht leicht. Ich könnte nicht einmal genau sagen, warum ich es als spannend empfinde und als Leser immer weiter diese Straße entlang laufen möchte und weiter den Erinnerungen lauschen möchte. Mir geht es wie Ann, ich möchte noch lange weiter lesen, zuhören und Bilder vor meinem inneren Augen entstehen lassen.
    Ich mag´s, lieber Jules. Sehr.

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    • Tatsächlich hat sich der Stress, den du hier schilderst, in deinen letzten beiden Texten vermittelt, liebe Mitzi. Ich konnte es zwischen den Zeilen lesen. Um so schöner, dass du dir die Zeit genommen hast und dich auf die Erzählung eingelassen hast. Ich hatte gestern wegen dieser Texte ein kleines Missverständnis mit meinem mittleren Sohn, mit dem ich häufig Aspekte des Schreibens erörtere und auf dessen Urteil ich viel gebe, weil er hervorragend schreibt. Das hatte mich für kurze Zeit ausgebremst. Das Missverständnis haben wir zum Glück ausräumen können. Und durch den Zuspruch von Ann und dir fühle ich mich zusätzlich bestätigt. Dankeschön und erholsames Wochenende, liebe Mitzi.

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      • Ich hoffe sehr, dass du die Erzählung fortsetzt. Mir gefällt sie besonders gut und sie sticht hervor.
        Schön, dass du die beiden letzten Texte ansprichst, lieber Jules. Das gibt mir Gelegenheit nachzufragen, worin sie sich von den anderen unterscheiden. Ich vermute, dass es einen Unterschied gibt, da sie kaum kommentiert wurden, finde aber selbst den Grund nicht. Es würde mich freuen, wenn du mir deinen Eindruck schildern könntest.
        Einen schönen Sonntag und liebe Grüße

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        • Primär der erste Text über die Zitate auf Geschirr wirkt auf mich wie in Eile geschrieben, liebe Mitzi. Das fühlte ich schwach beim Lesen, wurde dann durch deine Bemerkung darin bestätigt. Das verliert sich schon im ersten Zwillingstext, wobei der Inhalt natürlich wesentlich bedeutsamer ist. Ich glaube nicht, dass die Reaktionen etwas damit zu tun haben. Für beide Zwillingstexte hast du 32 und 39 Likes bekommen. Der Literaturhaustext hat sogar 49! An solche Zahlen reiche ich nie heran. Für meine Verhältnisse sind schon 16 Likes viel. Natürlich ist es schwierig, bei deinen autobiografischen Texten zu kommentieren, die von deiner verlorenen, aber für dich wichtigen Beziehung handeln. Man möchte dir nicht zu nahe treten und fühlt sich fast wie ein Eindringling, weil alles eine nicht näher bestimmte Tragik hat, denn man spürt an deiner Schilderung, (so ist sie ja auch formal angelegt) wie gegenwärtig alles für dich ist. Aber lass dich bitte nicht von der Anzahl der Kommentare beeindrucken.
          Dankeschön fürs ermunternde Lob, die lieben Sonntagsgrüße und dir einen schönen Abend,
          Jules

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          • Danke, lieber Jules. Auf den Zitatetext hatte ich es gar nicht bezogen. Du kennst mich gut und hast Recht. Er war sehr schnell getippt und auch an einem etwas lustlosen Abend verfasst. Ich dachte du meinst die anderen beiden und war neugierig was du meinst. Sie sind persönlicher, vielleicht liegt es daran. Vielleicht auch gar nicht so schlecht, so muss ich nicht zu viel antworten, was einem manchmal ja auch gelegen kommt, wenn die Antworten dann persönlicher als der Text wären.
            Die Likes (die mich sehr freuen) darf man nicht überbewerten. Die ersten erhalte ich meist Sekunden nach der Veröffentlichung. Da ist der Klick wohl manchmal auch nur ein Reflex. Nun aber Schluss mit mir und noch mal danke für deine Einschätzung.
            Liebe Grüße

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  4. Lieber Jules, dieser kleine Junge verfügt über eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe. Meine erste Veilchenpastillen schenkte mir ein alter Inder mit einem Turban. Ich hab fast immer welche da. Oder ersatzweise Zimtbonbons.
    Ich bin sehr gespannt, wie es weiter geht…👌✨

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    • Liebe Funkelfee, ich staune auch, wie detailreich die Erinnerung ist. Über die Veilchenpastillen wundere ich mich. Ich dachte immer, die wären nur in der Damenwelt beliebt und nicht bei bärenstarken Knechten und alten Indern mit Turban. Freut und motiviert mich, dass auf die Fortsetzung gespannt bist.

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      • …Das Interview, das Du mit Deinem kleinen Jungen führst, ist eine spannende und auch geheimnisvolle Zeitreise. Der kleine Junge weiß erstaunlich viel! Ich spiele schon selbst mit dem Gedanken, meinem kleinen Mädchen ein paar Fragen zu stellen, so neugierig macht mich das…
        Wer weiß, vielleicht erinnert sie sich an manches besser als ich….?

        Ich warte auf die Fortsetzung der Fortsetzung….

        Veilchenpastillen stehen sogar einem ganzen Kerl dank Chappi.
        Sie machen einen feinreinen Atem.
        🙂

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        • Lass dich ruhig anregen. Es ist eine effektive Methode, wie ich merke. Freut mich, dass du die Erzählung aufmerksam begleitest. Ohne würde es weniger Spaß machen zu schreiben. Aufmerksame Begleitung ist ja der ganze Lohn des Bloggers 😉 und ich fühle mich reich entlohnt.

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          • Ich staune darüber, wie detailliert Deine Erinnerung ist, so präzise. Und ich frage mich, ob auch in mir jemand ein verborgenes Dasein führt, der sich genauer erinnert als ich denke. Wie die Luft damals roch. Anders als heute? Das ganze Lebensgefühl zu beschreiben wie es das Kind empfunden hat. Das fasziniert mich, denn Du zeigst einen möglichen Weg zu diesen Erinnerungen, die irgendwann verschwimmen oder unschärfer werden würden in ihrer Klarheit, es sei denn, man dokumentiert sie…
            Ich habe mich auch mit den Läden meiner Kindheit befasst, einfach drauflosgeschrieben. Spannend, erst einmal zur Beobachtung in der Schublade. Sind wunderbare Denk- und Schreib-Impulse. Da folge und lese ich auch weiterhin mit Vergnügen und Lust.
            danke danke…✨

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            • Es gibt ein Problem, das mir schon früher aufgefallen ist. Man hat ja Erinnerungsbilder im Kopf, manche sind deutlich, vor manchen hat sich das Fenster beschlagen. Aufschreiben ist wie drüber wischen, um klarer zu sehen. Dabei tritt der Effekt auf, dass das Aufgeschriebene sich in den Vordergrund drängt und das diffuse Erinnerungsbild überlagert, so dass es ganz zu verschwinden droht. Am Ende ist es von der Literatur gekillt.
              gerne

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              • …das leuchtet mir ein. Es ist mir auch schon aufgefallen, doch in Worte konnte ich es noch nicht fassen. Das diffuse Bild der Vergangenheit ist formlos. Indem ich es aufschreibe, verdichte ich es zu einer konkreten Information. Das Diffuse besteht aus diesen unzählig vielen kleinen Erinnerungspixeln. Unmöglich, sie alle mit einzubringen in den Film von früher. Die Literatur kann immer nur ausschneiden und beleuchten und die Wiedergabe entbehrt der Komplexität des tatsächlich Erlebten. Durch die feste Formvorgabe werde ich dazu verleitet das Bild, das ich aufschrieb, als vollständig wahrzunehmen. Doch wenn ich dann tiefer grabe, sehe ich, dass es doch nur wieder ein unvollständiges, im schlimmsten Fall verzerrtes Bild ist. Ich scheiterte mit meinem bislang Aufgeschriebenen an meinem Anspruch an die Genauigkeit und Wahrheit. Oft frage ich auch in der Familie nach.

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                • Was du anschaulich beschreibst, wäre ein Abstraktionsprozess. Ich meinte primär Verfälschungen durch Leerstellenfüllung. Was man nicht mehr genau weiß und was du in der Familie erfragst, füllt man, wo externe Erinnerungen fehlen, durch Informationen der Plausibilität des So-wird-es-gewesen-sein. Solche Leerstellenfüllungen sind besonders arrogant und neigen dazu, die Macht über die komplette Erinnerung zu übernehmen.

                  Es gibt eine Entsprechung in der mündlichen Geschichtsschreibung oraler Kulturen. Die ist, wie Jack Goody in „Entstehung und Folgen der Schriftkultur“ gezeigt hat, dynamisch und passt sich neuen Informationen an, so dass nachher niemand mehr weiß, wie es vorher gewesen ist.

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                  • Also Mut zur Lücke, oder….? Zum Weglassen. Solche Leerstellenfüllvorgaben sind Wichtigtuer, die sich gern aufblasen. Gut zu erkennen und zu entlarven an blumigen Adjektiven und Verallgemeinerungen. Perfide, es zu wissen um drauf achten zu können. Ich habe es jetzt im Hintersinn beim nächsten Aufschreiben und meine Texte Filze ich eh noch mal alle gründlich auf Eindringlinge…

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