Ethnologie des Alltags – Kirchheim

Kleine Geschichten

Vor einigen Jahren, ich lebte noch in Aachen, da fand ich bei einer Trainingsfahrt im platten Land zwischen Aachen und Köln ein kleines Dorf. Ich nenne es Kirchheim. Das Dorf wurde von mächtigen Kastanien beschattet und lag wie eine Insel inmitten frisch gepflügter Felder. Vor dem Ort stand im Westwind ein Kapellchen. Ich war schon ziemlich erschöpft, und weil mich der Gedanke schreckte, noch gut 50 Kilometer gegen den Wind nach Hause zu fahren, tat ich etwas, was ein ordentlicher Radsportler niemals tut, ich stieg vom Rad, lehnte meine Rennmaschine ans Kapellchen und gönnte mir eine Pause. Gegen Osten war das Kapellchen offen, nur durch ein verziertes Gitter verschlossen. Am kleinen Altar brannte ein Lämpchen. An den Wänden links und rechts hingen Votivtafeln aus Marmor. Ich las die Namen und Lebensdaten der Väter und Söhne einer Familie, die in den beiden Weltkriegen gefallen waren.

Als ich über die Tragödie der Familie nachsann, da dachte ich plötzlich, man müsste so ein Dorf einmal auslesen wie ein Buch. Einige Monate später war ich mit dem Ortsvorsteher des Dorfes verabredet. Kirchheim hatte nur 240 Einwohner und daher keinen Bürgermeister. Der Ortsvorsteher, ein rotwangiger Bauer im Ruhestand, war schnell begeistert, und nachdem er die Zustimmung der beiden Gutsbesitzer am Ort eingeholt und ein wenig meine Vergangenheit erforscht hatte, gab er mir den Schlüssel zum aufgegeben Pfarrhaus, wo ich hinfort nach Belieben übernachten konnte. Ich stellte mein Klappbett in der alten Bücherei im Erdgeschoss auf, hatte da Tisch und Stuhl, eine Stehlampe und ein funktionierendes Telefon mit 3-stelliger Nummer. Die Bücherei war 1970 geschlossen worden, als auch die einklassige Schule schloss. Es war seltsam, zwischen den Regalen einer aufgegebenen Bücherei zu sein. Sie standen entlang der Wände und waren völlig gefüllt. Nicht ein Buch schien zu fehlen, und wollte man eines herausnehmen, so klebten die Bücher mit ihren Folienumschlägen aneinander, so dass die Bücher der ganzen Reihe sich vorwölbten, bevor sie eines der ihren freigaben. Das war eine unwirkliche Umgebung, das große leere Pfarrhaus mit seinem verwilderten Garten hinterm Haus, und schaute ich aus dem vorderen Fenster lag etwas erhöht der Fiedhof und mittendrin erhob sich die kleine Kirche. Leider litt ich in dieser Zeit unter einer schwierigen Beziehung und hatte den Kopf nicht ganz frei, sonst hätte ich da glücklich arbeiten können.

Der Ortsvorsteher führte mich in viele Häuser ein. Bald war ich im Dorf bekannt wie ein bunter Hund, und fast jeder war bereit, mir aus dem Leben und von seinen Erfahrungen zu erzählen. Nur der Metzger, der den einzigen Laden im Dorf hatte, wollte nichts mit mir zu tun haben. Vermutlich hatte er gerochen, dass ich Vegetarier war. Ich verbrachte jede freie Minute im Dorf. Samstags morgens wurde ich einmal von der Straße weg zum Frühstück eingeladen, bei einem Dachstuhlzimmerer. Er hatte im Ort neu gebaut, sein großes Wohnhaus und einige Hallen. Der junge Familienvater hatte nur noch ein Auge, in das andere war ihm bei Zimmermannsarbeiten ein Holzspan gedrungen. Von ihm erfuhr ich, dass gerade solche Neubauten wie sein stattliches Haus ein Zankapfel im Dorf wären, weil es nur wenig Bauland gab und deren Besitzer nichts davon verkaufen wollten. Mir wurde rasch klar, dass viele scheinbar arglose und hübsche Geschichten im Kontext sozialer Beziehungen eine unschöne Tiefendimension hatten. Von ihm erfuhr ich auch, dass im Dorf nichts geschah, was die beiden Gutsbesitzer nicht erlaubt hatten. Daher wurde ich auch überall so freundlich empfangen. „Weil die Chefs gesagt haben, der ist in Ordnung.“

Nach einer Weile sagte ich dem Ortsvorsteher, meine Idee, aus den Geschichten ein Buch zu machen, könne ich leider nicht verwirklichen, denn viele der Geschichten würden den Zank im Dorf weiter schüren. Er verstand mich gut, verwies auch auf die Chronik, die der Dorfschullehrer bis zur Auflösung der Schule geführt hatte. Diese Chronik hatte er mir schon zu Beginn meiner Recherche ausgehändigt. Der Lehrer hatte getreulich alles aufgeschrieben, was er über einzelne aus dem Dorf in Erfahrung bringen konnte, wann, wo und als was sie etwa eine Lehre angetreten hatten, welche Noten sie bei der Gesellenprüfung erreicht hatten und so fort. Die Chronik war von Hand zu Hand im Dorf herumgereicht worden. „Und stellen Sie sich vor“, sagte der Ortsvorsteher entrüstet, „da hatte der auch die Bilanzen meines Hofs aufgeschrieben. Da konnte jeder im Dorf lesen, was ich verdient hatte.“

Demnächst will ich im Teestübchen einige kleine Geschichten aus dem Dorf veröffentlichen, die ich natürlich anonymisiert habe.

Bild oben: Pfarrhaus in Kirchheim mit Friedhof – Foto: Gudrun Petersen

11 Kommentare zu “Ethnologie des Alltags – Kirchheim

    • Rückblickend war das wirklich ein Glücksfall. Ích hoffe, die kleinen Geschichten erfüllen deine Erwartungen. Sie sind ganz unspektakuläre Nachrichten aus einer Welt, die so gar nichts mit dem öffentlichen Getöse unserer Zeit gemeinsam hat.

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    • Hab ich wirklich nicht oft gemacht. Der mich angelernt hat, sagte immer: „Niemals absteigen!“, was aber offenbar nicht jederzeit galt. Als ich noch jünger und gut trainiert war, fuhr ich mal samstags mit einer Gruppe mir unbekannter Radsportler durch Belgien. An einem Grenzübertritt zu den Niederlanden war eine Kneipe. Da sprangen die alle vom Rad und kehrten ein. Ich dachte, ja, ist denn die ganze Welt aus den Fugen? und bin alleine weitergefahren.

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  1. Seltsamerweise denkt man sofort, es müsse ein Idyll sein, wenn man in so einen kleinen Ort kommt, dabei sollte man es doch besser wissen. Nur weil weniger Menschen in einem Ort leben, ändert das nichts daran, dass sie genau die Konflikte und Probleme haben, die in den Städten herrschen. Nur weil es keine Staus und kein Gedrängel gibt, bleibt noch genug, worüber man sich ärgern kann. Trotzdem ist es ganz sicher reizvoll, sich einen Mikrokosmos anzusehen, weil dort alles noch nachvollziehbar ist. In einer Kleinstadt wie Warendorf muss man schon lange wohnen, um zu verstehen, wem die Stadt gehört und wer die Strippen zieht. Also runter vom Rad und rein ins Leben.

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    • Tatsächlich hatte ich vorher ganz romantische Vorstellungen.Weil das Dorf so geschlossen wirkte, dachte ich, das Sotzialleben wäre noch intakt, so wollte mich beispielsweise in der Dorfschenke einquartieren. Aber die einzige Kneipe im Ort war längst dicht.
      Und ich fand mehr Streit als ich erwartet hatte. Im Grunde war alles ganz anders als man denken konnte, aber so sind die Dinge von außen betrachtet ja meistens.

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