Allzeit den teller leer essen

Seit meiner kindheit bin ich gewöhnt, meinen teller leer zu essen. Immerzu wurde ich ermahnt. Es hieß. „Wenn du den teller nicht leer isst, gibt’s morgen schlechtes wetter.“ Ursprünglich solls ein versprechen gewesen sein: „Wenn du schön den teller leer isst, gibt’s morgen gutes wetter.“ Und noch ursprünglicher war gar nicht das wetter gemeint. Die plattdeutsche aufforderung: „Et dien töller leddig, dann givt dat morgen goods wedder“ bedeutet nicht „gutes wetter“, sondern „gutes wieder“ Wer also hübsch sein tellerchen leerputzte, hatte das versprechen, dass es am nächsten tag wieder gutes gab. Der volksmund machte aus dem versprechen auf gutes essen unverstanden eine schlechtwetterdrohung.

Mahnung, drohung oder versprechen, alle scheinen aus einer zeit zu stammen, als gutes, reichhaltiges essen nicht selbstverständlich war. Ein kollege erzählte aus seiner ostpreußischen heimat, auf dem landgut (alle ostpreußen hatten zu hause ein landgut), auf diesem „landgut“ habe ein geistig behinderter mann als kleinknecht gearbeitet. Der hatte anspruch auf mittags eine mahlzeit, eine „schettel“ (schüssel) voll. Einmal sei man bei der feldarbeit gewesen und hatte für den knecht die schüssel vergessen. Stattdessen gab man ihm reichlich in einen eimer. Da murrte der kleinknecht, weil der eimer nicht voll war, denn er hatte anspruch auf eine VOLLE schüssel. So würde es mir auch gehen.

Angenommen in einer nächtlichen sekunde geschieht etwas absonderliches: Die gesamte welt schrumpft auf das spurformat H0, 1:87. Dann könnte man natürlich trotzdem nicht in einen Märklin-waggon einsteigen und in der modellbauwelt verreisen, denn auch die modelleisenbahn bliebe ja maßstabsgetreu. Uff, die welt ist also eines morgens nur noch H0 groß, und wir merken nichts davon, – weil wir, genau, kein referenzsystem haben. Es sei denn, der kosmische weltverkleinerer würde mein geschirr vergessen. Ich wäre auf H0 verkleinert, aber meine teller nicht. Dann müsste ich viel mehr essen, als gut für mich wäre. Denn seit meiner kindheit bin ich gewöhnt, meinen teller leer zu essen.