Die Welt als Scheibe

Hätten wir nicht die Medien, würden wir vom ständigen Werden und Vergehen wenig mitbekommen. So aber wird täglich vermeldet, welche medialen Personen perdu sind. Alle anderen vergehen von der Öffentlichkeit fast unbemerkt. Ich schaue aus dem Fenster, sehe ein hutzeliges Fräulein in gelber Jacke, das oft durch die Nachbarschaft streift. Irgendwann werde ich es nicht mehr sehen, dann ist es gestorben und wurde ohne mein Wissen verbrannt oder verbuddelt. Ebenso in meiner Nachbarschaft ist ein Kindlein geboren. Da steht ein Kinderwagen im Flur. Später wird es ein Laufrad sein. Dann ist aus dem fremdbewegten ein selbstbewegtes Individuum geworden mit all den Entwicklungsfolgen.

Es ist viel leichter, sich die Welt als rotierende Scheibe zu denken. In ihrem Zentrum entsteht Leben, richtet sich auf und handelt, und indem es handelt, wird es kaum merklich durch die leise, aber stetig wirkende Zentrifugalkraft auf der Scheibe nach außen getrieben – hin zum Rand und purzelt hinunter. Kurz vor dem Rand macht das heutige Mensch einige Verrenkungen, um den Fallprozess hinauszuzögern. Darin gleicht es dem männlichen Küken, das auf dem Förderband zum Schredder treibt. Es macht, bevor es zwischen die stoisch mahlenden Walzen fällt, noch einen Trippelschritt zurück. Der menschliche Trippelschritt ist Sport, Medizin, Altersforschung und frommes Gebet.

Ähnlich dem biologischen Werden und Vergehen gibt es ein geistiges, nämlich das Entstehen, Aufstehen und die Fortentwicklung neuer Gedanken. Entstehend aus dem Zentrum der Scheibe wirken sie eine Weile in anderen Köpfen, erzeugen den Konsens des „Man denkt so, so denkt man nicht“, bis diese Übereinstimmung veraltet und über den Rand fällt.

Heute Morgen erwachte ich mit folgendem Bild in meinem Kopf: In einem Rundfunkstudio saß als Moderator einer Musikwunschsendung der Sänger Ben Blümel, der kürzlich in den von RTL verkitschten Passionsspielen den Jesus gemimt hat. Blümel trägt Kopfhörer auf dem Kopf, wo sonst. Im Off, aber für uns Betrachter sichtbar, ruft einer an und sagt: „Hallo, hier spricht Gott. Ich grüße alle, die mich kennen und wünsche mir ‚Rivers of Babylon‘ der Gruppe Bonnie M.“

Ich preise mich glücklich, diese Idee nicht in der Zeit der Inquisition gehabt zu haben. Freilich wären auch die schärfsten Denker dieser gnadenlosen Gerichtsbarkeit nicht in der Lage gewesen, die Blasphemie in diesem Bild zu verstehen, denn es mussten zuvor unzählige Menschen und Ideen entstehen, wirken und in den Schredder fallen, unter anderem der Bonnie-M.-Erfinder Frank Farian.

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