Gefangen im Netz der Fernkommunikation – Fragment

In der Zeit der Heimlichkeiten schaffte ich mir ein Handy an, obwohl ich den Handybesitz lange Zeit verächtlich gefunden hatte. Eines Abends klingelte es, und bevor ich dran gehen konnte, hörte es wieder auf. Es war ein Klingelgruß von ihr. Sie fing damit an, mich regelmäßig anzuklingeln, zuletzt in Intervallen von etwa vier Stunden und einmal noch vor ihrem Zubettgehen. Ich wurde zum Sklaven dieser Klingelei. Wenn sie für längere Zeit ausblieb, zog ich rastlos umher und begann mich zu sorgen. Dann, ach, die Erleichterung, es klingelte, ein kurzer Glücksmoment und Ruhe für einen Augenblick.

Lisette erfand Klingelregeln. Klingelte sie einmal, war ihr Mann in der Nähe, klingelte sie zweimal, war die Luft rein, und ich konnte zurückklingeln. Welch ein Bild des Jammers muss ich gewesen sein in dieser Zeit. Freunde schüttelten den Kopf über mich, denn Lisettes Klingeln erwischte mich immer und überall. Sie sahen mich hochschnellen, das Handy in die Hand nehmen wie einen Fetisch und eilig die Tasten drücken und wussten, dass ich ernstlich krank war.

Schon kurz nachdem wir uns kennen gelernt hatten, bemerkte ich, dass etwas Seltsames in mir vorging. Ich hatte einen zehrenden wehen Schmerz in der linken Brust, der mal außen, mal weiter innen saß. Manchmal lauerte er leise, manchmal brach er heftig auf. Als die Zeit der Klingelzeichen begann, entdeckte ich, dass das heftige Aufwallen des Schmerzes häufig dem Klingeln voranging. Es wurde so deutlich, dass ich erschrak, wenn das Klingeln ohne Schmerzankündigung kam. Irgendwann erzählte ich es ihr, und sie sagte: „Ja, dann lass ich es bei dir suppen!“ Dieses Herzsuppen wurde so arg, dass ich mir Sorgen machte, ob es nicht organische Gründe hätte.

Ich ging zum Arzt und ließ mein Herz untersuchen. Da lag ich auf der Pritsche, der Arzt saß neben mir und fuhr mit dem Ultraschallgerät über meine eingeglitschte Brust. Er sagte, da sei eigentlich alles ohne Befund, und wie ich mich noch darüber freute, da suppte es plötzlich los. Ich zeigte auf die Stelle und sagte: „Können Sie mal schauen, was da ist?“ Auf dem Bildschirm tauchte die Region auf, er fuhr darin herum, wir beide schauten in mich hinein, und er sagte: „Da ist gar nichts!“ Später saß ich in seinem Sprechzimmer, und dann traute ich mich, von meiner Vermutung zu erzählen. Ich schilderte ihm einige seltsame Zusammentreffen von Schmerz und Klingeln. O Gott, dachte ich, der große Skeptiker unter dem Himmel redet hier solches Zeug. Ich fragte: „Glauben Sie, dass ich einen Knall habe?“ Dr. Bartel blieb ganz ruhig. Er sagte: „Wissen Sie, ich war lange Zeit in Afrika. Da habe ich Medizinmänner Dinge tun sehen, die ich vorher auch nicht für möglich gehalten hätte.“

Da gab ich mich geschlagen und nahm es einfach an. Selten trat der Schmerz spät abends auf, Lisette ging immer früh zu Bett. Wenn es jedoch gegen zwölf oder später in meiner Brust zu wühlen begann, dann dachte ich, es wäre etwas Übles los mit ihr. Dachte, ihr Mann wäre zudringlich oder sie hätte Streit. In dieser Zeit begann meine echte Schlaflosigkeit. Ich lag im Bett, der Schlaf kam nicht mehr zu mir. Tagsüber hätte ich im Stehen einschlafen können, nachts jagte mein Herz, mein Kreislauf spann, die Gedanken kreisten, und ich war eine einzige fiebrige Unruhe. Ich glaubte zu spüren, wenn sie abgelenkt war, da schwand der Schmerz völlig, und ich freute mich, wenn er zurückkehrte.

Immer ab dem 20. Tag ihres Zyklus zog sie sich zurück, brach aus dem Nichts einen Streit vom Zaun, sprach von Trennung. Mir fiel auf, dass in diesen Zeiten auch Seltsames mit Lisette geschah. Fast immer wurde sie krank, ganz oft jedoch wurde auch ihr Sohn krank, und zwar heftig. Auch andere unangenehme Dinge ereigneten sich, kleine Alltagskatastrophen, heftige Auseinandersetzungen mit Freunden oder Familienmitgliedern, ja, sogar Todesfälle. Und nichts, kein Wort und keine Tat waren geeignet, Lisette aus ihrem Schneckenhaus zu locken. Wenn ich zurücksehe, fällt mir auf, dass Lisette vor solchen Auszeiten weniger schlecht von ihrem Mann sprach, ja, geradezu etwas Backfischartiges bekam, das im Widerspruch zu ihren sonstigen Aussagen stand.

Während ihrer monatlichen Rückzugphasen verlor sich auch der Schmerz. Die Stille wurde schier unendlich, wenn er weg war. Gelegentlich brach er für kurze Zeit wieder auf, dann jedoch an der Innenseite. Diese Seite hasste ich, denn mir schien, dass es dort suppte, wenn Lisette sich mit Gedanken der Trennung trug. Es gab auch ein Wandern des Schmerzes. Er begann an der unguten Seite und wanderte irgendwann hinüber auf die vermeintlich gute. Es war wie eine Zwiesprache mit ihr, als hätte ich ihr gut zugeredet und sie wieder zu mir hinüber gezogen.

Das System ihrer Klingelzeichen war wie das uralte Fadenspiel, auch Hexenspiel genannt. Damit fesselte sie mich. Unlösbar, unzerreißbar wie der magische Faden Gleipnir, mit dem die Götter den Fenriswolf banden. Plötzlich trudelt eine Erinnerung durch mein Denken gleich einem Stein im Gebirge, den ein unachtsamer Wanderer losgetreten hat.

Ich sitze auf einer Bank, die auf einem abschüssigen Rasen steht. Er ist erst kürzlich gemäht worden und zeigt jetzt verholzte Stoppeln. Zur Straße hin ist er durch eine mannshohe Bruchsteinmauer begrenzt. Hinter mir liegt im Schatten mächtiger Kastanien eine Kapelle. Am Stamm lehnt mein Rennrad. Stille in der Mittagshitze. Ich esse ein Brot und trinke Apfelschorle aus dem Bidon. Eigentlich sollte ich glücklich sein, zumindest zufrieden. Doch ich leide. Ein wehes Gefühl des Verlustes und der Sehnsucht wühlt in meiner Brust gleich einem tollwütigen Hund. Ich will diesen Schmerz loswerden. Weiß nicht wohin mit mir, will entfliehen. Drum stehe ich auf und betrete den Friedhof seitlich des Kirchleins. In den Gräbern liegen Patres und Mönche des nahem Klosters. Ich gehe zwischen Gräbern über hellen Kies, lese von den Grabsteinen laut die Namen der Toten ab, als würde ich mir eine Mannschaft zur Verstärkung aufrufen. Ich und meine wachsende Schar, wir schreiten über Kies. Doch gegen den Schmerz helfen sie mir nicht, nur müde werde ich, unsagbar müde. Ich lege mich auf die Bank und sinke in einen unruhigen Schlaf. Etwas in mir wacht, hofft und sehnt das erlösende Klingelzeichen herbei, mit dem sie mir versicherte, an mich zu denken. Es kommt erst in der Nacht.

Ich glaube, dass sie mich schlafen schickt. Ganz oft schon, nachdem wir uns verabschiedet hatten. und ich wusste, sie würde ihren Mann sehen, fand ich mich bald auf das Bett niedersinken und schlafen. Auch zu anderen Gelegenheiten, wenn sie etwas tat, von dem sie dachte, es würde mich beunruhigen, geschah mir das. Es ist kein gutes Schlafen, hart unter der Oberfläche, und wenn ich aufwache, bin ich lange Zeit niemand, nur ein armes Stück Mensch. Wenn sie das tut, dann entlastet sie sich und nur scheinbar mich. Ich habe noch nie mit ihr darüber gesprochen, denn ich vermute, dass sie das unbewusst tut, und es wäre gar nicht aufzudröseln, was da passiert, ja, es ist auch nicht zu beweisen, dass es passiert. Allein die Ahnung ist bei mir, und meine Ahnung trügt mich nur selten, eigentlich nie, wenn ich sie unzensiert gewähren lasse. Das hier ist ein unzensiertes Eingeständnis: Ich glaube, dass sie mich schlafen schickt. Wie die Mutter, die weiß, dass sie im Augenblick ihr Kind nicht vor den Härten des Lebens schützen kann und es deshalb in den Schlaf wiegt. Lisettes Mutterinstinkt ist mächtig. Es gefällt mir gar nicht, dass sie mich schlafen schickt. Es ist schräg, denn sie ist nicht meine Mutter. Erwache ich deshalb so wund und schwach?

19 Kommentare zu “Gefangen im Netz der Fernkommunikation – Fragment

  1. Lieber Jules,
    Ist das nicht schlimm wie manche mit Macht zu jonglieren scheinen und man offensichtlich dem so hilflos ausgeliefert fühlt wie einem Valmont mit Dackelblick: Dagegen bin ich machtlos.
    Dies zwar im Kontext, die herzzerreißend um Aufmerksamkeit Flehende brüsk vor die Brust, äh, Brüste zu knuffen, von sich zu schubsen, doch genauso könnte sie umgekehrt mit verrückter Perücke durch graue Locken dasselbe behaupten wie ein Valmont: Dagegen bin ich machtlos!
    Doch es gibt zum Glück Rennräder und die traumhaften freien Augenblicke allein. Da kann Lisette nicht mithalten. Ihr Mann hätte auch was gegen Rennradtouren oder Kumpel. Er wäre nämlich eifersüchtig. Reine Spekulation natürlich.
    Ich schrub heute eine Fahrradgeschichte. Gegen Dich klinge ich wie Bambi in Walt Disney, pööööh…😉
    Viele liebe Grüße von der fluffigen Fee

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    • Liebe fluffige Fee,

      danke für deine Worte. Kürzlich fand ich auf meinem alten Rechner einen ganzen Rutsch von Aufzeichnungen aus dieser Zeit und war selbst überrascht von der Intensität. Nach jetzt 15 Jahren war vieles in der Versenkung verschwunden. Ja, damals war ich fast machtlos, ein Getriebener und trotzdem ist es mir nach sieben Jahren Auf und Ab gelungen, mich zu befreien. Radsport ist ja ein gutes mentales Training. Man ist schon erschöpft und hat noch gut 50 Kilometer gegen den Wind vorm Bauch, das prägt. Leider bin ich während der Zeit mit Lisette vom Radsport abgekommen. Wir fuhren öfters zusammen, und weil sie immer aus dem Stand losjagte wie eine Wilde, war sie nach 30 Kilometern ausgepowert. So sanken die Entfernungskilometer und auch mein Trainingszustand.
      Deine Fahrradgeschichte werde ich aufmerksam lesen. Wird sicher schön.
      Lieben Gruß,
      Jules

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      • Ich war ehrlich gesagt gar nicht sicher ob ich sie bloggen soll, obwohl ich Traummärchenbilder dazu geknipst habe. Ich war auch mal getrieben von so einer alten Liebe. Ich fuhr sie mir inzwischen vom Leibe. Mittlerweile bin ich ja auch ein Mountiefan und erkunde (langsam) den Wald, das ist gut für die Kondition. Arme Lisette, ja auch, nicht wahr? Sie hat Dich mit Getriebensein angesteckt, Dich mit Leben infiziert. Doch sie hat Dich aus den Augen verloren. Eine lange Tour erfordert eine genaue Energieverwaltung, das richtige Tempo. Ich lernte das auf harte Weise als Anfängerin auf 100-Kilometer-Touren mit einem Partner, dem piepegal war wie es mir ging. Ein aufmerksamer Sportpartner achtet wie ein aufmerksamer Partner auf Dich wie Du auf ihn. So lernte ich das im Verband mit andern.
        Vielleicht sollte ich Bambi doch zu Wort kommen lassen. Allerdings ist das eher eine Klettergeschichte mit einem Fahrrad…
        Liebe Grüße auch von mir!

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    • Liebe Andrea,
      dankeschön für die Nominierung. Ich blogge nun seit 2005, und in 12 Jahren haben mich viele solcher Nominierungen erreicht. Früher,bei Blog.de, bekam man ein „Stöckchen“ zugeworfen. Und ich habe immer geantwortet: „Ich apportiere nicht.“ Das will ich auch so halten, wenn die Stöckchen neuerdings „Nominierung“ heißen.
      Viele Grüße,
      Jules

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      • Ja, da fehlt mir als „Grünschnabel“ noch die Erfahrung und womöglich auch das Fingerspitzengefühl. Mir war nicht bewusst, dass solchen Nominierungen „Stöckchen-Hol-Charakter“ anhaftet, Aber ich danke dir für deine klaren Worte und verstehe deine Beweggründe. Ja, es tun sich doch immer wieder neue Höhen und Tiefen auf in der vielschichtigen Welt des Bloggens…
        Herzliche Grüße,
        Andrea

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        • Das Anliegen solcher Stöckchen ist ja durchaus ehrenwert, nämlich auf diese Weise den Kreis der Blogger, die sich kennen, zu vergrößern. Aber es funktioniert nicht. Man kann den Kreis nicht beliebig erweitern, nicht zu so vielen Menschen Kontakt halten, bei ihnen lesen und kommentieren.,
          Zudem muss man eine bestimmte Anzahl von Freunden mit der Nominierung bedenken. Nicht jeder freut sich darüber, plötzlich müßige Fragen beantworten zu müssen. Ich auch nicht,
          Was ich kundtun will von mir, steckt ja zu Genüge in meinen Texten.
          Herzlichst,
          Jules

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  2. Lieber Jules, die Macht eines so banalen Klingeltones ist schwer begreifbar, wenn man sie nicht so oder anders schon erlebt hat. Ich vermute, dass fast jeder der diese Zeilen liest und über 25 ist, sehr genau weiß wovon du sprichst. Sei es ein Klingelton oder eine WhatsApp. Nur so beschreiben könnten es wenige.
    Kürzlich meldete sich einer bei mir über den ich nie schreiben werde, weil es gut ist, dass er weg ist. Eine banale Nachricht und doch erinnerte sie mich an das Gefühl das ich bei so vielen seiner Nachrichten hatte. Auch da reagierte der Körper alleine schon bei seinem Namen auf dem Display. Eine unschöne Reaktion. Dein Text passt sehr gut dazu. Anders, aber im Kern, kann ich es sehr gut nachvollziehen.
    Liebe Grüße

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    • Liebe Mitzi,
      freut mich, dass der Text dir etwas sagt. mit WhatsApp habe ich auch Erfahrungen, allerdings überwiegend positive. Ich freute mich, wenn das Klingelzeichen zu hören war, das eine neue Nachricht ankündigte. Nach dem Ende meiner letzten Fernbeziehung habe ich WhatsApp deinstalliert. Es ist schon etwas Vertracktes mit allen Medien der Fernkommunikation, wenn sie mit einer bestimmten Person verknüpft sind, wie dein Beispiel auch zeigt.
      Schöne Grüße und einen guten Start in die Woche,
      Jules

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    • Die Erfahrung möchte ich trotzdem nicht missen. Hier liest man ja nur die Schattenseiten. Außerdem wurde ich dadurch aus meinem beschaulichen Lehrerdasein gerissen, rechtzeitig, bevor ich zum Unterrichtsbeamten verkam. Nicht zuletzt hätte ich all die wunderbaren Kontakte übers Bloggen nicht gehabt. Wie lange wärt jetzt schon unsere Blogfreundschaft, ein Jahrzehnt? Wir beide wären uns nie begegnet, bzw. würden nicht kommunizieren, was ich aus heutiger Sicht schwer bedauern würde. Das allles hat ja meine Perspektive enorm erweitert.

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      • Stimmt, so sollte man das betrachten. Wichtige und weitreichende Entscheidungen fällt man wahrscheinlich allgemein eher aus einer Krisensituation heraus – sind die Umstände nicht krisenhaft, hat man ja keinen Grund, sie zu ändern. Als mich meine damalige Partnerin schmählich verlassen hatte, krempelte ich mein Leben um, was dazu führte, daß ich die Frau, die ich immer meine Begleiterin nenne, kennen und lieben lernte – meine beste Freundin seit nun über 22 Jahren. Rückblickend kann ich also meiner damaligen Partnerin nur dankbar sein. Allerdings hat die Trennung mich auch viel gekostet, und manchmal frage ich mich, ob das wirklich unbedingt nötig gewesen ist. Ich trage schwer an solchen Erfahrungen, sie haben mich noch jahrelang schmerzlich verfolgt.

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      • Ach, übrigens – mit der Zeit wissen wir ja schon viel aus Deinem Leben, aber warum und unter welchen Umständen Du den Lehrerjob aufgegeben hast, haben wir noch nicht lesen können, oder? Vielleicht hast Du ja mal Lust, davon zu erzählen, mich jedenfalls interessiert’s.

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        • Danke für dein Interesse. Hier genügen doch eigentlich die verstreuten Bemerkungen. Bei Gelegenheit mal. Die Frage im Kommentar darüber „manchmal frage ich mich, ob das wirklich unbedingt nötig gewesen ist“, hast du ja oben selbst beantwortet. Manchmal geht es nicht ohne einen schmerzhaften Anstoß. Du ständest vermutlich heute nicht da, wo du stehst, also war es nötig.

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