„Die Mikroben sind hinter mir her“, sagte Erlenberg düster.
„Welche Mikroben?“
„Das weiß ich eben nicht genau, vielleicht ein Bakterienstamm, außerirdische Bazillen, Viren, jedenfalls geeignet, mich umzubringen. Sie lauern auf mich in Kellern, Höhlen und Gruften.“
„Erzählen Sie mehr!“
Erlenberg war zum ersten Mal in meine Sprechstunde gekommen. Als er den Raum betreten hatte, war ich erschrocken und hatte Mühe gehabt, mir nichts anmerken zu lassen. Als Arzt darf man nicht erschrecken, wenn Patienten mit den seltsamsten Symptomen kommen, beispielsweise von einer gnadenlosen Natur mit den grauenhaften Verwachsungen der Elefantitis geschlagen sind oder sich unter einem Verband eine faulende, übel riechende Wunde offenbart, in der schon Fliegenlarven wimmeln. Ich habe schon einer alten Frau einen armlangen, schmarotzenden Wurm aus dem Auge gezogen, habe in meiner Zeit als Unfallarzt zerschmetterte und abgetrennte Gliedmaßen zuhauf gesehen, Flaschen, Messer, gar eine Schüttelkugel, es schneite über dem Eiffelturm, aus einem Enddarm entfernt. „Ich dachte, der Eiffelturm steht an der Seine und nicht am Po“, frozzelte ein Kollege, aber diese Schüttelkugel gab mir den Anstoß aufzuhören mit dem stressigen Geschäft der Unfallmedizin. Ich war schon lange nicht mehr einverstanden damit, als übermüdeter Arzt in der Ambulanz, Patienten am Fließband abzufertigen, und wollte keinesfalls dem Zynismus verfallen, den ältere Kollegen zeigen.
Auch konnte ich den Versprechungen der Pharmakonzerne nicht mehr trauen. Wer mir anbietet, mich mit der ganzen Familie FirstClass nach Dubai zu fliegen, uns im 7-Sterne-Hotel Burj Al Arab unterzubringen, nur um ein neues Medikament zur Blutstillung vorzustellen, kann doch keine lauteren Absichten haben. Irgendwer muss den schändlichen Aufwand bezahlen, mit dem neue Medikamente in den Markt gedrückt werden, die keinen aber auch keinen Zugewinn an therapeutischer Wirkung bringen, nur deutlich teurer sind als bewehrte Medikamente. Inzwischen hatte ich mich von der Schulmedizin ganz abgewandt und betrieb eine kleine Praxis für Homöopathie, hatte keine Sprechstundenhilfe und nur wenige Patienten.
An diesem Novembertag, an dem es den ganzen Tag nicht hatte richtig hell werden wollen, hatte ich nur einen Patienten, Karl-Hermann Erlenberg. Er war von einem eisigen Luftzug begleitet und von einer Schwärze umgeben, die sich unmittelbar auf mein Gemüt legen wollte. Erlenberg hatte mich nach dem Eintreten lauernd beobachtet, als wollte er sehen, ob ich seiner Aura gewachsen wäre oder einknicken würde. Ich dachte an das Schneegestöber überm Eiffelturm und konnte den ersten Ansturm negativer Energie schmunzelnd abwehren.
„Haben Sie Zeit, meine Geschichte zu hören?“
„Für die Erstanamnese eine ganze Stunde, also erzählen Sie!“
„Zum ersten Mal haben mich die Mikroben in den Höhlen von Remouchamps angefallen. Ich war mit einer Reisegruppe dort. Schon als wir auf unseren Kahn warteten, mit dem uns ein Führer über den Fluss Rubicon durch die Tropfsteinhöhle staken sollte …, nein, das war das zweite Mal. Das erste Mal geschah in meiner Kindheit: Seit dem Tod meines Vaters waren wir arme Leute, aber es gab in der Familie einen entfernten Onkel, der in Köln ein stattliches Patrizierhaus besaß und ein Dienstmädchen beschäftigte. Der Onkel war ein Cousin meiner Großmutter und ihr vertrauter Arzt. Ab und zu machte meine Großmutter sich fein, streifte weiße, spitzenbesetzte Handschuhe über, nahm ihr bestes Handtäschchen in die Armbeuge und fuhr mit dem Zug nach Köln zum „Ehrenfelder Rainer.“ Manchmal durfte ich mit. Ich war erst sechs oder sieben Jahre alt, aber seit dem ersten Besuch bei Onkel Rainer verliebt in Minna, sein Dienstmädchen. Ich erinnere mich, dass ich mir ausrechnete, wie lange es noch dauern würde, dass ich die schöne Minna küssen könnte, ohne auf einen Stuhl steigen zu müssen.
Es gab da in Parterre ein Badezimmer, mit schwarz-weißen Bodenfliesen, einer Badewanne auf Löwenfüßen, in der in alten Buchstaben „Kaldewei“ stand, und vergoldeten Armaturen. Wer die Treppe hinunter kam, hätte von den Stufen aus durch ein Fenster in der Tür ins Bad schauen können, weshalb im Fensterchen Gardinen gespannt waren. Einmal, derweil Onkel Rainer meine Oma untersuchte, streunte ich durchs Haus. Aus dem Badezimmer hörte ich ein Plätschern und leises Summen. Durch die Spanngardinen sah ich, dass im Bad eine Kerze brannte, und ich ahnte mehr als ich sah, die angebetete Minna nackt in der Wanne. Unten dreht ich mich um und stieg wieder hinauf, kehrte noch mehrmals um und spähte ins Fenster. Plötzlich rief Minna von drinnen: „Willst du mich in der Badewanne sitzen sehen?“
Ich traute mich nicht, ja zu sagen, sondern stammelte, „ich suche das Klo“ und rannte beschämt treppauf.
„Im Treppenhaus!“ rief Minna mir belustigt hinterher.
Auf der halben Treppe sah ich eine Tür, auf der ein Schlüssel stak. Ich schloss auf und flüchte hinein, obwohl ich sogleich erkannte, dass dies nicht das Klosett sein konnte. Ich hörte Minna noch rufen: „Da nicht!“, da fiel bereits die Tür hinter mir zu. Es war stockfinster. Ängstlich betastete ich die Tür, doch hier fehlte die Türklinke. Die Tür war von innen nicht zu öffnen