Die Kulturgeschichte der Typografie in einer Nussschale 7) Kanonen der Form

Folge 1 Antikes Geschrei
Folge 2 Lesen wie Bienensummen
Folge 3 Faustischer Buchdruck
Folge 4 Fraktur versus Antiqua
Folge 5 Aufstieg und Abschaffung der Fraktur
Folge 6 Die unendliche Setzerei

Die Linguistik unterscheidet bei einem Wort seine lexikalische Bedeutung (Denotation), und die Gefühlswerte und Assoziationen (Konnotationen), die ein Sprecher/Hörer mit dem Wort verbindet. Typographen und Kalligraphen wissen, dass die Form der Buchstaben ebenso Gefühlswerte und Assoziationen vermittelt. Der Klarheit wegen will ich bei Konnotationen der Schriftform von Konnotationen² schreiben. Der Kunstwissenschaftler und polyglotte Blog-Kollege Merzmensch berichtete mir nach einer internationalen Tagung über den MERZ-Künstler Kurt Schwitters im hannöverschen Sprengelmuseum von den Problemen, das typographische Bilderbuch „Die Scheuche“ von Kurt Schwitters, Käthe Steinitz und Theo van Doesburg ins Englische zu übersetzen. Übersetzen ist hier das richtige Verb, denn die Scheuche hatte Schwitters ausschließlich mit typographischem Material aus der Setzerei des Schriftsetzers Paul Vogt gesetzt. In seinem Blog hat Merzmensch die deutsche und englische Fassung verglichen und mir freundlicher Weise die Übernahme gestattet:
Freund Merzmensch schreibt: „Der BierBäuchige Bauer BreitBeinig stehend – was kann so eine Figur [nicht] besser personifizieren, als B?“ und weiter über die englische Übersetzung: “The Farmer on his Flimsy Feet doesn’t Fit so really in the Schwitters’ concept. But how you would translate it else? Dieser Bauer sieht absolut unpassenderweise nach einem Gentleman aus… Ja, Merzmensch, weiss es nicht, wie man typographische MERZ-Werke übersetzen soll. Vielleicht ist es unmöglich?“

Wenn schon die Bildwerte einzelner Buchstaben unser Urteil beeinflussen, gilt das erst Recht für den Bildwert, den Charakter einer Schrift. Jeder empfindet empfindet die Konnotationen² beim Anblick einer Handschrift, weil sich in der expressiven Gestaltung die Person des Schreibers zu spiegeln scheint. Auch hier lässt sich mit Mehrfachbedeutungen spielen, um die Aussage kräftiger zu machen, wie die wunderbare handschriftliche Zeile der Blog-Kollegin Phyllis zeigt:
(Phyllis Kiehl; „Komplett irrationale Notate, ff“ – größer: klicken)

Bei den von jeder Expressivität gereinigten Druckschriften sind Konnotationen² weniger augenfällig, zumal ein Abstumpfungsprozess durch häufiges Lesen entsteht. Trotzdem lässt sich eine schriftliche Aussage durch die Wahl der passenden Schrifttype unterstützen oder schwächen. Es ist ein Unterschied, ob

liegen oder umgekehrt, also nicht weiche Männer in harten Betten oder harte Betten in weichen Männern, sondern bei gleichem Bedeutungsinhalt die Schriften ausgetauscht werden. Die gewählte Schrifttype lässt immer auch Nebenbedeutungen mitschwingen.

Darum sollte das Wort „Symphonie“ den Leser nicht in der gleichen Tonart und optischen Lautstärke anbrüllen wie das Wort „Sauerkraut.“ Was gut und passend ist für „Das alte Rom“…ist etwas zu gut für die „neuen Radieschen.“ (Beispiele aus: Edwin Baumann; „Mit den Kanonen der Form nach den Spatzen des Inhalts zu schießen“, in Grafisches ABC 4/1966) Es kommt viel eher vor, dass ein Text typografisch overdressed ist als zu schlecht angezogen. Die richtige Wahl fällt natürlich am ehesten durch die Kontrastierung auf. Ein Gespür für den passenden Schriftcharakter stellt sich nicht von selbst ein, sondern wie in allen Künsten schärft sich das Urteil durch längere Beschäftigung mit der Materie. In der Vergangenheit war feines Gespür oft bei den Fachleuten in den Schriftgießereien zu finden. Wenn die Schriftgießereien eine neue Schrift herausbrachten, gaben sie immer passenden Anwendungsbeispiele. Die nachstehende Aufstellung passender Schriftwahl stammt von Karl Klingspor, dem Miteigner der Gebr. Klingspor, einer der bedeutendsten deutschen Schriftgießereien des 20. Jahrhunderts.

(größer: Klicken)

Wird fortgesetzt

16 Kommentare zu “Die Kulturgeschichte der Typografie in einer Nussschale 7) Kanonen der Form

  1. Das mit dem „typografisch overdressed“ ist oft zu finden, und ich kann als Laie auch nur mein Gefühl wiedergeben, dass bestimmte gewaltige Schrifttypen nicht zum zarten Text passen und mich beim Lesen erschlagen oder zumindest stören. Auch der Wechsel von Schrifttypen innerhalb eines Textes (es sei denn, dass er um eines pfiffigen Effektes Willen (wie bei den harten Männern in weichen Bette) gewollt ist, stört.
    Auch beim Lesen eines Buches gibt es Schrifttypen, die mich von Beginn an zum Lesen einladen – andere eher nicht.

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    • Wenn eine Schrift zum Lesen einlädt, ist das ideal. Vieles im Internet ist typografisch overdressed. Kein Mensch würde eine belanglose handschriftlich hingesaute Notiz lesen, wenn sie jedoch in eine klassische Antiqua gekleidet ist, täuscht das rasch über inhaltliche Leere hinweg. Mich stört aber auch geschmäcklerische Typografie, wie sich manche Themes anbieten. Da ist manches wie überzuckert. Mir gefällt grundsätzlich der sparsame Einsatz von Gestaltungsmitteln, angefangen bei Wortwahl und Stil.

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  2. Ich mag es auch nicht, wenn sich ein Schrifttyp ändert, das fällt mir oft negativ bei Werbung auf. Schrift sollte nur unterstützend bei texten wirken, nicht zum Selbstdarsteller werden, ausser es ist gewollt.

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  3. Das Beispiel mit Bauer und Farmer zeigt sehr gut, wie schnell Buchstaben ein Eigenleben entwickeln können.

    Ich selbst erkenne eine schöne Typografie selten. Umgekehrt aber stört mich eine unpassende sehr schnell.
    Wie groß die Nussschale schön geworden ist, lieber Jules. Kompliment!

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    • Die Übersetzung wird dem Original von Kurt Schwitters nicht gerecht. Vor allem glaube ich nicht, dass es mit Material aus dem Bleisatz gestaltet wurde. Das war nämlich die revolutionäre Tat Schwitters, die wir heute kaum noch verstehen können. Spielerisch kreativ mit Bleisatzmaterial umzugehen, war völlig unüblich. Einige Buchstaben stehen schräg in der Fläche. Das Blindmaterial, womit die leeren Stellen ausgefüllt werden, war aber immer nur rechteckig. weshalb Schrägsatz fast nie vorkam. Mit digitalen Mitteln ist es eine Kleinigkeit, ein solches Typobild zu bauen, und indem wir das wissen, hat sich unser Blick verändert, ist so nüchtern geworden.
      Wenn dir Typografie nicht auffällt, liebe Mitzi, ist sie schon mal so weit gut geraten, dass sie sich nicht in den Vordergrund drängt.
      Dankeschön fürs Kompliment. Ja, die Nusschale quillt schon über, und ich bin noch nicht fertig. 😉

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  4. Pingback: Die Kulturgeschichte der Typografie in einer Nussschale 8) Typografisches Messen

  5. Nachdem ich in der Überschrift „Kanonen der Form“ gelesen hatte, verlas ich natürlich prompt „Denotation“ zu „Detonation“ …

    Übrigens sieht man ganz oft im Selbstentwurf gefertigte Visitenkarten oder Briefköpfe mit teilweise ganz verschiedenen Schrifttypen, oft zusätzlich fett und/oder kursiv gedruckt. Die Urheber meinen, das sei kreativ, aber es sieht einfach nur schrecklich aus.

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  6. Dein Verleser ist ein schönes Beispiel dafür, wie der Eintrittspunkt des Denkens den nachfolgenden Informationen seinen Stempel aufdrückt.

    Derlei schlecht gestalteten Visitenkarten vermitteln dann doch einen ehrlicheren Blick auf die Person. Das erinnert mich an einen Vorfall, den ich schon mal aufgeschrieben hatte::

    Als junger Mann war ich Schriftsetzer, trug einen grauen Kittel und hatte handwerklichen Berufsstolz. Eines Tages kam ein Kunde in die Druckerei, der Kaffeefahrten veranstaltete. Er hielt mir einen alten Werbezettel unter die Nase und sagte, ich solle ihm einen neuen Zettel mit den aktuellen Daten setzen. Der Reklamezettel versammelte ein Dutzend Schrifttypen in allen Größen und Schnitten. In meinen Augen war das visuelle Umweltverschmutzung. Obwohl ich Kaffeefahrten nie für eine kulturelle Veranstaltung gehalten habe, hatte ich den Ehrgeiz, dem Kunden einen typographisch einwandfreien Werbezettel zu gestalten. Es ging um Berufsethos. Wenn ein zerschossener Mafiosi aufgefunden wird, sagt der Arzt ja auch nicht, den lasse ich so, wie er ist. Ich setzte den Zettel ab und gestaltete ihn völlig um, setzte nur eine Schriftart ein und gab den Inhalten gleichen Rangs auch die selbe Größe. Später wurde meine Neufassung zweitausend mal auf vierfarbige DIN-A5-Vordrucke gedruckt, die der Kunde angeliefert hatte. Dann kam der Kunde, um sie abzuholen. Die Zettel waren in handliche Pakete eingepackt, auf deren Stirnseite jeweils einer der Werbezettel klebte. Der Kunde beugte sich drüber und stieß einen Wutschrei aus. „Falsch! Alles falsch, die Zettel sollten genau wie die Vorlage gedruckt werden!“

    Mein Chef kam in die Buchbinderei und musste sich leider anhören, dass der Kaffeefahrtveranstalter die Zettel nicht abnehmen würde. Und schlimmer noch, jetzt müsste er auch die teuren vierfarbigen Vordrucke nachbestellen. Das ganze sei eine Katastrophe und werde ihn vermutlich ruinieren.

    Ich wurde zur Rede gestellt und versuchte dem Kunden zu erklären, warum ich seinen Zettel nicht genau nach der Vorlage hatte setzen können. Da rief er aufgebracht: „Quatsch! Diese Gestaltung ist von Psychologen ganz genau ausgetüftelt worden. Daran darf nichts verändert werden, keine Kleinigkeit, sonst wirkt er nicht!“

    Er selbst war der Psychologe gewesen, ahnte ich. Denn allmählich fand ich heraus, dass besonders die windigen Vögel viel von angewandter Psychologie verstehen. Nur dann sind sie mit ihrer Bauernfängerei erfolgreich. Die verwirrende Typographie hätte ich also nicht in Ordnung bringen dürfen, denn das Ziel des Zettels war die Verwirrung der potentiellen Opfer. Diese Erfahrung lehrte mich etwas über den richtigen Zusammenhang von Form und Inhalt.

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  7. Form und Inhalt – ja, du hast natürlich volllkommen Recht. Als Amateur bleibt mir aber nur, das riesengroßen Angebot der Schriftarten möglichst zu ignorieren, mir Farbe, fett und kursiv zu verbieten und immer dann, wenn es wichtig wird, die Fachkraft zu rufen. Zum Glück kenne ich Menschen, die können, was ich nur will.

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    • Es reicht ja, wenn man es macht wie du, sich für den privaten Gebrauch auf einige wenige Schrifttypen beschränkt und sich mit der Hervorhebung durch Fettdruck und Farbe zurückhält, wie ja der sparsame Umgang mit formalen Mitteln der Königsweg zur Qualität ist.

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  8. Pingback: Die Kulturgeschichte der Typografie in einer Nussschale 10) Mediale Revolution

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