Als tourist auf der linie 13 (3) – Alte wege

Die Anzeigetafel auf dem bahnsteig der linie 13 zeigt, dass ich zwei minuten habe, um einen fahrschein zu ziehen. Die Üstra hat die bargeldautomaten abgeschafft, will überall solche der neuen auomatengeneration aufstellen. Mir bleibt nicht genug zeit herauszufinden, ob die protzigen neuen kartenzahl-automaten auch Koffie to go können. Aber sicher ist schon mal, das fahrschein-ausgabefach sitzt zu tief. Ich weiß nicht, wen die planer vor augen hatten, jedenfalls keinen mit rücken. Ich bin ja nur durchschnittlich groß und muss mich schon bücken. Aus dem tunnel dröhnt der heranrauschende zug. Er hat gerade die Leine unterquert. O Gott, das tauchbad hat die Üstra-typische lindgrüne farbe abgewaschen.

Der ethnologe Bengt af Klintberg berichtet von zügen der stockholmer u-bahn. Sie sind ebenfalls grün. Manchmal taucht aus einem u-bahn-mundloch eine geisterhaft silbergraue bahn auf. Man lässt den „Silverpilen“ (Silberpfeil) besser passieren und wartet auf die reguläre bahn. Denn leute, die in den silberpfeil eingestiegen sind, verschwanden oder wurden viel später weitab von ihrem ziel aufgefunden. Die unglücklich in den horrorzug hineingeratenen fahrgäste dürfen nicht aufsehen, sitzen mit gesenktem kopf und starren stier nach unten. Ehe ich das realisiere, bin ich schon leichtfertig eingestiegen. Man hat die sitzbänke im Silberpfeil überwiegend den gang entlang platziert. Die fahrgäste sollen wohl nicht aus dem fenster schauen, sondern nach unten stieren. Die meisten haben kleine bildschirme in der hand, auf die sie unentwegt starren. Ich will ja nicht unken, aber das hat was von gedankenkontrolle. Kein wunder, dass viele an den falschen stationen aussteigen. Sie wissen gar nicht, wo sie sind. Dieser großstadtmythos wäre aufgeklärt, herr Bengt af Klintberg.

Eine frühe form der gedankenkontrolle ist ganz aus der zeit gefallen. Man sieht in der bahn keine zeitungsleser mehr. Folglich beherrscht auch keiner mehr die kunst, eine zeitung in der vollbesetzten bahn probat zu falten, für die die bettuchgroße FAZ extra eine faltanleitung erdacht hatte. Immerhin könnte man zeitung auch im grellen sonnenlicht lesen, denn der silberpfeil hat den u-bahntunnel verlassen und saust auf die erste oberirdische station, Allerweg, zu. Hier bin ich zwei jahre ein- und ausgestiegen, als ich wegen einer beziehung zwischen Aachen und Hannover pendelte. Rechts ging es zu meiner 1. hannoveraner freundin; links im Siloah-krankenhaus hat man mir im jahr 2012, inzwischen war ich schon hergezogen, einen stent ins herz gepflanzt.

Ich erinnere mich an eine interessante unterhaltung zwischen arzt und assistierender op-schwester. Er fragt nämlich nach den vorhandenen größen beschichteter und unbeschichteter stents. Die gewünschte größe ist nicht da, da nimmt er einfach eine andere, wie man manchmal einen 6er-dübel nicht hat und sich eben mit einem 8er-dübel behilft oder der fahrradmechaniker sagt: „Ich habe gerade keinen 24-er reifen, nehmen sie auch einen 26-er?“ Und man sagt notgedrungen ja, obwohl man weiß, dass ein 26 millimeter breiter reifen einen größeren rollwiderstand hat als ein 24-er. Man lese die handwerkliche barbarei nach im bericht: „Wie ich beinahe versehentlich gestorben wäre.“

Ein ganzer pulk junger menschen wartet an der fußgängerampel. Sie kommen von einer der fachhochschulen in der nähe. Die bahn rauscht vorbei auf den stadtteil ricklingen zu. Eine weile bin ich hergefahren, weil ich meinem friseur nachgereist bin. So geht es nämlich bei einem umzug in eine andere stadt. Man hat zunächst keine ärzte, keine stammkneipe, keinen friseur, und hat man einen gefunden, wechselt er die arbeitsstelle und man muss ihm hinterher reisen. Dieser hieß Tim und erinnerte mich an meinen Aachener friseur Dimi. Mein freund und kollege Mike hatte ihn mir empfohlen: „Du musst zu einem mann gehen. Frauen machen einen zu brav“, hatte Mike gesagt. Also ging ich noch zu Dimi, als ich schon in Hannover lebte. Manche gehen zum friseur, ich fuhr einige hundert kilometer. Dimi vereinte vorzüge. Er machte mich nicht brav, war ein künstler seines fachs und sprach wirklich wenig. Nur einmal hörte ich einen ganzen satz von ihm. Während er mir die haare schnitt, fielen eisgraue strähnen zu boden. Ich fragte: „Was sind denn das für graue löschen, die hier runterfallen?“
„Die sind von Ihnen“, sagte Dimi trocken. Da erst wurde mir bewusst, dass ich grau geworden war. Mein verlogener spiegel hatte mir nach wie vor braune haare gezeigt. In Hannover hat Tim mir eine weile die haare getönt, weil meine 2. hannoveraner freundin …

Wird fortgesetzt (…)

Als tourist auf der linie 13 (2) – Rein in die Wassersenke

Ich muss bis zum Waterlooo-u-bahnof mit der linie 9 fahren, um dort umzusteigen in die 13. Seit wochen sind die fahrscheinautomaten in der Nieschlagstraße außer betrieb. Bis zum umstieg muss ich notgedrungen schwarz fahren. „Beförderungserschleichung“ heißt das juristisch. „Beförderungserschleichungsnötigung“ ist das. Glücklicherweise betrifft meine Beförderungserschleichung nur drei stationen. Hinter der Haltestelle „Schwarzer Bär“ rollen wir über die Benno-Ohnesorg-Brücke. Oberirdisch fährt die linie 9 gerade mal 20 stundenkilometer, aber wenn die bahn die Benno-Ohnesorg-Brücke passiert hat, rast sie die rampe hinunter zum u-bahnhof Waterloo.

Viele Leute sprechen die station englisch aus, denken vermutlich, sie ist nach Abbas eurovisons-hit benannt. Aber Waterloo ist flämisch, ein dorf in der belgischen provinz Brabant, man spricht es wie man liest. Die ortsbezeichnung bedeutet wassersenke. Der hannoversche bahnhof heißt Waterloo wegen der gleichnamigen schlacht. Oberhalb der u-bahnstation Waterloo befindet sich ein ehemaliger Exerzierplatz, heute eine große Rasenfläche, in dessen Mitte sich eine 46,31 Meter hohe Siegessäule erhebt. Unweit steht das standbild des grafen Carl von Alten. Von Alten habe sich in der schlacht bei Waterloo in der King’s German Legion (Königlich Deutsche Legion) hervorgetan, heißt es. Wikipedia weiß: „Durch die Verteidigung des Gutshofes „La Haye Sainte“ hatte von Alten wesentlichen Anteil am Sieg der Alliierten bei Waterloo – und damit auch an der Umsetzung der auf dem Wiener Kongress beschlossenen Erhebung des Kurfürstentums Braunschweig-Lüneburg zum Königreich Hannover.“ Das rechtfertigt allemal, dass die Hannoveraner ihm ein denkmal setzten. Heute wäre zu fragen, ob der graf von Alten den gutshof etwa alleine verteidigt hat? Oder saß er sicher abgeschottet und hat befehle gegeben?

Zur schlacht wird der adelige kriegsherr jedenfalls vierspännig gefahren sein. Die zum kriegsdienst gepressten bauernburschen seines verbands durften hinterher stolpern. Die meisten sind auf dem schlachtfeld gefallen. Graf Carl von Alten stand noch glücklich in seinen stiefeln und hat sich dort malen lassen, (im ausschnitt auf dem flyer seines mauseleums). Von den 20.000 gefallenen Soldaten und Pferden ist auf dem auf dem gemäldeoriginal nichts zu sehen. Der maler war vermutlich gehalten, die störenden fremdkörper einfach wegzulassen. Später hat man die leichen in Massengräbern in den typischen hohlwegen der umgebung verscharrt.

Wikipedia weiß: „Spätere Versuche, ihre Gebeine zu bergen, blieben ergebnislos. Nur zwei Skelette wurden gefunden. Wo die sterblichen Überreste (…) geblieben waren, war lange Zeit unklar. Im Jahr 2022 fanden der belgische Historiker Bernard Wilkin, sein deutscher Kollege Robin Schäfer und der britische Schlachtfeldarchäologe Tony Pollard heraus, dass etwa 20 Jahre nach der Schlacht begonnen worden war, die Gebeine wieder auszugraben, um sie an die boomende Zuckerindustrie Belgiens zu verkaufen (…) , in der die begehrte Knochenkohle als Filtermaterial zum Entfärben des Zuckers benötigt wurde.“
Wer hätte gedacht, dass sich in den berühmten belgischen pralinen noch soldatische DNA aus der zeit Napoleons findet?

Der U-bahnhof Waterloo war einst der hässlichste aller hannöverschen u-bahnhöfe. In den 2000-er jahren wurde er umgestaltet, zeigt nun auf großen bildtafeln collagen mit den wichtigen entwicklungsschritten der stadt. Freund spraakvansmaak erzählte, er habe als student mit einem seminar der historischen fakultät am konzept mitgearbeitet.

Ich muss aussteigen, nutze den aufzug und fahre auf straßenniveau. Gar prächtig scheint die sonne. Hinter mir auf dem waterlooplatz ein containerdorf, in dem die stadt Hannover geflüchtete untergebracht hat. Ich gehe fünf meter hinüber zur 2. aufzuganlage, um auf den bahnsteig stadtauswärts zu fahren. Es gibt hier als zwischentage eine verteilerebene, die wohl nur über treppen erreichbar ist. Auch gibt es einen tunnel, den man mit dem fahrrad durchfahren kann zur anderen Seite der vierspurigen Lavesallee. Dabei wird man gewiss gefilmt, denn die zufahrt ist direkt neben dem niedersächsischen innenministerium.

Fortsetzung

Als tourist auf der linie 13

Ich sollte das nicht schreiben, wirklich nicht. Ich sollte wie angekündigt nichts tun. Nach der physiotherapie heute morgen fragte mich der therapeut: „Und was haben Sie heute noch schönes vor?“ Ich sagte “rekuperieren, nachdem ich gestern zum mausoleum des grafen Von Alten gewandert bin, vielmehr zur ruine.“ Ich liebe das wort rekuperieren. Es lässt sich unschwer lat. recuperare (erholen) darin erkennen. Ich sage es mit stolz ob meiner gestrigen leistung. Andere leute würden nicht von einer wanderung sprechen, würden sagen, sie hätten einen hupfer gemacht, sie hätten sich von der endhaltestelle der linie 13 mal eben fallen lassen und wären schon da gewesen.

Für mich sind vier kilometer, also zwei hin, zwei zurück auf unbekannten wegen durchaus eine wanderung, für die ich mir ein butterbrot schmiere und eine flasche apfelschorle in den rucksack stecke. Ich wurde bescheiden in meinen ansprüchen, traue mich erst langsam wieder vor, nachdem mich eine osteopathin mit heilenden händen erst kürzlich von meinen hartnäckigen rückenschmerzen befreit hat.

Es ist weiß Gott nicht mein lebenstraum gewesen, die kleine stadt Hemmingen im süden Hannovers zu besuchen. Aber nachdem die Überland- und Straßenwerke Hannover (Üstra) die stadtbahnlinie 13 von Fasanenkrug im norden bis Hemmingen ganz im süden Hannovers erweitert haben, war ich neugierig geworden, das neue teilstück der strecke und die endhaltestelle kennenzulernen.

Zuerst war die frage zu klären, was Hemmingen zu bieten hat, (also außer Lidl, Aldi oder Penny), denn einfach ziellos hinzufahren, widerstrebte mir. Wenn ich schon als bloody tourist unterwegs sein würde, dann richtig. Bei Wikipedia weist der unterpunkt „Grünflächen und Naherholung“ aus: „(…) Im Erlenbruchwald liegt auch das Baudenkmal Mausoleum Graf Carl von Alten, das von Georg Ludwig Friedrich Laves und Conrad Wilhelm Hase für Carl von Alten errichtet wurde.“ Das erregte meine neugier.  Laves und Hase sind zwei berühmte Hannoveraner architekten, Hase („Putz ist Lüge“) gilt als der bedeutendste vertreter der neugotischen backsteinarchitektur.

Das 1842 errichtete mausoleum hat zwar die weltkriege unbeschadet überstanden, wurde aber in den 1950-er jahren geplündert und ist nur noch ruine. Beim wort ruine denke ich unwillkürlich an einen schmuckeremiten. Der Hinübersche Garten, ein engländischer landschaftspark im norden Hannovers soll einen gehabt haben, doch bei von Altens mauseleum ist wohl keiner zu erwarten. Ein dort in diensten der stadt in einem erdloch lebender kerl, der sich sieben jahre nicht haare, bart, fuß- und fingernägel schneiden dürfte, damit würden die Hemminger sicher werben.

Fortsetzung

Die ihre hacken in den fluss werfen

Einem bauern im alten Griechenland ist die einzige hacke in den fluss gefallen. Er beklagt lauthals seinen verlust und will nicht aufhören mit seinem jammer. Irgendwann geht er den göttern so auf die nerven, dass sie ihm, um endlich ruhe zu haben, eine goldene hacke zuwerfen. Darob werfen auch andere bauern ihre hacken in den fluss. Das jammern will kein ende nehmen, und die götter schwören einander, niemals mehr zu reagieren, wenn menschen ihre stimmen erheben und ihre hände flehend gen himmel strecken.
Es hat sich wohl noch nicht herumgesprochen, weshalb die katholiken zwischen ostern und himmelfahrt frühmorgens mit bittprozessionen um die felder ziehen.

Ich erinnere mich: Ältere vorbeter leierten litaneien und wir kinder mussten mitlaufen und ebenfalls leiern: „erbarme dich unser“ oder „bitte für uns.“ In meiner kindheit war es üblich, dass jungen nach ostern kurze hosen trugen. Ich erinnere mich, gegen 6 uhr in der morgenkühle gebibbert zu haben. Ein älterer junge trug eine eng sitzende lederhose und schlug sich immer klatschend auf die oberschenkel, um sie aufzuwärmen.

Meine mutter zwang mich, bei den bittprozessionen mitzulaufen, ohne zu erklären, wozu das gut war. Sie folgte einfach der tradition der eltern, großeltern, urgroßeltern, ururgroßeltern bis hinab in finstere vergangenheit, als die bittprozessionen noch heidnische flurbegehungen waren und der kontrolle der flurgrenzen dienten. Bei den ripuarischen franken war das der grund, warum die knaben mitlaufen mussten. Es war rechtsbrauch, zum festlegen einer grenze, einen knaben mitzunehmen. Und war ein grenzstein gut in der erde, verabreichte man dem jungen ein paar schallende backpfeifen oder zog kräftig an seinem ohr. So würde er sich zeitlebens an die stelle erinnern und den grenzverlauf bezeugen können. Das wort „Zeuge“ kommt vom verb „ziehen“, der zeuge wäre demnach, der am ohr gezogen wurde.

Die bäume hinter meinen fenstern boten heute morgen einen wunderbarer kontrast zwischen licht und schatten. Wohin die sonne kam, erstrahlten die bemoosten äste und das frische blattwerk in kräftigem grün. Ich sah aus dem fenster, erinnerte mich an die zeit der bittprozessionen und wärmte mir die oberschenkel am heizkörper. Wie gut, dass wir keine knaben mehr am ohr ziehen müssen, weil wir inzwischen schrift, besitzurkunden und grenzkataster haben. Und das gejammer mit „erbarme dich unser“ können wir uns nach 2000 unerhörten jahren auch sparen. Wir gelten da oben nämlich als die bauern, die ihre hacken absichtlich in den fluss geworfen haben.

Not Schweinsköpfe

Zu besuch bei freunden in köln. Wir wollten essen gehen. Die freunde fanden es schwierig, ein auch für mich geeignetes lokal zu finden. „Veganer sind so eine seltenheit in köln! Kaum ein restaurant hat veganes auf der speisekarte“, hieß es. Am ende wählten wir ein gutbürgerliches lokal in der altstadt. Das einzige vegane gericht auf der karte war die „Not Schlachtplatte.“ Die freunde winkten ab. Aus platzgründen solle ich lieber nur eine halbe nehmen. Das wiederum bescherte mir ein ästhetisches problem. Offenbar war vorgesehen, dass im zentrum der „Not Schlachtplatte“ ein lebensgroßer naturgetreuer „Not Schweinskopf“ trohnte, der eine tomate im maul hatte.

Bei der halben „Not schlachtplatte“ ging der schnitt naturgemäß mitten durch den schweinskopf und legte das innere gekröse frei. „Was hat es damit auf sich“, fragte ich die kellnerin. „Der ist aus marzipan“, sagte sie. „Unsere küche möchte zeigen, dass wir bis ins kleinste detail alles vegan nachbilden können. Beachten sie auch die naturalistische nachbildung der fleischtomate. Sie hat drei kammern, wie der schnitt offenlegt. Die dreikammertomate zeigt einen mercedesstern.“ Nach dieser erklärung wandte sie sich ab, kehrte dann aber um, brachte mir zum steinharten hefeteigboden ohne hefe einen meißel und sagte: „Wollen sie sich das nicht nochmal überlegen mit dem veganismus? Der schweinskopf ist doch so hübsch.“

Auf dem weg zur toilette fiel mein blick in eine separate gaststube. Dort stand Carolin Kebekus vorgebeugt hinter einem tisch und sagte einer abgewandt sitzenden person: „Nach neun monaten schwangerschaft endlich wieder hack!“ Dann zog sie sich mit einem strohhalm eine line gehacktes durch die nase. Jan Böhmermann tänztelte durch den raum, eckte am tisch an und jammerte: „In letzter zeit geraten mir immer wieder die ironiestufen durcheinander! Hashtag: #Ironiestufenverwirrung.“ Der aus funk und fernsehen bekannte comedian Torsten Sträter war auf den gang getreten und rief über seine schulter: „Ich muss ka, äh, mal groß. Das andere hat mir der intendant verboten. Kann ich wenigstens die scheißhaustür auflassen?“
„Ich hab glücklich einen haufen hack, aber es geht natürlich wieder mal um dich und deine fäkalsprache, Wursten Sträter“, höhnte die Kebekus.
Ein TOLLHAUS, um groß zu schreiben, dachte ich.

Sich das leben leicht machen

Als nicht anerkannter kriegsdienstverweigerer musste ich an einem manöver teilnehmen. Unser bataillon war im wald positioniert. Derweil wir uns dort einrichteten, hatte ein oberfeldwebel sich von rekruten eine dusche bauen lassen. Eine gießkanne hing im baum, und wenn er an einer strippe zog, neigte sie sich und versprühte kaltes wasser. Unter gejohle nahm der kerl ein duschbad. Ich staunte über die fähigkeit, sich mit der situation zu arrangieren und das beste daraus zu machen. Dass eine kalte dusche, bei der man im schlammigen waldboden steht und von johlenden deppen umringt ist, das attribut das “beste“ verdient, wird mancher bezweifeln.

Aber der feldwebel genoss es wohl und aus seiner sicht, war es das beste. Die fähigkeit, für sich das beste aus situationen herauszuholen, finde ich beneidenswert, und man kann sich denken, dass ich diese fähigkeit nicht habe, weil ich sonst das wort „beneidenswert“ nicht benutzt hätte. Mich zu arrangieren, beherrsche ich wohl, das beste aus einer situation zu machen aber nicht. Dazu gehört auch, für die dinge des lebens, für die alltäglichen schwierigkeiten, kreative lösungen zu finden. Das internet ist voll von sogenannten lifehacks, und man sollte annehmen, das unser planet inzwischen ein rundum erfreulicher ort ist, wo alles wunschgemäß „fluppt“, wie der Kölsche sagt.

Der einsatz meiner besteckschublade hat vier senkrechte fächer und an der stirnseite ein querfach. Gewohnheitsmäßig habe ich im querfach immer die kaffeelöffel gelagert, weshalb ich die schublade weit aufziehen musste, um daran zu gelangen. Meine putzhilfe hat kürzlich den einsatz gewendet, so dass jetzt die kaffeelöffel bequem erreichbar vorne liegen. Auf die idee, mir den alltag so zu erleichtern, quasi das beste aus der situation zu machen, wäre ich im leben nicht gekommen.

Warum jetzt die welt kein rundum erfreulicher ort ist, wo doch die probaten lösungen in großer zahl verfügbar sind, erklärt vielleicht folgende geschichte: Die letzten drei monate meines 18-monatigen wehrdienstes leistete ich Köln in der stammdiensstelle des heeres ab. Man verwaltete dort alle akten der unteroffiziersdienstgrade des heeres. Zu jener zeit war das scheidungsrecht geändert worden. Das Schuldprinzip bei Ehescheidungen wurde durch das Zerrüttungsprinzip abgelöst. Es mussten nun aus allen scheidungsurteilen, unteroffiziersdienstgrade betreffend, die begründungen mit den schulderwägungen herausgenommen und vernichtet werden. Die rohen soldatischen bürokräfte der stammdiensstelle hatten bald herausgefunden, welche akten interessanten lesestoff hergaben, sagten mir: „Den fall musst du mal lesen! Den auch!“ und so weiter. Ich erinnere mich an einen fall, bei dem ein kompaniechef seinen oberfeldwebel ständig auf manöver geschickt hatte, damit er in ruhe mit dessen frau herummachen konnte. Da habe ich habe mir den gehörnten oberfeldwebel immerzu unter der albernen gießkannendusche vorgestellt.
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Von Menschen und Fröschen

Kürzlich, also gestern von heute aus, staunte ich mal wieder über mich, genauer ich hätte gestaunt, wenn mir nicht zu kalt gewesen wäre. Ich saß nämlich schon ein weilchen in meinem lieblingssessel und fror. Eigentlich hätte ich nur aufstehen, drei meter gehen und nach einer decke greifen müssen. Aber ich konnte mich nicht dazu überreden. Etwas in mir dachte wohl, die heizung wird gleich anspringen und dich in wohlige wärme hüllen. Oder ein UFO in form eines riesenföns würde nahebei landen und mich warmpusten. Ich harrte also aus in der kälte, tat nichts, dachte mir höchstens quatsch zusammen oder wie man landläufig sagt, ich machte mir warme gedanken.

Dabei verheizte ich das restliche bisschen energie in mir, denn das gehirn ist bekanntlich der größte energieverbraucher. Während also die feuerluke meines gehirns weit offen stand und den holzstapel von hinterm haus verschlang, ohne dass mir eine alternative zum deckenholen eingefallen wäre, musste ich an den sonst glücklich vergessenen FDP-außenminister Philipp Rösler denken.

Der hatte in seiner antrittsrede als neuer FDP-parteivorsitzender genüsslich berichtet: „Wirft man einen Frosch in heißes Wasser, so hüpft er sofort wieder heraus. Setzt man ihn dagegen in kaltes Wasser und erhöht langsam die Temperatur, dann wird er nichts merken und nichts machen. Und wenn er es merkt, dann ist es zu spät für den Frosch.“ Dass in der sozialisation eines menschen etwas gewaltig schief laufen muss, damit er der FDP beitritt, kann man sich lebhaft vorstellen. Aber gehörte dazu auch ein brutales experiment mit fröschen? Oder war es die besondere perversion beim kleinen Philipp gewesen, die ihn letztlich an die parteispitze spülte?

Es ist an der zeit zu fragen, was in meiner sozialisation schief gelaufen ist, dass ich mir keine decke holen kann. Frösche bei lebendigem leib zu kochen, wäre mir nie in den sinn gekommen. Darum war die FDP für mich keine option. Aber einen unangenehmen zustand zu erdulden, auszuhalten wie ein langsam erhitzter frosch, gehörte zum denken meiner kindheit. Meine mutter lebte mir vor, was in der kriegsgeneration überlebensstrategie gewesen war. Die härten eines krieges, hunger, bombenterror, gewalt, brutalität, tod und zerstörung zu ertragen, fordert den klaglos leidenden untertanengeist. Und als die naziherrschaft überwunden war, lief das erdulden einfach weiter, wie ein abgesprungener, leer laufender antriebsriemen. Man beschwerte sich nicht, veränderte nichts, sondern arrangierte sich mit einschränkungen.

Ein Beispiel: In meiner lehrzeit war ich täglich 12 stunden unterwegs, fuhr morgens um 6:35 uhr mit dem bus nach Neuß, traf dort um 7:30 uhr ein, saß im warteraum des busbahnhofs eine halbe stunde ab, bevor ich um 8 Uhr die arbeit begann. Wenn ich nur 15 Minuten dieser fruchtlosen halben stunde hätte eher anfangen können zu arbeiten, wäre ich abends eine ganze stunde eher zu hause gewesen. Doch niemand wäre auf die idee gekommen, die arbeitszeiten an meine busverbindungen anzupassen, ich konnte derlei nicht mal denken. Als kürzlich viral ging, wie die junge frau im internet ihre optionen auf 30 tage urlaub und frisches obst am arbeitsplatz so bitterlich beklagte, musste ich weinen.


Allemal besser als erdulden?

Allzeit den teller leer essen

Seit meiner kindheit bin ich gewöhnt, meinen teller leer zu essen. Immerzu wurde ich ermahnt. Es hieß. „Wenn du den teller nicht leer isst, gibt’s morgen schlechtes wetter.“ Ursprünglich solls ein versprechen gewesen sein: „Wenn du schön den teller leer isst, gibt’s morgen gutes wetter.“ Und noch ursprünglicher war gar nicht das wetter gemeint. Die plattdeutsche aufforderung: „Et dien töller leddig, dann givt dat morgen goods wedder“ bedeutet nicht „gutes wetter“, sondern „gutes wieder“ Wer also hübsch sein tellerchen leerputzte, hatte das versprechen, dass es am nächsten tag wieder gutes gab. Der volksmund machte aus dem versprechen auf gutes essen unverstanden eine schlechtwetterdrohung.

Mahnung, drohung oder versprechen, alle scheinen aus einer zeit zu stammen, als gutes, reichhaltiges essen nicht selbstverständlich war. Ein kollege erzählte aus seiner ostpreußischen heimat, auf dem landgut (alle ostpreußen hatten zu hause ein landgut), auf diesem „landgut“ habe ein geistig behinderter mann als kleinknecht gearbeitet. Der hatte anspruch auf mittags eine mahlzeit, eine „schettel“ (schüssel) voll. Einmal sei man bei der feldarbeit gewesen und hatte für den knecht die schüssel vergessen. Stattdessen gab man ihm reichlich in einen eimer. Da murrte der kleinknecht, weil der eimer nicht voll war, denn er hatte anspruch auf eine VOLLE schüssel. So würde es mir auch gehen.

Angenommen in einer nächtlichen sekunde geschieht etwas absonderliches: Die gesamte welt schrumpft auf das spurformat H0, 1:87. Dann könnte man natürlich trotzdem nicht in einen Märklin-waggon einsteigen und in der modellbauwelt verreisen, denn auch die modelleisenbahn bliebe ja maßstabsgetreu. Uff, die welt ist also eines morgens nur noch H0 groß, und wir merken nichts davon, – weil wir, genau, kein referenzsystem haben. Es sei denn, der kosmische weltverkleinerer würde mein geschirr vergessen. Ich wäre auf H0 verkleinert, aber meine teller nicht. Dann müsste ich viel mehr essen, als gut für mich wäre. Denn seit meiner kindheit bin ich gewöhnt, meinen teller leer zu essen.

Grietjes großmutter und der Peter in mir

Ich war ich mit Grietje unterwegs gewesen und brachte sie nach hause. Zum ersten mal ließ sie zu, dass wir uns dem haus näherten, das sie mit mutter und großmutter bewohnte. Auf einem platz vor dem haus waren einige menschen versammelt. Darunter befand sich Grietjes großmutter. Es war nun eine begegnung nicht mehr zu vermeiden. Die großmutter musterte mich neugierig, als Grietje mich vorstellte. Wenig später gesellte sich die mutter zu uns und gab mir beiläufig die hand. In meiner jugend hatte ein erfahrener junger mann namens Peter uns einige ratschläge fürs leben erteilt. Peter war schon verheiratet gewesen und galt allen als verlässliche quelle.

Weil seine ehe bereits gescheitert war, beurteilte Peter das geschlechterverhältnis und die beziehungproblematik recht nüchtern. Heute würde man sagen, er war desillusioniert. Deshalb kam uns glaubwürdig vor, was er sagte. Einer seiner ratschläge war gewesen: „Wenn dir ein mädchen gefällt, musst du ihre mutter genau betrachten. Deine freundin wird einmal werden wie sie.“

Sah ich mir nun Grietje, die mutter und deren mutter an, so waren die drei ein gesicht. Und in der reihe der frauen war die großmutter eindeutig die attraktivste. Natürlich hatte Grietje die jugendlichkeit auf ihrer seite, wirkte frisch wie der junge morgen. Auch war ihr gesicht das zierlichste von allen. Von mutter zu großmutter war eine gewisse vergröberung der gesichtszüge zu verzeichnen. Doch bei ihrer großmutter hatte sich der keim der zierlichkeit zu einer kraftvollen harmonie verfestigt. Das gesicht ihrer mutter war in der übergangsphase und hatte diesen punkt der entwicklung noch nicht erreicht. Da stand ich nun. Hätte sie gewollt und wäre es gegenüber Grietje schicklich gewesen, wäre ich mit fliegenden fahnen zur großmutter übergelaufen. Ich ahnte nun, dass Grietje nicht mich vor ihren müttern versteckt gehalten hatte, sondern ihre mutter und großmutter vor mir.

Der Peter in mir sagte: „Was willst du? In 30 jahren werden sich deine six-packs unter einer fettschicht versteckt haben und drüber trohnt ein bäuchlein. Aber Grietje wird schön sein wie ihre großmutter. Eine wunderbare option auf die zukunft. Besser geht’s nicht.
„Ja, ja, wunderbare option auf die zukunft, aber nur was Grietje betrifft.“

Der frühling kommt auf leisen sohlen

Rot ist die einzige farbe, die die rote rose nicht hat. Ja, denn ihre blütenblätter nehmen alle farben des spektrums auf. Nur rot will die rose nicht haben. Daher strahlt sie es ab. So geht es mit allen farben, die wir unter der sonne sehen, stets sind sie der sache nicht zueigen. Beim menschen ist es zum glück anders. Seine ausstrahlung kommt von innen, ist also ein ausdruck seiner selbst. Allerdings ist nicht zu bestreiten, dass manche menschen etwas ausstrahlen, was sie nicht haben. Sie schauspielern, ahmen nach, was sie sich bei anderen abgeguckt haben. Es kann durchaus fruchtbar sein, sich bei anderen etwas abzugucken, besonders wenn man kenntnisse erwerben und fähigkeiten entwickeln, also wachsen will, womit wir endlich beim thema sind. Es geht um grün. Derzeit krabbelt die temperatur immer wieder über die magische zehn-grad-marke. Weil sie drei tage hintereinander über zehn grad celsius geblieben ist, wächst die natur. Grünen ist wachsen, niederländisch: „groeien“, schwedisch „gro“, englisch „to grow“. Alle diese wörter sind verwandt mit dem althochdeutschen Adjektiv „gruoen“, woraus unser adjektiv „grün“ entstand. „Grün“ ist wiederum eng mit „gras“ verwandt. Eigentlich bezeichnet unser farbadjektiv „grün“ demnach wachsendes gras.

Der frühling kommt auf leisen sohlen. Zehn grad, dann sprießen in den vorgärten die frühlingsblumen. Dass unsere vorfahren jedoch nicht die blumen, sondern das sprießende gras in ein wort für wachsen gefasst haben, ist ein hinweis auf ihre lebensweise. Sie waren ackerbauern und viehzüchter. Deshalb achteten sie in erster linie darauf, wenn nach dem harten winter das gras wieder wuchs und das vieh auf die weiden konnte. Demgemäß staunt der germane in der Edda, dass es nichts gab, bevor die welt entstand, nicht einmal gras.

    Urzeit war es, da Ymir hauste:
    nicht war Sand noch See noch Salzwogen,
    nicht Erde unten, noch oben Himmel,
    Gähnung grundlos, doch Gras nirgend.

    (Lieder-Edda, Völuspá 3)

Das gras grünt. Der satz ist pleonastisch, denn gras und grün bedeuten ja eigentlich das gleiche. Leider ist in der stadt vom grünen nicht viel zu sehen. „Da jedermann gehet, waechst kein Grasz“, wusste man schon 1622. Der germanische Schutzgott heimdall konnte das gras wachsen hören. Dazu ist der mensch nur im übertragenen sinne fähig, und wenn er es noch so hübsch besingt wie The Move in „I Can Hear the Grass Grow“ (1967). Unsere welt ist vermutlich viel zu laut. Egal jetzt. Über den winter kann meinetwegen gras wachsen.

Schönes wochenende!