Maries Spiegel

Mit 14 Jahren hatte Marie in ihr Tagebuch geschrieben:

    „Meine Hobbys, Lesen, Mode und Schminken.“

Das galt noch, als Marie nach dem Abitur ihr Heimatdorf im Westerwald verließ, um in Aachen Maschinenbau zu studieren. Diese Fachrichtung stand in so krassem Gegensatz zu ihrer feingliedrigen Gestalt, dass alle, die davon hörten, ungläubig nachfragten: „Wieso denn Maschinenbau?“ Wenn überhaupt eine Frau sich in dieses Fach verirrte, hätte man eine stämmige Bauerntochter erwartet, die zu Hause die schweren Landmaschinen in Ordnung hielt, keine wie Marie, die dem nächstbesten Modemagazin entsprungen schien. Doch die zielbewusste junge Frau wollte in das mittelständische Unternehmen ihrer Eltern eintreten, das sich auf Präzisionsmaschinen spezialisiert hatte. Die Sache war dringend. Ihr Vater, dem der sehnlichst gewünschte Sohn versagt geblieben war, hatte kürzlich einen Herzinfarkt erlitten und brauchte Unterstützung.

Marie hatte eine bezahlbare Ein-Zimmer-Wohnung in einer alten Stadtvilla nahe der Universität gefunden, deren größter Nachteil war, dass eine Güterbahnlinie vorbeiführte. Aus ihrem Erkerfenster schaute sie auf einen aus groben Bruchsteinen gemauerten Bahndamm und hatte die Güterzüge, gezogen von schweren belgischen Dieselloks, unmittelbar vor Augen. Doch Marie gewöhnte sich bald an den sporadischen Lärm und die Erschütterungen des Hauses, wäre da nicht ein zweiter Nachteil gewesen, ihr Türnachbar, ein finsterer aufgedunsener Säufer. Marie gruselte sich vor ihm, weil er ihren Gruß bei zufälligen Begegnungen im Treppenhaus nicht erwiderte, sondern sie stumm anstarrte, als würde er sie mit seinen Blicken ausziehen.

Doch die Vorteile der Wohnung überwogen. Sie war lichtdurchflutet, hatte hohe Decken mit prächtigem Putz und als Schmuckstück einen großen gerahmten Kristallspiegel an der Wand. Marie hatte ihren Schminktisch vor ihm aufgestellt, und wenn sie weiter zurücktrat, konnte sie sich in ganzer Schönheit im Spiegel bewundern. Oft posierte sie in wechselnder Garderobe vor ihm, und kam sie aus der Dusche, ließ sie ihren Bademantel zu Boden sinken, drehte, reckte und streckte sich und fand sich schön genug für eine Karriere als Topmodell. Dann wieder schalt sie sich eine narzisstische Träumerin, mahnte sich zur Ernsthaftigkeit, die sie ihren Eltern schuldete, und widmete sich den Fachbüchern, den Mitschriften aus Vorlesungen und den Klausurvorbereitungen. Leider nahmen die Klausuren im Multiple-Choice-Verfahren zu.
„Man kann überhaupt keine eigenen Gedanken formulieren“, klagte sie einmal vor Kommilitonen. Das war schlimm für eine Frau mit eigenem Kopf.

Auf diesem Kopf hatte sie sich einen nachlässigen Bloggerdutt gedreht, nachdem sie aus der Dusche gekommen war, saß halbnackt vor ihrem geliebten Spiegel, als im Treppenhaus Stimmengewirr ertönte. Sie zog den Bademantel über und schlich zur Wohnungstür, um durch den Türspion zu sehen, was los war. Ihr Türnachbar stritt mit jemandem. Marie erkannte den Schornsteinfeger, der kürzlich bei ihr gewesen war, die Gastherme überprüft und in der Decke die alten Gasleitungen für die einstigen Gaslampen höchst bedenklich gefunden hatte.
„Die sind ein Sicherheitsrisiko, aber niemand wagt sich daran, sie zu entfernen“, hatte er gesagt. Ihr Nachbar, fett und abstoßend im Unterhemd und am frühen Morgen schon betrunken, weigerte sich offenbar, den Schornsteinfeger in die Wohnung zu lassen. Der hatte zwei Polizisten dazugeholt. Der Nachbar wurde handgreiflich. Marie erschrak vor dem Tumult und war froh, als die Polizisten den Mann endlich gebändigt hatten und abführten. Sie hörte noch das Poltern der Schritte auf der Treppe, die Proteste des Säufers, und plötzlich war es ruhig. Marie hatte nicht sehen können, wo der Schornsteinfeger abgeblieben war. Sie öffnete die Wohnungstür und schaute hinaus. Die Tür zur Nachbarwohnung stand offen. Neugierig trat Marie vor, lugte hinein und zuckte zusammen. Im Zimmer des Säufers stand der Schornsteinfeger und starrte fassungslos auf ein Fenster in der Wand, die an ihre Wohnung grenzte. Marie durchfuhr es siedend heiß. In der plötzlichen Erkenntnis stieß sie einen Laut des Schreckens aus. Von Grauen gepackt sah sie durch das falsche Fenster – in ihr eigenes Zimmer.

11 Kommentare zu “Maries Spiegel

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