Ein Hund lief in die Küche

Das Schmuckstück im Schlafzimmer meiner Eltern war eine Frisierkommode mit einem dreiflügeligen Spiegelaufsatz, mittig ein großes und an jeder Seite ein schmales Spiegelelement, das sich einklappen ließ. Ich sah meine Mutter selten vor diesem Spiegel. Sie war keine eitle Frau. Nach dem Tod ihres Mannes, meines Vaters, bestand für sie kaum noch Notwenigkeit, sich zurecht zu machen. Um so öfter sah ich in den Spiegel, und zwar in einen der Seitenflügel. Es war möglich, sie so zu stellen, dass sie sich gegenseitig spiegelten. Das gab den faszinierenden Spiegeleffekt, der immer kleiner werdenden Spiegel bis in eine unwägbare Unendlichkeit. Streckte ich meine Nase in diese phantastische Spiegelwelt, wurde auch ich in der immer kleiner werdenden Verdopplung und Verdopplung ein Teil von ihr. Dass es in der scheinbar so fest gefügte Realität einen derartigen Ort gab wie die sich selbst wiederholende Spiegelwelt, machte mich froh. Viel später lernte ich, dass es ein Wort dafür gibt: Iteration. Das Volkslied „Ein Hund lief in die Küche…“ ist quasi die sprachliche Entsprechung zur Spiegelwelt. Schade, dass der Köter immer wieder sein Leben lassen muss:

Ein Hund lief in die Küche
Und stahl dem Koch ein Ei.
Da nahm der Koch den Löffel
Und schlug den Hund entzwei..

Da kamen alle Hunde
Und gruben ihm ein Grab
Und setzten ihm ein’ Grabstein
Worauf geschrieben stand:

Ein Hund lief in die Küche
Und stahl dem Koch ein Ei.
[…]

Bei jeder Wiederholung, werden Hund. Küche, Koch, das Ei, der Löffel und der Grabstein kleiner, theoretisch unendlich oft. Trotzdem bleibt der Vorgang verständlich. Das unterscheidet das Lied vom sich immer wieder spiegelnden Spiegel.